Urteil des BSG vom 18.02.2004

BSG: eugh, wiedereinsetzung in den vorigen stand, unmittelbare anwendbarkeit, beschränkung, treu und glauben, erlass, höhere gewalt, offenes verfahren, gesetzliche frist, diskriminierungsverbot

Bundessozialgericht
Urteil vom 18.02.2004
Sozialgericht München S 29 EG 183/02
Bayerisches Landessozialgericht L 9 EG 43/02
Bundessozialgericht B 10 EG 7/03 R
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Juni 2003 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu
erstatten.
Gründe:
I
Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von bayerischem Landeserziehungsgeld (LErzg) für den Zeitraum vom 4. Juli
1995 bis 3. Januar 1996.
Die verheiratete Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie lebte im streitigen Zeitraum gemeinsam mit ihrem
Ehemann und ihrer am 4. Juli 1993 geborenen Tochter Sila in Bayern, wo sie dieses Kind auch betreute und erzog.
Daneben übte sie keine Erwerbstätigkeit aus. Sie war bei der AOK Bayern familienversichert und bezog für den 1. bis
24. Lebensmonat ihrer Tochter Bundeserziehungsgeld (BErzg).
Am 6. Februar 2002 beantragte die Klägerin beim Beklagten LErzg für den 25. bis 30. Lebensmonat ihrer Tochter.
Dieser Antrag, die anschließende Klage und die Berufung blieben ohne Erfolg (Bescheid des Beklagten vom 22. Mai
2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2002; Gerichtsbescheid des Sozialgericht München (SG)
vom 1. Oktober 2002; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 30. Juni 2003). Zur Begründung seiner
Entscheidung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt:
Auch wenn nach dem Wortlaut des Art 1 Abs 1 Satz 1 Nr 5 Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz (BayLErzGG)
nur Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften (EG) Anspruch auf LErzg hätten, stehe
die türkische Staatsangehörigkeit dem Anspruch der Klägerin nicht grundsätzlich entgegen. Nach der Entscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 4. Mai 1999 (C-262/96, Slg 1999, I-2743 RdNr 64 =
SozR 3-6935 Allg Nr 4, "Sürül") entfalte das Diskriminierungsverbot des Art 3 Abs 1 Beschluss Nr 3/80 des
Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der
Mitgliedstaaten der EG auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ARB) (ABl EG C 1983,
110/60 ff) unmittelbare Wirkung. Danach hätten türkische Staatsangehörige grundsätzlich unter den gleichen
Voraussetzungen wie insbesondere Deutsche Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit. Die unmittelbare
Wirkung des Art 3 Abs 1 ARB könne indessen nicht zur Begründung von Leistungen für Zeiten vor Erlass des EuGH-
Urteils geltend gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder
einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt hätten. Letzteres sei bei der Klägerin nicht der Fall. Auch sei sie nicht so
zu behandeln, als habe sie rechtzeitig einen wirksamen Antrag gestellt. Insbesondere seien Anhaltspunkte für eine
entgegen einem klar geäußerten Willen der Antragstellerin vorliegende Nichtannahme oder Nichtverbescheidung von
Leistungsanträgen weder schlüssig vorgetragen, noch sonst ersichtlich.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des Art 3 Abs 1 ARB und des Art 3 Abs 1 Grundgesetz. Dazu
trägt sie insbesondere vor: Das allgemein gültige Diskriminierungsverbot für türkische Staatsangehörige gelte seit der
Fassung der ARB vom 19. September 1980. Die vom EuGH und - ihm folgend - vom LSG vorgenommene zeitliche
Differenzierung, wonach Ansprüche vor Erlass des Sürül-Urteils grundsätzlich ausgeschlossen seien, sei in keiner
Rechtsvorschrift des Europäischen Gemeinschaftsrechts vorgesehen und auch willkürlich. Für die Annahme des
allgemeinen Diskriminierungsverbots habe es auch des Sürül-Urteils nicht bedurft; der EuGH habe Art 3 Abs 1 ARB
nicht inhaltlich auslegen müssen. Die von ihm für die zeitliche Beschränkung angeführte Gefahr einer finanziellen
Erschütterung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht und
sei auch mit dem Ziel der Assoziation der Türkei nicht vereinbar. Dass sie, die Klägerin, nicht die Voraussetzungen
für die Rückausnahme erfülle, dürfe ohne Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht zu ihren Lasten
gehen. Angesichts der damaligen Rechtspraxis habe sie keinen Anlass gehabt, einen Antrag auf LErzg zu stellen und
diesen ggf im Rechtszuge zu verfolgen. Das LSG sei nicht darauf eingegangen, dass sie einen Antrag habe stellen
wollen und der Beklagte sie auf Grund der eindeutigen Gesetzeslage davon abgehalten habe; über ihren
entsprechenden Sachvortrag hätte das LSG Beweis erheben müssen. Sie hätte auf jeden Fall einen Antrag gestellt,
was sich aus dem Umstand erschließe, dass sie für die ersten beiden Lebensjahre ihres Kindes BErzg bezogen habe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG vom 30. Juni 2003 und den Gerichtsbescheid des SG vom 1.
Oktober 2002 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
10. Juli 2002 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr für das am 4. Juli 1993 geborene Kind Sila LErzg zu
gewähren.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig. Zwar kann die Revision gemäß § 162 SGG nur darauf gestützt werden, dass
das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des
Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts
hinaus erstreckt. Die Rüge, das LSG habe Vorschriften des BayLErzGG verletzt, wäre mithin unzulässig; dieses
Gesetz gilt nicht über den Bezirk des LSG hinaus. Die Klägerin rügt jedoch in erster Linie eine Verletzung des
europäisch-türkischen Assoziationsrechts. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (Senatsurteil vom 29.
Januar 2002 - B 10 EG 2/01 R -, BSGE 89, 129, 130 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2), sind derartige Vorschriften als
unmittelbar im Bundesgebiet geltendes Recht revisibel.
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin für den im Streit stehenden
Zeitraum vom 4. Juli 1995 bis 3. Januar 1996 keinen Anspruch auf Gewährung von LErzg hat.
Anspruch auf LErzg hat nach Art 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 bis 5 BayLErzGG in der hier einschlägigen Fassung vom 12.
Juni 1989 (BayGVBl S 206), wer seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit der Geburt des
Kindes, mindestens jedoch fünfzehn Monate, in Bayern hat (Nr 1), mit einem nach dem 30. Juni 1989 geborenen
Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt (Nr 2), dieses Kind selbst betreut und erzieht (Nr
3), keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt (Nr 4) und die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EG
besitzt (Nr 5). Das Vorliegen der Voraussetzungen der Nr 1 bis 4 ist vom LSG bejaht worden. Eine Nachprüfung dieser
Subsumtion erfolgt im Revisionsverfahren nicht, da die Vorschrift nicht revisibel ist.
Die türkische Staatsangehörigkeit der Klägerin steht dem streitigen Anspruch trotz der Bestimmung des Art 1 Abs 1
Satz 1 Nr 5 BayLErzGG nicht entgegen. Der generelle Ausschluss in Bayern wohnender türkischer Staatsangehöriger
vom LErzg verstößt gegen das Diskriminierungsverbot des europäischen Assoziationsrechts (BSGE 89, 129 = SozR
3-6940 Art 3 Nr 2). Nach der Entscheidung des EuGH vom 5. Mai 1999 - C-262/96 - in der Rechtssache Sürül (Slg
1999, I-2743 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 49 f) haben nämlich türkische Staatsangehörige, die im Gebiet eines
Mitgliedstaates wohnen und für die der ARB gilt, auf Grund des Art 3 Abs 1 ARB im Wohnsitzstaat Anspruch auf
Leistungen der sozialen Sicherheit nach den Rechtsvorschriften dieses Staates unter den gleichen Voraussetzungen
wie dessen eigene Staatsangehörige. Zwar betraf dieses Urteil ein Verfahren über die Gewährung von
bundesdeutschem Kindergeld, es gilt jedoch nach seinem Ausspruch für alle Leistungen der sozialen Sicherheit, auf
die sich der ARB bezieht.
Während diese Rechtsprechung des EuGH (vgl dazu auch das Urteil vom 14. März 2000 - C-102/98 und C-211/98, Slg
2000, I-1311 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 1) in dem Verfahren, das der erkennende Senat durch Urteil vom 29. Januar
2002 (BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2) zum Abschluss gebracht hat, vom Beklagten angegriffen worden ist,
gibt der vorliegende Fall Veranlassung, die Bedeutung und Auswirkung von Aussagen des EuGH zu klären, die für die
betroffenen türkischen Staatsangehörigen ungünstig sind. Der erkennende Senat hat auch unter diesem
Gesichtspunkt keine Bedenken, die Sürül-Entscheidung des EuGH im vorliegenden Rechtsstreit zu Grunde zu legen
(vgl bereits BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2). Sie ist auf Vorlage des SG Aachen nach Art 234 Vertrag über
die Gründung der EG (EGVtr) ergangen. In einem solchen Vorabentscheidungsverfahren beantwortet der EuGH
Rechtsfragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts abstrakt und ohne Prüfung der Umstände, die die nationalen
Gerichte zur Vorlage veranlasst haben (EuGH Slg 1996, I-6257 f, 6271 RdNr 15). Es handelt sich um ein objektives
Zwischenverfahren, das vorrangig dem Interesse an der Auslegung, Durchsetzung und Gültigkeitsprüfung des
Gemeinschaftsrechts dient (BVerfGE 73, 339, 369).
Vorabentscheidungen des EuGH entfalten ihre Bindungswirkung auch außerhalb des Ausgangsverfahrens (BVerfG
NJW 1988, 2173). Dieses folgt aus der abschließenden Entscheidungsbefugnis des EuGH in den Fällen des Art 234
EGVtr (sog Rechtsprechungsmonopol) ebenso wie aus der Natur der Rechtssätze, die der EuGH bei der Auslegung
von Gemeinschaftsrecht aufstellt. Sie genießen als Teile des Gemeinschaftsrechts (vgl BVerfGE 52, 187, 203)
Vorrang gegenüber nationalem Recht (vgl EuGH Slg 1964, 1251, 1269 ff; BVerfG NJW 2000, 2015). Darauf beruht
auch die Rechtsprechung des EuGH, wonach ein zur Vorlage verpflichtetes nationales Gericht ua dann von seiner
Vorlagepflicht entbunden ist, wenn die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer
Auslegung durch den Gerichtshof war (EuGH Slg 1982, 3415 ff). Will das nationale Gericht andererseits einer
Vorabentscheidung nicht folgen, so ist es zu einer neuerlichen Vorlage an den EuGH verpflichtet (vgl insbesondere
BVerfGE 52, 187, 200 f; 73, 339, 366 ff; 75, 223, 233 f). Dazu besteht hier keine Veranlassung.
Insbesondere zieht der Senat nicht die Kompetenz des EuGH in Zweifel, über die Auslegung von Vorschriften des
ARB zu befinden. Das Regelwerk des europäisch-türkischen Assoziationsrechts überschreitet nicht die im EGVtr
begründeten Befugnisse (vgl BSGE 89, 129, 131 f = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2). Sowohl die Abkommen des Rates (vgl
Art 300 und 310 EGVtr) als auch die in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen stehenden Beschlüsse der
jeweiligen Assoziationsorgane stellen Handlungen von Gemeinschaftsorganen iS des Art 234 Abs 1 Buchst b EGVtr
dar; die jeweiligen Bestimmungen sind Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung (vgl EuGH Slg 1987, 3719, 3747
RdNr 6 ff).
Der vorliegende Fall wird vom ARB erfasst. Das bayerische LErzg ist eine Familienleistung iS des Art 4 Abs 1 Buchst
h ARB (vgl BSGE 89, 129,133 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2 S 17). Nach seinem Art 2 findet der ARB auch Anwendung
auf die Klägerin, da diese gesetzlich krankenversichert war. Insoweit genügt für die Begründung der
Arbeitnehmereigenschaft, dass der Betreffende mindestens gegen ein Risiko in einem allgemeinen oder besonderen
System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, ohne dass es darauf ankommt, ob er in
einem Arbeitsverhältnis steht (EuGH SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 47).
Der Klägerin steht das beanspruchte LErzg nicht zu, weil sie sich insoweit nicht auf das Diskriminierungsverbot nach
Art 3 Abs 1 ARB berufen kann. Nach der Sürül-Entscheidung des EuGH kann die unmittelbare Wirkung des Art 3 Abs
1 ARB nämlich nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlass dieses Urteils am 4. Mai
1999 geltend gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen
gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben. Da ihr Ausschluss von der Leistung sachlich gerechtfertigt ist, wird die
Klägerin auch nicht verfassungswidrig ungleich behandelt.
Nach Wortlaut, Sinn und Zweck bezieht sich diese zeitliche Beschränkung nicht nur auf Verfahren über Kindergeld,
sondern auf alle Verfahren, in denen es - wie hier - um die Geltendmachung von Sozialleistungsansprüchen geht, die
auf eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art 3 Abs 1 ARB gestützt werden (vgl zum baden-württembergischen
Landeserziehungsgeld VGH Baden-Württemberg ESVGH 53, 70). Ebenso wie die Hauptaussage des EuGH zur
unmittelbaren Anwendbarkeit des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots ist auch die von ihm verfügte
zeitliche Beschränkung für den erkennenden Senat verbindlich. An der Rechtmäßigkeit dieser (Neben-)Entscheidung
bestehen keine Zweifel.
Zwar ist der EuGH nicht ausdrücklich ermächtigt, die Wirkung von Vorabentscheidungsurteilen zeitlich zu begrenzen;
die ihm nach Art 234 EGVtr übertragene abschließende Entscheidungszuständigkeit umfasst jedoch auch die
Befugnis zur Rechtsfortbildung, jedenfalls soweit sich das Ergebnis im Gefüge der vertraglich begründeten
Handlungsformen der Gemeinschaftsgewalt hält (BVerfGE 75, 223, 241 ff). Diesen Rahmen hat der EuGH mit dem
Ausspruch einer zeitlichen Beschränkung nicht verlassen. Grundsätzlich wird durch eine Vorabentscheidung über die
Auslegung von Gemeinschaftsrecht zwar geklärt, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite die betreffende
Vorschrift seit ihrem In-Kraft-Treten zu verstehen und (auch auf abgeschlossene Rechtsverhältnisse) anzuwenden ist
(stRspr des EuGH; vgl zB Slg 1980, 1205 RdNr 16 und Slg 1988, 398 RdNr 27). Dies schließt jedoch eine zeitliche
Beschränkung aus Gründen der Rechtssicherheit in Ausnahmefällen nicht aus (vgl zB EuGH Slg 1976, 455 f und Slg
1988, 398 RdNr 28). Art 231 Abs 2 EGVtr sieht die Möglichkeit einer solchen Beschränkung im Falle der
Nichtigerklärung einer Verordnung ausdrücklich vor. Die dort zu Grunde liegenden Gedanken der Rechtssicherheit,
des Vertrauensschutzes sowie des Schutzes sonstiger überragender öffentlicher Interessen (vgl Ehricke in Streinz,
EUV/EGV, 2003, Art 231 EGV RdNr 6) können auch im Vorabentscheidungsverfahren eine Rolle spielen und
vermögen den Ausspruch einer zeitlichen Begrenzung bei Vorliegen klar definierter Voraussetzungen, die den
widerstreitenden Interessen der Betroffenen angemessen Rechnung tragen, zu rechtfertigen. Auch im deutschen
Recht gibt es mit § 79 Abs 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) eine Regelung, die im Interesse der
Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens die materielle Einzelfallgerechtigkeit gegenüber der Rechtskraft von
Entscheidungen zurücktreten lässt.
Voraussetzung für eine derartige zeitliche Beschränkung ist es, dass Unklarheiten des anzuwendenden Rechts oder
das Verhalten der Gemeinschaftsorgane einen Zustand der (Rechts-)Unsicherheit geschaffen haben, der es nicht
angemessen erscheinen lässt, in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse rückwirkend in Frage zu stellen
(Vorliegen eines Vertrauenstatbestandes). Darüber hinaus muss die Gefahr unerwarteter und erheblicher finanzieller
Auswirkungen bestehen (vgl insg Ehricke in Streinz, EUV/EGV, 2003, Art 234 EGV RdNr 69 ff; Lenz/Borchardt, EU-
und EG-Vertrag, Komm, 3. Aufl 2003, Art 234 RdNr 61 f; Weiß, Die Einschränkung der zeitlichen Wirkungen von
Vorabentscheidungen nach Art 177 EGV, EuR 1995, 377 ff). Es ist nicht ersichtlich, dass der EuGH in der
Rechtssache Sürül diese Voraussetzungen zu Unrecht bejaht hat.
Zunächst hat der EuGH nachvollziehbar dargelegt, dass sich aus seinem Urteil vom 10. September 1996 - C-277/94 -
(Slg 1996, I-4085 = SozR 3-6935 Allg Nr 2, "Taflan-Met") Ungewissheit über eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art
3 Abs 1 ARB ergeben konnte. Unter diesen Umständen durften die Mitgliedstaaten davon ausgehen, sie könnten die
Anpassung ihres innerstaatlichen Rechts bis zum Erlass entsprechender Umsetzungsakte zurückstellen. Daraus hat
der EuGH den Schluss gezogen, dass abschließend geregelte Rechtsverhältnisse durch sein Urteil vom 4. Mai 1999
nicht wieder in Frage gestellt werden sollten. Überdies ist hier zu berücksichtigen, dass die Frage, ob Erzg eine
Familienleistung iS des Europarechts ist, - nach zunächst verneinenden Entscheidungen des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 18. Dezember 1992 (BVerwGE 91, 327) und des Bundessozialgerichts
(BSG) vom 3. November 1993 (SozR 3-6935 Allg Nr 1) - erst durch das Urteil des EuGH vom 10. Oktober 1996 (C-
245/94, C-312/94; Slg 1996, I-4895 = SozR 3-6050 Art 4 Nr 8) geklärt wurde. Bei der Einschätzung der finanziellen
Auswirkungen musste der EuGH schon aus Gründen der Gleichbehandlung alle Sozialleistungen in Betracht ziehen,
die europaweit vom ARB erfasst werden.
Die vom EuGH angeordnete zeitliche Beschränkung hindert die Klägerin, einen Anspruch auf LErzg für Zeiten (vom 4.
Juli 1995 bis 3. Januar 1996) vor dem Erlass des Urteils vom 4. Mai 1999 geltend zu machen. Die vom EuGH
vorgesehene Ausnahme für Betroffene, die "vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen
Rechtsbehelf eingelegt haben", kommt ihr nicht zugute.
Nach der Begründung in der Sürül-Entscheidung (SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 52) soll diese Ausnahmeregelung
verhindern, dass der Schutz der Rechte, die die Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht (hier Art 3 Abs 1 ARB)
herleiten, durch die verfügte zeitliche Beschränkung in nicht gerechtfertigter Weise eingeschränkt wird. Aus der
Bezugnahme auf einen effektiven Rechtsschutz ergibt sich, dass mit den vom EuGH angesprochenen
"Rechtsbehelfen" nur solche gemeint sind, die bei Erlass des Urteils vom 4. Mai 1999 noch rechtshängig, also offen
waren; denn bei abgeschlossenen Verfahren stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit des Rechtsschutzes von
vornherein nicht. Als "Rechtsbehelf" sind in diesem Zusammenhang auch erstmalige Leistungsanträge zu verstehen,
denn auch sie dienen der Geltendmachung von Rechten und unterbrechen zB die Verjährung von Ansprüchen (vgl §
45 Abs 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)). Dabei stellt der EuGH nicht darauf ab, aus welchen Gründen
entsprechende Anträge nicht gestellt oder nach abschlägigen Entscheidungen nicht weiter verfolgt worden sind.
Die Umsetzung des EuGH-Urteils richtet sich auch hinsichtlich der Ausnahme zur angeordneten zeitlichen
Beschränkung nach dem innerstaatlichen - hier also deutschen - Recht. Die Rechtsprechung des EuGH überlässt es
den innerstaatlichen Gerichten, im Rahmen ihrer Verfahrensordnung den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für
die Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt (vgl auch Art 10 EGVtr). Voraussetzung
ist lediglich, dass die nationalen Regelungen diese Verfahrensbedingungen nicht ungünstiger gestalten als für
gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen. Mögliche Unterschiede der nationalen Rechtsvorschriften
sind demnach hinzunehmen (EuGH Slg 1976, 1989 RdNr 5 und Slg 1976, 2043 RdNr 11/18 sowie Slg 1980, 1205
RdNr 22 ff). Insbesondere in Fällen, in denen von ihm die unmittelbare Wirkung einer Norm ohne zeitliche
Beschränkung festgestellt worden ist, hat der EuGH zugleich die Festsetzung angemessener, für die
Rechtsverfolgung geltender innerstaatlicher Ausschlussfristen im Interesse der Rechtssicherheit als mit dem
Gemeinschaftsrecht vereinbar angesehen (Slg 1980, 1205 RdNr 23).
Zur Begründung eines Anspruchs hätte die Klägerin zwei Fristen einhalten müssen: Zum einen könnte sie sich auf
das Diskriminierungsverbot des Art 3 Abs 1 ARB nur dann berufen, wenn sie bereits vor dem Erlass des Sürül-Urteils
vom 4. Mai 1999 einen auf LErzg gerichteten "Rechtsbehelf" eingelegt hätte. Zum anderen ist zu beachten, dass
LErzg gemäß Art 3 Abs 2 BayLErzGG rückwirkend höchstens für zwei Lebensmonate vor der (schriftlichen)
Antragstellung zu gewähren ist. Dabei handelt es sich zwar um eine irrevisible landesrechtliche Vorschrift (vgl § 162
SGG), der erkennende Senat darf sie hier jedoch ausnahmsweise anwenden und prüfen, weil sie im Berufungsurteil
völlig unberücksichtigt geblieben ist (vgl dazu BSG SozR 5050 § 15 Nr 38; SozR 3-5050 § 15 Nr 5). Angesichts eines
möglichen Leistungszeitraums vom 4. Juli 1995 bis 3. Januar 1996 könnte danach nur ein vor dem 3. März 1996
gestellter Antrag der Klägerin überhaupt leistungswirksam sein. Auf diesen Zeitpunkt ist mithin im Folgenden
entscheidend abzustellen.
Die Klägerin hat nach den Feststellungen des LSG weder vor dem 3. März 1996 noch vor dem 4. Mai 1999 einen
wirksamen Antrag auf LErzg gestellt. Sie ist nach den Umständen des vorliegenden Falles auch nicht so zu
behandeln, als ob sie dies rechtzeitig getan hätte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Ausspruch des EuGH,
wonach die unmittelbare Wirkung des Art 3 Abs 1 ARB grundsätzlich nicht zur Begründung von Ansprüchen auf
Leistungen für Zeiten vor dem Erlass des Urteils vom 4. Mai 1999 geltend gemacht werden kann, sich nicht nur auf
die materiellen Anspruchsvoraussetzungen des LErzg - hier also auf Art 1 Abs 1 Nr 5 BayLErzGG - auswirkt.
Vielmehr gilt er umfassend, mithin auch bei der (verfahrensrechtlichen) Frage nach der Rechtzeitigkeit der Einlegung
eines Rechtsbehelfs vor dem 4. Mai 1999.
Der Klägerin hilft die (hier gemäß Art 8 Nr 1 Buchst d BayLErzGG iVm § 10 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG)
anwendbare) Regelung des § 27 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht weiter. Nach dessen Abs 1 gilt: War
jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren. Eine derartige Wiedereinsetzung ist hier zwar nicht nach § 27 Abs 5 SGB X unzulässig.
Aus Art 3 Abs 2 BayLErzGG ergibt sich nämlich nicht, dass sie ausgeschlossen ist (vgl BSGE 85, 231, 238 = SozR
3-7833 § 6 Nr 20). Sie ist jedoch gemäß § 27 Abs 3 SGB X nur unter erschwerten Bedingungen möglich: Nach einem
Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte
Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich
war. Da die Klägerin einen wirksamen Antrag auf LErzg im Februar 2002, also weit über ein Jahr nach dem 2. März
1996 (dem nach Art 3 Abs 2 BayLErzGG letztmöglichen leistungsrelevanten Antragszeitpunkt), gestellt hat, kommt
es darauf an, ob ihr die Antragstellung vor Ablauf der Jahresfrist (also vor dem 3. März 1997) infolge höherer Gewalt
unmöglich war.
Der Begriff der höheren Gewalt hat eine subjektive Komponente und ist nicht auf von außen kommende, nicht
beeinflussbare Ereignisse beschränkt. Höhere Gewalt ist mithin jedes Geschehen, das auch durch die größtmögliche,
von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und
zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Als unabwendbar in diesem Sinne ist eine Fristversäumnis
grundsätzlich auch dann anzusehen, wenn sie durch eine falsche oder irreführende Auskunft oder Belehrung oder
sonst durch ein rechts- oder treuwidriges Verhalten der Verwaltungsbehörde verursacht wird (BSG, Urteil vom 25.
März 2003 - B 1 KR 36/01 R - BSGE 91, 39 = SozR 4-1500 § 67 Nr 1; anders wohl noch BSG SozR 3-2400 § 25 Nr 6
S 23; allg dazu auch BVerwGE 58, 100; BAG AP Nr 2 zu § 203 BGB; BGH NJW 1994, 2752).
Die Klägerin beruft sich vorliegend darauf, sie habe nicht früher einen Antrag auf LErzg gestellt, weil man ihr bei der
Beantragung von BErzg im Jahre 1993 gesagt habe, dass türkischen Staatsangehörigen kein Anspruch auf LErzg
zustehe und ein entsprechender Antrag deshalb gar nicht gestellt zu werden brauche. Diese Information des
Beklagten war zwar im Lichte der Entscheidung des BSG vom 29. Januar 2002 (BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3
Nr 2) objektiv falsch, auch wenn sie der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl dazu BSG SozR 3-6935
Allg Nr 1) entsprach. Denn eine unrichtige Rechtsauskunft liegt auch dann vor, wenn der Versicherungsträger ohne
Verschulden von der Richtigkeit seiner Rechtsansicht ausgehen durfte (vgl BSGE 49, 76, 78 = SozR 2200 § 1418 Nr
6; Seewald in Kasseler Komm, Vor §§ 38 - 47 SGB I RdNr 58). Entscheidend ist insoweit - wie bei § 44 SGB X
(Steinwedel in Kasseler Komm, § 44 SGB X RdNr 29) - die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht
("geläuterte Rechtsauffassung"). Zur Begründung der Fehlerhaftigkeit der Information bedarf es jedoch der Berufung
auf die unmittelbare Wirkung des Art 3 Abs 1 ARB für einen Zeitraum vor Erlass der Sürül-Entscheidung des EuGH.
Es greift hier somit die in diesem Urteil ausgesprochene zeitliche Beschränkung ein. Da die Klägerin am 4. Mai 1999
kein offenes Verfahren über die Gewährung des hier streitigen LErzg hatte, kann sie die objektive Unrichtigkeit der ihr
zu Teil gewordenen Beratung nicht zur Begründung eines Wiedereinsetzungsantrages geltend machen.
Andere Umstände, die - unter dem Gesichtspunkt einer höheren Gewalt - eine Wiedereinsetzung ohne Rückgriff auf
die unmittelbare Anwendung des Art 3 Abs 1 ARB begründen würden, sind nicht ersichtlich. In Betracht kämen
insoweit nur gravierende Verfahrensverstöße der Behörde wie etwa eine Nichtannahme von Anträgen oder dem
gleichzustellende Rechtsverstöße. Ein derartiges Fehlverhalten von Bediensteten des Beklagten ist nach den
berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht erkennbar. Insbesondere hat das LSG festgestellt, dass
"Anhaltspunkte für eine nachweislich entgegen einem klar geäußerten Willen der Antragstellerin und unter Verstoß
gegen Grundsätze des Verwaltungsverfahrens vorliegende Nichtannahme oder Nichtverbescheidung von
Leistungsanträgen weder schlüssig vorgetragen noch sonst ersichtlich" seien. An diese tatsächlichen Feststellungen
ist das BSG gebunden, da insoweit keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht worden sind (§
163 SGG). Da die Klägerin nur pauschal auf eine objektiv fehlerhafte Auskunft durch den Beklagten hinweist, besteht
auch keine Veranlassung zu der Annahme, der vorliegende Sachverhalt könnte in entscheidungserheblichen Punkten
noch nicht vollständig aufgeklärt worden sein.
Auch auf Grund des richterrechtlich entwickelten Rechtsinstituts eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs steht
der Klägerin kein LErzg zu. Der Senat lässt offen, inwieweit dieser Anspruch, der gegenüber gesetzlichen Regelungen
grundsätzlich subsidiär ist (vgl dazu BSGE 60, 158 = SozR 1300 § 44 Nr 23), bei Fallgestaltungen wie der
vorliegenden neben der in § 27 SGB X geregelten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingreifen kann (verneinend
BVerwG NJW 1997, 2966, und ihm zustimmend BSG, Urteil vom 10. Juli 2003 - B 11 AL 11/03 R -, JURIS).
Jedenfalls sind die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs hier nicht erfüllt. Dessen (im Wesentlichen
dreigliedriger) Tatbestand fordert das Vorliegen einer Pflichtverletzung, die dem zuständigen Sozialleistungsträger
zuzurechnen ist; dadurch muss beim Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten sein;
schließlich muss durch Vornahme einer Amtshandlung des Trägers ein Zustand hergestellt werden können, der
bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (vgl zB BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - B 9 VJ
2/02 R - zur Veröffentlichung vorgesehen in BSGE und SozR 4).
Die Klägerin vermag sich schon nicht auf eine Pflichtverletzung des Beklagten zu berufen. Wegen des Ausspruches
der zeitlichen Beschränkung in der Sürül-Entscheidung des EuGH kann der Herstellungsanspruch - wie schon der
Wiedereinsetzungsantrag - auf die objektiv fehlerhafte Beratung durch den Beklagten nicht gestützt werden. Ebenso
wenig ist die Verletzung einer Pflicht des Beklagten anzunehmen, die Klägerin auf einen sich abzeichnenden Wandel
in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bzw entsprechende anhängige Verfahren hinzuweisen. Eine solche
Hinweispflicht könnte allenfalls dann entstehen, wenn es auf Grund gravierender Umstände wahrscheinlich erscheint,
dass ein Wandel in der Rechtsprechung eintreten wird. Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Der EuGH hat
nämlich mit dem Ausspruch der zeitlichen Beschränkung gerade zum Ausdruck gebracht, dass die Mitgliedstaaten
nicht mit dieser Entscheidung rechnen mussten, sondern ihr Vertrauen in die Rechtmäßigkeit ihrer Rechtsvorschriften
bis zum Erlass des Urteils vom 4. Mai 1999 schützenswert war. Damit wäre die Annahme, der Beklagte sei trotz
dieses Vertrauens verpflichtet gewesen, einen entsprechenden Hinweis zu geben, nicht vereinbar. Insbesondere
würde durch die Möglichkeit, auf diese Weise einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu begründen, der Zweck
der vom EuGH verfügten zeitlichen Beschränkung konterkariert (vgl dazu auch BSG SozR 4-4300 § 434c Nr 1 S 7).
Ansonsten sind Pflichtverletzungen des Beklagten, die ohne Berufung auf die unmittelbare Anwendung des Art 3 Abs
1 ARB begründet werden könnten, auch in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.