Urteil des BSG vom 23.04.2009

BSG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, schriftstück, zugang, vertretung, verfahrensmangel, unterzeichnung, rechtspflege, ausstellung, vertreter

Bundessozialgericht
Urteil vom 23.04.2009
Sozialgericht Nürnberg S 15 VG 13/05
Bayerisches Landessozialgericht L 15 VG 10/08
Bundessozialgericht B 9 VG 22/08 B
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Juli 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
1
Die Klägerin macht in der Hauptsache gegenüber dem Beklagten Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz
geltend. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende
Urteil des Sozialgerichts (SG) Nürnberg vom 23.11.2007 als unzulässig verworfen, weil die Frist zur Einlegung der
Berufung versäumt worden sei (Urteil vom 8.7.2008). Das Urteil des SG sei den Prozessbevollmächtigten am
14.2.2008 zugestellt worden. Die Berufung sei nach Ablauf der Berufungsfrist am 19.3.2008 eingegangen. Gründe für
eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG)
Beschwerde eingelegt. Sie macht geltend, sie habe die Frist zur Einlegung der Berufung nicht versäumt.
II
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Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.
4
Die Klägerin hat den als Zulassungsgrund geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht
(§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt. Mit ihrer Rüge, das LSG habe die Berufung zu Unrecht wegen Fristversäumnis als
unzulässig verworfen, macht die Klägerin sinngemäß geltend, dass statt des Prozessurteils eine Entscheidung in der
Sache hätte ergehen müssen. Damit hat sie einen Verfahrensmangel bezeichnet (vgl BSGE 34, 236, 237 = SozR Nr
57 zu § 51 SGG; BSG SozR 1500 § 144 Nr 1 S 1; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 16).
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Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor, denn das LSG hat zu Unrecht nicht in der Sache
entschieden. Die Berufung der Klägerin ist zulässig.
6
Nach § 151 Abs 1 SGG ist die Berufung bei dem LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich
oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Zustellung von gerichtlichen
Entscheidungen an bevollmächtigte Rechtsanwälte erfolgt üblicherweise - so auch hier - unter Verwendung eines
Empfangsbekenntnisses (§ 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 174 Abs 1 ZPO). Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis
ist in dem Zeitpunkt bewirkt, an dem der Adressat das Schriftstück persönlich als zugestellt entgegennimmt. Mithin
ist für die Zustellung der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden
Schriftstücks Kenntnis erlangt und bereit ist, die Zustellung entgegenzunehmen (so schon BSG SozR 1960 § 5 Nr 2 S
4 zu § 5 Abs 2 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) unter Hinweis auf die einhellige Rechtsauffassung der obersten
Gerichtshöfe des Bundes; dazu insbesondere auch BGH NJW 1979, 2566 und BGH NJW 2007, 600). Dies war hier
erst am 19.2.2008 der Fall.
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Adressaten des zuzustellenden Schriftstücks (Urteil des SG vom 23.11.2007) waren als damalige
Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Rechtsanwälte M. H. und T. H ... Am 14.2.2008 hat eine
Rechtsanwaltsfachangestellte der damaligen Prozessbevollmächtigten auf das Empfangsbekenntnis neben dem
Vordruck "empfangen am" das Datum gestempelt, das Empfangsbekenntnis an der dafür vorgesehenen Stelle mit
einem Stempel der Kanzlei der damaligen Prozessbevollmächtigten versehen und es selbst unterschrieben. Erst am
19.2.2008 hat der die Angelegenheit der Klägerin damals bearbeitende Rechtsanwalt T. H. das zuzustellende
Schriftstück persönlich als zugestellt entgegengenommen, nachdem er von dem Eingang des Urteils erstmals
persönlich Kenntnis erlangt hatte. Noch am selben Tag hat er das Urteil an die Klägerin weitergeleitet.
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Der vorgenannte Sachverhalt steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der Angaben des die Angelegenheit der
Klägerin damals bearbeitenden Rechtsanwalts T. H. fest. Dieser hat den Ablauf der Ereignisse auf Anfrage des
Senats unvoreingenommen geschildert. Für den Senat ergibt sich aus den Akten kein Anlass, an der Richtigkeit
dieser Darstellung zu zweifeln. Auch die Beteiligten, die Gelegenheit hatten, sich zu äußern, haben keine Zweifel kund
getan.
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Nach diesem Geschehensablauf ist am 14.2.2008 keine wirksame Zustellung des erstinstanzlichen Urteils erfolgt.
Denn das von der Angestellten der prozessbevollmächtigten Rechtsanwälte unterzeichnete Empfangsbekenntnis
genügt nicht den Anforderungen des § 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 174 Abs 1 und Abs 4 Satz 1 ZPO. Vielmehr ist
insoweit auf die persönliche Entgegennahme des Urteils durch Rechtsanwalt H. am 19.2.2008 abzustellen. Nach
Auffassung des Senats kann ein Rechtsanwalt als Zustellungsadressat sein Büropersonal nicht wirksam zur
Entgegennahme von Zustellungen gegen Empfangsbekenntnis nach § 174 Abs 1 und Abs 4 Satz 1 ZPO ermächtigen.
10
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat bereits in seiner Entscheidung vom 10.6.1976 (- IX ZR 51/75 - BGHZ 67, 10) auf die
Unterschiede der Zustellungen gegen Empfangsbekenntnis nach § 5 Abs 2 VwZG und nach den damaligen
Vorschriften der ZPO (§ 198, § 212a ZPO alter Fassung - aF) hingewiesen. Nur für die vereinfachte Zustellung nach §
5 Abs 2 VwZG hat er eine Vertretung durch Büroangestellte für zulässig erachtet (hierzu auch BFH/NV 1989, 646;
BFH/NV 1999, 1475). In seinem Urteil vom 31.5.1979 (- VII ZR 290/78 - NJW 1979, 2566) hat es der BGH für den
Zeitpunkt der Zustellung nach den damaligen Vorschriften der ZPO als entscheidend angesehen, wann der
Rechtsanwalt, dem zugestellt wird, das Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt
anzunehmen. Die Äußerung dieses Willens setzt voraus, dass der Zustellungsempfänger persönlich Kenntnis von
dem Zugang des zuzustellenden Schriftstücks erlangt. In seinem Urteil vom 21.4.1982 (- IVa ZB 20/81 - NJW 1982,
1650) hat der BGH in Abgrenzung zu der Entscheidung vom 10.6.1976 bei einer Zustellung gegen
Empfangsbekenntnis nach § 212a ZPO aF unter Hinweis auf die privilegierte Stellung von Rechtsanwälten als Organe
der Rechtspflege und im Hinblick auf den Wortlaut dieser Vorschrift bei der Ausstellung von Empfangsbekenntnissen
nur eine Vertretung für zulässig erachtet, die sich auf den amtlich bestellten Vertreter oder einen nach § 30
Bundesrechtsanwaltsordnung bestellten Zustellungsbevollmächtigten beschränkt. Diese Rechtsprechung hat der BGH
in der Folgezeit fortgeführt (vgl etwa BGH NJW 1991, 42; BGH NJW-RR 1992, 251; BGH NJW 1994, 2295).
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Nach der Änderung der Vorschriften der ZPO durch das Zustellungsreformgesetz vom 25.6.2001 (BGBl I 1206) hat es
der BGH in seinem Urteil vom 20.7.2006 (- I ZB 39/05 - NJW 2007, 600) auch für eine wirksame Zustellung gegen
Empfangsbekenntnis nach § 174 Abs 1 ZPO für entscheidend gehalten, dass (neben der Übermittlung des
Schriftstücks in Zustellungsabsicht) eine Empfangsbereitschaft des Empfängers vorliegt. Die Entgegennahme des
zuzustellenden Schriftstücks muss deshalb auch nach § 174 Abs 1 und Abs 4 Satz 1 ZPO mit dem Willen erfolgen,
es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen. Zustellungsdatum ist deshalb der Tag, an dem der Zustellungsadressat
vom Zugang des übermittelten Schriftstück persönlich Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt.
Dieser Empfangswille wird (in der Regel) durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnis beurkundet. Mit der Frage,
ob eine Vertretung bei der Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses zulässig ist, hat sich der BGH in dieser
Entscheidung allerdings nicht befasst. Der Wortlaut des § 174 Abs 4 Satz 1 ZPO gibt insoweit jedoch einen Anhalt für
die Auslegung. Er verlangt - anders als § 5 Abs 2 VwZG - eine Unterschrift "des Adressaten". Es wird deshalb in der
zivilprozessrechtlichen Literatur auch zu § 174 ZPO überwiegend die Auffassung vertreten, dass eine Manifestation
der Empfangsbereitschaft des Adressaten nur vorliegt, wenn der Rechtsanwalt persönlich das zuzustellende
Schriftstück in Empfang nimmt. Deshalb können jedenfalls Büroangestellte weder für den Einzelfall noch allgemein
zur Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis ermächtigt werden (vgl Roth in Stein/Jonas, ZPO Kommentar, 22. Aufl
2004, § 174 RdNr 10, 12, 19; Häublein in Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Aufl 2008, § 174 RdNr 4, 11; Stöber in
Zöller, ZPO Kommentar, 27. Aufl 2009, § 174 RdNr 15).
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Der Senat hat keine rechtlichen Bedenken, sich dieser Auffassung anzuschließen. Er weicht damit nicht von der
Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ab. Auch dieser geht in seinem Beschluss vom 1.3.2005 (- X B 158/04
- BFH/NV 2005, 1014) davon aus, dass ein Urteil, das einem Prozessbevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis
übersandt wird, erst dann wirksam zugestellt ist, wenn der Adressat von dem Zugang des zuzustellenden
Schriftstücks Kenntnis erlangt und auf Grund dieser Kenntnis den Willen bekundet, die Zustellung
entgegenzunehmen. Er ist der Auffassung, auch § 174 Abs 1 ZPO verlange, dass das zuzustellende Schriftstück von
dem als Zustellungsadressat bezeichneten Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege bzw dem Steuerberater
persönlich als zugestellt entgegengenommen wird; die Entgegennahme durch einen Büroangestellten genüge für eine
wirksame Zustellung nicht. Soweit der BFH in diesem Zusammenhang ausführt, etwas anderes gelte nur dann nicht,
wenn ein Dritter (zB ein Kanzleivorstand) zur Entgegennahme von Zustellungen nach § 174 Abs 1 ZPO ermächtigt
sei, und insoweit das Urteil des BFH vom 20.1.1989 (- III R 91/85 - BFH/NV 1989, 646) zu § 5 Abs 2 VwZG zitiert,
gehören diese Ausführungen im Hinblick darauf, dass das Empfangsbekenntnis im entschiedenen Fall vom
Prozessbevollmächtigten persönlich unterzeichnet wurde, nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung.
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Ausgehend von einer erst am 19.2.2008 erfolgten Zustellung des Urteils des SG ist mit der am 19.3.2008 bei dem
LSG eingegangenen Berufungsschrift der Klägerin die Monatsfrist des § 151 Abs 1 SGG gewahrt worden. Damit hätte
das LSG über die Berufung der Klägerin in der Sache entscheiden müssen.
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Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene
Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie
hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des
vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.