Urteil des BSG vom 25.06.2002

BSG: beitragspflichtige beschäftigung, rahmenfrist, erfüllung, obhut, stadt, pflegekind, erwerbstätigkeit, anerkennung, verhinderung, jugendhilfe

Bundessozialgericht
Urteil vom 25.06.2002
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Bundessozialgericht B 11 AL 67/01 R
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. August 2001
aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
Der Rechtsstreit betrifft die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 13. Januar 1998, wobei insbesondere
streitig ist, ob die Klägerin die Anwartschaftszeit erfüllt hat.
Die 1959 geborene Klägerin war von Januar 1990 bis Ende Dezember 1994 versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 30.
August 1994 betreut sie den am 21. Februar 1992 geborenen Ernesto A. (seit August 1998: Ernesto S. ) als
Pflegekind und bezieht deswegen zusammen mit ihrem Ehemann Pflegegeld nach den Bestimmungen des Achten
Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Wegen der Betreuung des Pflegekindes war die
Klägerin in der Zeit vom 1. Januar 1995 bis 31. Dezember 1997 beurlaubt; ihr Arbeitsverhältnis wurde zum 31.
Dezember 1997 beendet. Am 13. Januar 1998 meldete sie sich arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte lehnte
eine Bewilligung ab, da die Klägerin die Anwartschaftszeit nicht erfüllt habe (Bescheid vom 9. Februar 1998,
Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1999).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 8. August 2000 abgewiesen. Es hat angenommen, die
Anwartschaftszeit sei nicht erfüllt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 15.
August 2001 zurückgewiesen. Die Berücksichtigung der Zeiten der Betreuung des Pflegekindes richte sich allein nach
§ 124 Abs 3 Satz 1 Nr 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB III); danach bzw nach § 123 SGB III
habe die Klägerin die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Nicht anwendbar sei § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c
Arbeitsförderungsgesetz (AFG); dies folge aus § 427 Abs 2 SGB III, der gegenüber § 427 Abs 3 SGB III die
speziellere Regelung sei. Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht liege nicht vor.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c AFG sei über § 427
Abs 3 SGB III weiterhin anzuwenden. Zu beachten sei auch, dass die Einrichtung einer Dauerpflege mit dem Ziel der
Adoption unter dem Schutz des Art 6 Grundgesetz (GG) stehe. Eine anderweitige Beurteilung lasse sich nicht mit Art
3 "im Zusammenspiel" mit Art 6 GG vereinbaren. Eine ungerechtfertigte verfassungsrechtliche Schlechterstellung der
Eltern von Pflegekindern ergebe sich schließlich daraus, dass die Regelungen des SGB III für die Verlängerung der
Rahmenfrist bei leiblichen Kindern und Pflegekindern gleichermaßen auf die Vollendung des dritten Lebensjahres
abstellten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG vom 15. August 2001 und das Urteil des SG vom 8. August 2000 sowie den Bescheid der
Beklagten vom 9. Februar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Februar 1999 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, Alg ab dem 13. Januar 1998 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Zwar seien nach neuerer Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entgegen der Auffassung des LSG Zeiten
nach § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c AFG anwartschaftsbegründend; jedoch könne nach den tatsächlichen
Feststellungen des LSG nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin Anspruch auf Erziehungsgeld habe.
II
Die Revision der Klägerin ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung begründet. Die
bisherigen Ausführungen des LSG rechtfertigen nicht die Abweisung der auf Zahlung von Alg für die Zeit ab 13.
Januar 1998 gerichteten Klage; für eine abschließende Entscheidung bedarf es weiterer Feststellungen.
Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg für die Zeit ab 13. Januar 1998 sind nach den Vorschriften des am 1.
Januar 1998 in Kraft getretenen SGB III zu beurteilen (Art 83 Abs 1 des Gesetzes zur Reform des
Arbeitsförderungsrechts (AFRG)). Zu den Anspruchsvoraussetzungen zählt auch die Anwartschaftszeit, die ua erfüllt
hat, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§§ 117
Abs 1 Nr 3, 123 Satz 1 Nr 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt drei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung
aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg (§ 124 Abs 1 SGB III). In die Rahmenfrist werden (ua) nicht
eingerechnet Zeiten der Betreuung und Erziehung eines Kindes, das das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§
124 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB III).
Das LSG hat die Zeit, in der die Klägerin das Kind Ernesto aufgenommen und gepflegt hat, ausschließlich nach der
zuletzt genannten Vorschrift bei der Verlängerung der Rahmenfrist berücksichtigt. Auch bei Nichteinrechnung der
Betreuungszeiten des Kindes vor Vollendung des dritten Lebensjahres in die Rahmenfrist ist die Anwartschaftszeit
dann nicht erfüllt.
Das LSG ist jedoch zu Unrecht der Ansicht, die Erfüllung der Anwartschaftszeit mit Zeiten, die nach § 107 AFG einer
beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt waren (gleichgestellte Zeiten) sei rechtlich ausgeschlossen. Die
Gleichstellung dieser Zeiten mit Zeiten eines Versicherungspflichtverhältnisses ordnet § 427 Abs 3 SGB III an. Die
Anwendung dieser Vorschrift ist nicht durch § 427 Abs 2 SGB III ausgeschlossen, wie bereits der 7. Senat des BSG
entschieden hat (SozR 3-4300 § 427 Nr 1). § 427 Abs 2 SGB III ist im Verhältnis zu § 427 Abs 3 SGB III lediglich
eine ergänzende Vorschrift, die eine Doppelberücksichtigung gleichgestellter Zeiten verhindern, keinesfalls aber der
über § 427 Abs 3 SGB III möglichen Einbeziehung dieser Zeiten in die Anwartschaftszeit nach § 123 SGB III
entgegenstehen soll. Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen des 7. Senats an.
Berücksichtigt man die nach § 107 AFG gleichgestellten Zeiten, könnte die Klägerin die Anwartschaftszeit erfüllt
haben, wenn sie innerhalb der gemäß § 427 Abs 2 SGB III nicht verlängerten Rahmenfrist (vom 13. Januar 1995 bis
12. Januar 1998) bis zum 31. Dezember 1997 (letzter Tag der Geltung des AFG) wenigstens zwölf Monate
Erziehungsgeld bezogen oder nur wegen der Berücksichtigung von Einkommen nicht bezogen hat und wenn durch die
Betreuung und Erziehung des Kindes eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung unterbrochen worden ist (§
427 Abs 3, § 123 Satz 1 Nr 1, § 124 Abs 1 SGB III und § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c AFG). Ob diese Voraussetzungen
erfüllt sind, hat das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent - nicht geprüft; der Senat kann hierüber
nach den bislang getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
In Betracht kommt hier ein Anspruch auf Erziehungsgeld nach § 1 Abs 3 Nr 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes
(BErzGG) wegen Aufnahme von Ernesto mit dem Ziel der Annahme als Kind in die Obhut der Klägerin als
Annehmender. Nach den Ausführungen im Tatbestand des LSG-Urteils ist zwar davon auszugehen, dass die Klägerin
in der fraglichen Zeit ab Januar 1995 kein Erziehungsgeld bezogen hat; es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden,
dass sie die Leistung nur wegen der Berücksichtigung des Einkommens ihres Ehemannes nicht bezogen hat (vgl §§
5, 6 BErzGG). Dieser Anspruch könnte der Klägerin nach § 4 Abs 1 Satz 1 und 3 BErzGG (idF des Art 1 Nr 4 Zweites
Gesetz zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften vom 6. Dezember 1991 (BGBl I
2142)) in der Zeit ab 13. Januar 1995 für dann noch mindestens zwölf Monate oder mehr zugestanden bzw nur wegen
Einkommensberücksichtigung nicht zugestanden haben, da die Klägerin den im Februar 1992 geborenen Ernesto ab
August 1994 betreut und erzogen hat. Bei Nichtbezug nur aus Gründen des Einkommens wäre es auch unschädlich,
wenn die Klägerin die Leistung nicht schriftlich beantragt hätte (§ 4 Abs 2 Satz 1 BErzGG, vgl BSG SozR 3-4300 §
427 Nr 1). Einem Anspruch auf Erziehungsgeld stände auch nicht der gleichzeitige Bezug von Unterhaltsleistungen
nach dem SGB VIII entgegen (vgl BSG SozR 3-7833 § 1 Nr 23 S 117 f). Eine Erfüllung der Anwartschaftszeit durch
gleichgestellte Zeiten iS des § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c AFG scheiterte im Falle der Klägerin schließlich nicht am
Erfordernis der Unterbrechung einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung durch die Betreuung und
Erziehung des Kindes. Dieses Erfordernis ist nicht so zu verstehen, dass gleichgestellte Zeiten von
beitragspflichtigen Beschäftigungen umrahmt sein müssen (vgl BSGE 74, 28, 35 = SozR 3-4100 § 107 Nr 6; SozR 3-
4100 § 107 Nr 10, jeweils mwN). Da § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c AFG die Anerkennung der Erziehungsleistung durch
die Möglichkeit der Wahl zwischen Familien- und Erwerbstätigkeit und demgemäß die Verhinderung einer
Beeinträchtigung der sozialen Sicherung des Erziehenden für die Zeit der Betreuung und Erziehung bezweckt (BSGE
74 aaO), ist der Unterbrechungstatbestand auch dann gewahrt, wenn sich - wie hier - die Betreuungs- und
Erziehungszeiten an eine beitragspflichtige Beschäftigung anschließen und das Kind bis zur Arbeitslosmeldung weiter
betreut und erzogen wird.
Der Senat kann nicht entscheiden, ob das Pflegekind Ernesto, wie es § 1 Abs 3 Nr 1 BErzGG verlangt, in der Zeit ab
Januar 1995 mit dem Ziel der Annahme als Kind in die Obhut der Klägerin aufgenommen gewesen ist, da das LSG
dazu keine Feststellungen getroffen hat. Insoweit genügt nach der Rechtsprechung des BSG nicht die unverbindliche
Bereitschaft, ein bestimmtes Kind anzunehmen; der Annahmewille muss vielmehr nach außen bekundet sein, was
regelmäßig durch eine Adoptionsbewerbung geschieht (vgl BSGE 71, 128, 132 = SozR 3-7833 § 1 Nr 9; SozR 3-7833
§ 1 Nr 23 S 116 f; Urteil des 7. Senats vom 5. Dezember 2001 aaO). Die vom LSG und SG eingeholten Auskünfte der
Stadt M. und der Stadt H. sind vom LSG nicht gewürdigt worden. Sie beziehen sich im Übrigen überwiegend auf die
Zeit nach 1998. Entscheidend ist jedoch, ob die Klägerin das Kind Ernesto im Jahr 1994 mit dem Ziel der Annahme
aufgenommen hat und wie lange danach die subjektiven und objektiven Voraussetzungen hierfür fortbestanden haben.
Das LSG wird die noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen haben. Bei seiner erneuten
Entscheidung, die auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu umfassen hat, wird das LSG für den Fall, dass die
Anwartschaftszeit durch gleichgestellte Zeiten iS des § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst c AFG erfüllt ist, Gelegenheit zur
Klarstellung haben, dass die Klägerin für die Zeit ab 13. Januar 1998 auch die sonstigen Voraussetzungen des
Anspruchs auf Alg erfüllt und dass der Anspruch im klagegegenständlichen Zeitraum nicht etwa geruht hat. Beim
gegenwärtigen Stand der Ermittlungen sieht der Senat im Übrigen keinen Anlass, auf die vom LSG und von der
Revision erörterte Frage der Verfassungswidrigkeit der Rechtslage nach Maßgabe der §§ 123, 124 Abs 3 Nr 2 SGB III
einzugehen.