Urteil des BSG vom 02.03.2000

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Bundessozialgericht
Urteil vom 02.03.2000
Sozialgericht für das Saarland
Landessozialgericht für das Saarland
Bundessozialgericht B 7 AL 8/99 R
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 19. November 1998
und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 2. Mai 1996 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten Arbeitslosengeld (Alg) für den Zeitraum vom 27. Dezember 1994 bis 22. Januar
1995.
Der im Jahre 1939 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. In der Zeit vom 22. Juli 1991 bis zum 10.
Februar 1992 und vom 3. Juni 1992 bis 30. November 1992 war er als Verpacker bei einer Firma in Leverkusen
beschäftigt. Vom 27. Oktober 1993 bis 20. Dezember 1994 war er in der JVA E. inhaftiert. Dort war er vom 20.
Februar bis 20. Dezember 1994 beitragspflichtig beschäftigt.
Nach seiner Haftentlassung meldete sich der Kläger am 27. Dezember 1994 bei der Beklagten arbeitslos und
beantragte die Bewilligung von Alg. In dem Antrag ist maschinenschriftlich die Anschrift "L. S. " in "66 S. "
angegeben. Das Antragsfeld "falls in Untermiete, bei wem" ist nicht ausgefüllt. Der Kläger wohnte bei einer Frau H. G.
(im folgenden: H.G.). Ein eigener Briefkasten und ein eigenes Namensschild des Klägers waren bei der angegebenen
Anschrift nicht vorhanden. Ein an ihn unter der Anschrift L. S. gerichtetes Schreiben der Beklagten kam am 30.
Dezember 1994 an die Beklagte mit dem Vermerk "unbekannt" zurück. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 16.
Januar 1995 die Bewilligung von Alg ab, weil der Kläger nicht erreichbar sei. Den Widerspruch wies sie durch
Widerspruchsbescheid vom 3. März 1995 zurück.
Nachdem der Kläger ein eigenes Namensschild und einen Briefkasten angebracht hatte, bewilligte die Beklagte dem
Kläger Alg ab 6. Februar 1995 (Bescheid vom 17. Februar 1995). Für die Zeit zuvor hat der Kläger ab 29. Dezember
1994 Sozialhilfe bezogen.
Der Kläger begehrte mit der Klage zum Sozialgericht (SG) zunächst Alg für den Zeitraum vom 27. Dezember 1994 bis
5. Februar 1995. Die Beklagte gab sodann ein "Teilanerkenntnis" ab, weil am 23. Januar 1995 eine
Arbeitsbescheinigung des Klägers bei ihr vorgelegen hatte, aus der die Anschrift des Klägers mit dem Zusatz "bei G."
ersichtlich war.
Durch Urteil vom 2. Mai 1996 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 1995 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 3. März 1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg für den Zeitraum
vom 27. Dezember 1994 bis 22. Januar 1995 zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 19.
November 1998 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei
gemäß § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) iVm der Aufenthaltsanordnung (AufenthaltsAnO)
verfügbar gewesen. Entscheidend für die Erreichbarkeit sei, daß der Arbeitslose von den Bediensteten der Beklagten
täglich zumindest während des üblichen Eingangs der Briefpost auch tatsächlich unter der angegebenen Anschrift
angetroffen werden könne. Im Einzelfall sei hierfür noch nicht einmal erforderlich, daß der Arbeitslose unter der
angegebenen Anschrift wohne, wenn er sich nur in unmittelbarer Nähe aufhalte, gerufen werden und sofort erscheinen
könne. Ob ein Klingelschild und ein eigener Briefkasten unter der angegebenen Anschrift angebracht seien, sei
unbeachtlich. Auch in einem Hotel oder auf einem Campingplatz könne Erreichbarkeit gegeben sein. Zwar sei der
Beklagten zuzugestehen, daß weder ihren Bediensteten noch den Bediensteten der Post langes Suchen zumutbar
sei, jedoch müsse es Sinn und Zweck der Vorschrift genügen, daß ein persönliches Antreffen des
Leistungsempfängers gewährleistet sei, etwa wenn auf ein Klingeln hin geöffnet werde. Hier komme noch hinzu, daß
der Posteingang bei dem Kläger nach dessen unwidersprochenen Angaben seit Monaten problemlos funktioniert habe.
Wenn die Beklagte von weitergehenden Pflichten des Arbeitslosen - etwa zur Anbringung eines Briefkastens -
ausgehe, so hätte sie den Kläger hierüber auch belehren müssen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie rügt eine Verletzung von § 100 Abs 1 AFG iVm §
103 Abs 1 Satz 1 Nr 3, Abs 5 AFG iVm § 1 Satz 1 AufenthaltsAnO.
Der Kläger sei nicht erreichbar gewesen. Unter einer Anschrift iS des § 1 Satz 1 AufenthaltsAnO sei nur eine solche
zu verstehen, über die die Arbeitsvermittlung Arbeitslose unmittelbar - dh allein durch Inanspruchnahme des
Postdienstes - erreichen könne. Eine derartige Anschrift habe der Kläger dem Arbeitsamt (ArbA) gegenüber nicht
bezeichnet bzw keine Vorkehrungen vor Ort, dh an seiner Wohnung, getroffen, die seine unverzögerte postalische
Erreichbarkeit sichergestellt hätten. Die postalische Erreichbarkeit des Klägers sei im streitigen Zeitraum allein von
dem Erfahrungswissen des einzelnen Postbediensteten abhängig gewesen, daß der Kläger bei Frau H.G. wohne. Der
Postzugang sei dadurch mit Verzögerungen und Unsicherheiten behaftet gewesen. Dies sei mit dem Zweck der
Vorschriften über die Erreichbarkeit nicht vereinbar. Diese sollten im Interesse der Solidargemeinschaft die sofortige
Vermittelbarkeit des Arbeitslosen jederzeit sicherstellen, um den Vorrang der Arbeitsvermittlung vor der
Inanspruchnahme von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit zu gewährleisten. Im Falle des Klägers sei die
Postzustellung von Zufälligkeiten abhängig gewesen, was besonders darin zum Ausdruck komme, daß das Schreiben
vom 28. Dezember 1994 nicht zustellbar gewesen sei. Im übrigen sei die Einlassung des Klägers, vor Eintritt seiner
Arbeitslosigkeit störungsfrei Post empfangen zu haben, unbehelflich, weil der Kläger sich in der Zeit vom 27. Oktober
1993 bis 20. Dezember 1994 in Haft befunden habe und deshalb zu dem Posteingang an der Wohnadresse in S.
keinerlei Angaben machen könne.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 19. November 1998 sowie das
Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 2. Mai 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist unbekannten Aufenthalts. Er hat keinen Antrag gestellt und sich bislang zum Rechtsstreit nicht
geäußert.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG beruht auf einer Verletzung des § 103
Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG (idF, die § 103 durch das Gesetz zur Änderung von Fördervoraussetzungen im AFG und in
anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992, BGBl I 2044, erhalten hat). Entgegen der Rechtsansicht des LSG war der
Kläger nicht erreichbar, weil die Zustellung von Postsendungen unter der von ihm im Antrag auf Alg angegebenen
Anschrift nicht gewährleistet war.
In der Revisionsinstanz fortwirkende Verfahrensverstöße, die - ob auf Rüge oder ohne eine solche - einer
Sachentscheidung durch das Revisionsgericht entgegenstünden, liegen nicht vor. Insbesondere war die Berufung
gegen das Urteil des SG gemäß §§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft; denn sie betraf
einen Geldleistungsanspruch mit einem Beschwerdegegenstandswert von über 1.000,00 DM.
Nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer das ArbA täglich aufsuchen kann
und für das ArbA erreichbar ist. Die Voraussetzungen, unter denen ein Arbeitsloser im Sinne der genannten Vorschrift
erreichbar ist, sind auf der Grundlage und im Rahmen des § 103 Abs 5 AFG durch die Anordnung des Verwaltungsrats
der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über den Aufenthalt von Arbeitslosen während des Leistungsbezugs
(AufenthaltsAnO vom 3. Oktober 1979 in der hier maßgeblichen Fassung vom 24. März 1993, ANBA 1993, 769)
geregelt. Nach § 1 AufenthaltsAnO muß das ArbA den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der
Briefpost "unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des ArbA maßgeblichen Anschrift erreichen können".
Nach der Rechtsprechung des Senats hierzu beinhaltet § 1 AufenthaltsAnO eine "Residenzpflicht" derart, daß der
Arbeitslose unter der im Leistungsantrag angegebenen Wohnanschrift täglich zumindest während der üblichen Zeit
des Eingangs der Briefpost auch tatsächlich in der Wohnung angetroffen werden kann (grundlegend BSGE 66, 103 =
SozR 4100 § 103 Nr 47; Urteil des Senats vom 29. April 1992 - 7 RAr 4/91 - DBlR Nr 3928a zu § 48 SGB X; Urteil des
11. Senats vom 24. April 1997 - 11 RAr 89/96 - DBlR Nr 4460a zu § 48 SGB X; vgl kritisch zu dem Merkmal des
üblichen Posteingangs BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 16, S 64).
Ungeachtet der vorgenannten Residenzpflicht ist Grundvoraussetzung der Erreichbarkeit, daß der Arbeitslose dem
ArbA eine Anschrift mitgeteilt hat, durch die die postalische Erreichbarkeit sichergestellt ist. Unter einer Anschrift iS
des § 1 AufenthaltsAnO ist nur eine solche zu verstehen, über die der Arbeitslose allein durch Inanspruchnahme des
Postdienstes erreicht werden kann (BSG SozR 3-4450 § 4 Nr 1). Dies erfordert, daß der Arbeitslose gegenüber dem
ArbA seinen Wohn- oder Aufenthaltsort so genau bezeichnet, daß Postsendungen dem Arbeitslosen unmittelbar, dh
ohne Verzögerung durch Nachforschungen, ohne Einschaltung dritter Personen und ohne Abhängigkeit von Zufällen
zugestellt werden können. Lebt ein Arbeitsloser mit anderen Personen in einer Wohnung oder sind in einem Wohnhaus
mehrere Wohnungen, ggf mit unterschiedlichen Eingängen oder Treppenhäusern vorhanden, so trifft ihn die aus dem
Versicherungsverhältnis abzuleitende Obliegenheit (hierzu BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 14), durch klarstellende
Hinweise oder Zusätze zu der Anschrift dafür Sorge zu tragen, daß der Postbedienstete ohne weitere Nachfrage die
Postzugangseinrichtung (Briefkasten, Briefschlitz in der Wohnungstür etc) für diese Anschrift auffinden kann. So hätte
der Kläger hier seine Anschrift dahin konkretisieren müssen, daß er "bei Frau G. wohnt", um den Postzugang in deren
Postzugangseinrichtung sicherzustellen.
Eines entsprechenden Zusatzes zu der Wohnanschrift hätte es nur dann nicht bedurft, wenn auf andere Weise
sichergestellt gewesen wäre, daß Zustellungen der Post den Kläger unmittelbar erreichen können. Solche alternativen
Maßnahmen zur Angabe einer genauen Anschrift sind etwa die Anbringung eines Namensschildes am Briefkasten des
Wohnungsinhabers oder eines eigenen Briefkastens oder einer sonstigen Postzugangseinrichtung, die für jeden
Postzusteller leicht erkennbar macht, in welche konkrete Postzugangseinrichtung die Post für den Arbeitslosen
einzuwerfen ist. Ob entsprechende Maßnahmen im Einzelfall entbehrlich sein können, bedarf hier keiner
Entscheidung. Es reicht jedenfalls nicht, wenn die Postzustellung von der bloßen Gefälligkeit Dritter abhängig ist oder
Dritte zwecks Klärung der Postanschrift bemüht werden müssen (BSG SozR 3-4450 § 4 Nr 1). Im vorliegenden Fall
war nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG eine unmittelbare Postzustellung im aufgezeigten Sinn an den
Kläger nicht gewährleistet. Es fehlte mithin bereits an der postalischen Erreichbarkeit als erster Voraussetzung der
Erreichbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG.
Der Kläger hat zum einen bei Antragstellung nicht darauf hingewiesen, daß er bei Frau G. wohnt. Das Antragsformular
der Beklagten sieht insoweit den Zusatz "falls in Untermiete, bei wem" vor. Der Kläger hat aber auch nicht auf andere
Weise - etwa durch Anbringung eines Namensschildes an dem Briefkasten der Frau G. - dafür Sorge getragen, daß
ihn die Briefpost unter der von ihm angegebenen Anschrift tatsächlich erreichen konnte. Daß bereits der erste Brief
der Beklagten, der kurz nach der Arbeitslosmeldung am 30. Dezember 1994 mit dem Vermerk "unbekannt"
zurückkam, nicht zustellbar war, zeigt, daß eine unmittelbare Postzustellung ohne Briefkasten oder Namensschild,
die auf den Kläger als in der L. S. wohnhaft hinwiesen, nicht gewährleistet war. Die Obliegenheit, durch Anbringen von
Namensschildern auf dem Briefkasten oder an der Haustür für postalische Erreichbarkeit zu sorgen, wenn nicht schon
zuvor die Zustellung durch Zusätze zur angegebenen Anschrift sichergestellt wurde, liegt so unmittelbar auf der Hand,
daß auch evtl Sprachschwierigkeiten des Klägers oder Mißverständnisse bei Ausfüllung des Antragsformulars, hier
nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden können.
Die vorstehende Auslegung wird durch die weitere Rechtsentwicklung bestätigt. Nach § 119 Abs 3 Nr 3
Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) idF des Ersten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze (1. SGB III-ÄndG vom 16. Dezember 1997, BGBl I 2970) setzt Verfügbarkeit ua voraus, daß der
Arbeitslose Vorschlägen des ArbA zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf. Die BA
hat hierzu aufgrund der Ermächtigung des § 152 Nr 2 SGB III die Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom 23. Oktober
1997 (ANBA 1997, 1685) erlassen. Unabhängig von der Frage, inwieweit die bisherige Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts zur tatsächlichen Erreichbarkeit (Residenzpflicht) des Arbeitslosen unter Geltung der EAO
weiterhin aufrechterhalten werden kann (hierzu Benkel, NZS 1998, 364 und Valgolio, NZS 2000, 23), normiert § 1 Abs
1 Satz 2 EAO nunmehr - noch deutlicher als § 1 AufenthaltsAnO - die Grund-Verpflichtung des Arbeitslosen zur
Sicherstellung der postalischen Erreichbarkeit. Der Arbeitslose hat nach dieser Vorschrift "sicherzustellen, daß ihn
das ArbA persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm
benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann". Hieraus wird auch in der Literatur einhellig die
Folgerung gezogen, daß der Arbeitslose ggf auch dafür Sorge zu tragen habe, daß ein ordnungsgemäßer Briefkasten
oder eine sonstige Postzugangseinrichtung vorhanden ist (Brand in Niesel, SGB III, RdNr 41 zu § 119;
Gagel/Steinmeyer, SGB III, RdNr 151 zu § 119; Wissing in Wissing/Eicher, SGB III, RdNr 140 zu § 119; ders SGb
1999, 10, 14).
Der Kläger hätte also entweder bei der Angabe seiner Wohnanschrift durch einen Zusatz deutlich machen müssen,
daß ihm Post unter dem Namen von Frau G. zugestellt werden kann, oder, da er dies unterließ, in der L. S. durch
Namensschilder am Briefkasten oder an der Wohnungstür für jeden Postzusteller leicht erkennbar machen müssen, in
welche Postzugangseinrichtung Post für ihn einzuwerfen war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.