Urteil des BPatG vom 12.02.2008
BPatG (anmeldung, klasse, form, marke, unterscheidungskraft, patent, bezug, bestandteil, beschwerde, verwendung)
BPatG 154
08.05
BUNDESPATENTGERICHT
19 W (pat) 317/09
_______________
(Aktenzeichen)
Verkündet am
7. April 2010
…
B E S C H L U S S
In der Einspruchssache
…
- 2 -
…
betreffend das Patent 103 12 256
hat der 19. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf
die mündliche Verhandlung vom 7. April 2010 unter Mitwirkung des Vorsitzenden
Richters
Dipl.-Ing. Bertl,
der
Richterin
Kirschneck,
und
der
Richter
Dr.-Ing. Kaminski und Dr.-Ing. Scholz
beschlossen:
Das Patent 103 12 256 wird widerrufen.
G r ü n d e
I
Das Deutsche Patent- und Markenamt hat für die am 19. März 2003 eingegange-
ne Anmeldung ein Patent mit der Bezeichnung "Überwachungsverfahren für eine
Steuerung eines Spritzgießprozesses" erteilt, und die Patenterteilung am
28. Juli 2005 veröffentlicht.
Gegen das Patent haben die Firmen A… GmbH & Co. KG mit Schriftsatz vom
18. Oktober 2005, eingegangen am 19. Oktober 2005, und P…
… AG mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2005, eingegangen per Fax am glei-
chen Tag, Einspruch erhoben. Zur Begründung haben sie vorgetragen, der Ge-
genstand des Patents sei nicht neu beziehungsweise beruhe unter Berücksichti-
gung des Standes der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
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Die Einsprechenden stellen den Antrag,
das Patent 103 12 256 in vollem Umfang zu widerrufen.
Die Patentinhaberin beantragt,
das angegriffene Patent beschränkt mit folgenden Unterlagen auf-
rechtzuerhalten:
Patentansprüche 1 bis 7, überreicht in der mündlichen Verhand-
lung,
übrige Unterlagen wie erteilt.
Die Patentinhaberin tritt den Ausführungen der Einsprechenden in allen Punkten
entgegen und hält den Gegenstand des Streitpatents für patentfähig.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II
Die gemäß § 147 Abs. 3 Nr. 1 PatG a. F. begründete Zuständigkeit des Bundes-
patentgerichts für die Entscheidung über die am 19. und 27. Oktober 2005 einge-
legten Einsprüche besteht auch nach Aufhebung dieser Bestimmung zum
1. Juli 2006 (vgl. Art. 1 Nr. 17. u. Art. 8 des Gesetzes z. Änd. d. patentrechtl. Ein-
spruchsverfahrens u. d. PatKostG v. 21. Juni 2006; BlPMZ 2006, 225, 226, 228)
nach dem allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsatz der "perpetuatio fori" fort
(vgl. u. a. BGH GRUR 2009, 184, 185 (Nr. 5) - Ventilsteuerung).
Die statthaften und auch sonst zulässigen Einsprüche haben Erfolg.
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1. Das Patent betrifft ein Überwachungsverfahren für eine Steuerung eines Spritz-
giessprozesses, wobei Istwerte des Spritzgießprozesses erfasst und einem Rech-
ner zugeführt werden. Die Patentschrift führt dazu aus, dass hierfür eine Vielzahl
von Software-Werkzeugen (Tools) erhältlich sei, die überlagert zu der Steuerung
einer Spritzgießmaschine eine Prozessüberwachung und -optimierung vorneh-
men. Jedes dieser Tools benötige als Eingangsdaten den zeitlichen Verlauf rele-
vanter Prozessgrössen, z. B. des Druckes, der Geschwindigkeit, des Temperatur-
verlaufs usw. (vgl. Abs. 0004 der Streit-Patentschrift).
Der Patentschrift zu Folge laufen üblicherweise die Tools auf einer PC-Hardware
unter einem PC-Betriebssystem ab. Die Istwerte werden von eigenen Sensoren
erfasst und dem PC über eine entsprechende Peripheriebaugruppe zugeführt. Die
Prozesssignale werden also vom Rechner direkt an der Spritzgiessmaschine ab-
gegriffen und als Messkurven im PC aufgezeichnet.
Hieraus ergibt sich die Aufgabe, die Istwerte dem Rechner auf einfachere, kosten-
günstigere und insbesondere auch universellere Art und Weise zuführen zu kön-
nen (Abs. 0007).
Zur Lösung dieser Aufgabe wird eine Architektur mit einer echtzeitfähigen Steue-
rung vorgeschlagen die die Signale der Sensoren aufnimmt und an den Rech-
ner (PC) mit nicht echtzeitfähigem Betriebssystem überträgt. Die Steuerung ist da-
bei gemäß dem in der Verhandlung vorgelegten, gültigen Anspruch 1 als Soft-
wareprozess ausgebildet, der ebenfalls auf dem Rechner läuft.
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Der der geltende Anspruch 1
(
mit einer für diesen Beschluss eingefügten Gliede-
rung) beschreibt das wie folgt:
1.
"Betriebsverfahren für eine Steuerung (2) eines Spritzgiess-
prozesses und einen Rechner (16),
a) wobei von der Steuerung (2) Istwerte (T, p, n, v) des Spritz-
giessprozesses erfasst
b) und an den Rechner (16) übermittelt werden,
c)
wobei die Istwerte (T, p, n, v) vom Rechner (16) unter einem
c1) nicht echtzeitfähigen Betriebssystem entgegen genommen
werden,
d) wobei die Steuerung (2) als Softwareprozess (2) ausgebildet
ist, der vom Rechner (16) unter einem echtzeitfähigen Be-
triebssystem quasiparallel zum Entgegennehmen der Istwer-
te (T, p, n, v) ausgeführt wird."
2. Für diesen Sachverhalt sieht der Senat einen Diplomingenieur (FH) der Fach-
richtung Elektrotechnik oder Informatik mit Erfahrung in der Entwicklung von digi-
talen Steuerungssystemen als Fachmann.
3. Einzelne Merkmale des geltenden Anspruchs 1 bedürfen näherer Erläuterung:
Der geltende und der erteilte Anspruch 1 sind auf ein Betriebsverfahren gerichtet.
Im Unterschied dazu war der ursprüngliche Anspruch 1 auf ein Überwachungsver-
fahren gerichtet. Der Fachmann sieht diese Begriffe als gleichbedeutend.
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Der Begriff "echtzeitfähig" wird allgemein so verstanden, dass das Betriebssystem
bzw. das unter ihm laufende Programm in der Lage sein muss, die notwendigen
Rechenschritte dann durchzuführen, wenn sie gebraucht werden. Wie schnell das
im Einzelnen ist, richtet sich nach der jeweiligen Anforderung des Prozesses. Ein
nicht echtzeitfähiges Programm oder Betriebssystem hat diesbezüglich keine be-
sonderen Anforderungen zu erfüllen. Als Beispiel für ein solches System ist in der
Patentschrift Absatz 0020 "Windows
®
" genannt.
Die "Steuerung" ist zwar in der Regel bei Spritzgießmaschinen ein eigenes in der
Spritzgießmaschine eingebautes System, das mit einem Leitrechner außerhalb
der Maschine verbunden sein kann. So ist das auch in dem Ausführungsbeispiel
nach Figur 1 der Patentschrift. Im nun beanspruchten Fall ist das aber anders: Die
Steuerung ist ein Softwareprozess, der auf dem Rechner 16 abläuft. Das ist in Fi-
gur 2 der Patentschrift dargestellt und in Absatz 0023 beschrieben. Ob der Rech-
ner 16 dabei in die Maschine eingebaut oder außerhalb der Maschine angeordnet
ist, bleibt offen. Der Anspruch 1 ist auch nicht auf eine vollständige Integration von
Steuerung und Rechner beschränkt. Das wäre auch gar nicht ohne Weiteres reali-
sierbar, denn Teile der Steuerung, wie die Sensoren, Aktoren, Wandler und Leis-
tungsverstärker befinden sich regelmäßig außerhalb des Rechners.
Der Ausdruck "Quasiparallel" wird in dem in Absatz 0023 aufgezeigten Zusam-
menhang vom Fachmann als die nahezu gleichzeitige Aktivität zweier Betriebssys-
teme auf einem Rechner verstanden. Eine streng gleichzeitige Abarbeitung der
Rechenschritte zweier Betriebssysteme auf einem Prozessor ist nicht möglich. Die
von der Patentinhaberin dazu skizzierte wechselweise Aktivierung der beiden Be-
triebssysteme in kurzen Intervallen mit Vorrang des Echtzeitsystems erscheint
zwar grundsätzlich möglich, ist aber in der Patentschrift nicht offenbart. Der Fach-
mann muss deshalb fundierte Kenntnisse in der Erstellung und Arbeitsweise von
Betriebssystemen haben, die es ihm ermöglichen ein echtzeitfähiges und ein nicht
echtzeitfähiges Betriebssystem zeitgleich "quasiparallel" auf dem gleichen Rech-
ner zu betreiben, wie es nun beansprucht ist.
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Wenn die Steuerung auf dem Rechner läuft, werden die Istwerte nach Merkmal b),
c) und c1) innerhalb des Rechners übertragen. Diese Merkmale haben nach Über-
zeugung des Senats deshalb insoweit keine technische Bedeutung mehr. Tech-
nisch wäre es zwar möglich den Betriebssystemen getrennte Speicherbereiche
zuzuordnen, und dann die Werte von einem Speicherbereich in den anderen zu
übertragen, aber dazu ist nichts offenbart.
4. Ob der Anspruch 1 unzulässig erweitert ist (§ 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG), wie die
Einsprechende II behauptet, kann dahinstehen, da das dort beanspruchte Verfah-
ren nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 4
PatG).
Die Firmenschriften "Arburg AQS: Online-Überwachung und Dokumentation der
Produktqualität", beziehungsweise "Arburg Quality Control AQC: Effiziente Pro-
zessoptimierung, automatische Prozessüberwachung" der Arburg GmbH und Co.
tragen den Druckvermerk "52035_de_022000 Änderungen vorbehalten" bezie-
hungsweise "AQC0397.TI D 04/98 Änderungen vorbehalten". Dem entnimmt der
Senat die Druckdaten Februar 2000 und April 1998. Der Senat hat die Originale
der Druckschriften in Augenschein genommen und sich davon überzeugt, dass es
sich um Firmenprospekte handelt, wie sie nach Art und Aufmachung regelmäßig
zur baldigen Verteilung vorgesehen sind. Der Senat hat keinen Zweifel daran,
dass dies auch geschehen ist, wie von der Einsprechenden I vorgetragen und von
der Patentinhaberin nicht bestritten wurde.
Die Firmenschrift "Arburg AQS: Online-Überwachung und Dokumentation der Pro-
duktqualität" beschreibt ein auf einem handelsüblichen PC unter Windows
®
lauffä-
higes Programmmodul mit dem Namen AQS zur Online-Überwachung einer
Spritzgießmaschine (Überschrift und 1. Absatz auf der 2. Seite sowie Kapitel
"Technische Daten Rechner Hardware" und "Betriebssysteme" auf der letzten Sei-
te). Es werden bis zu acht ausgewählte, qualitätsrelevante Produktions- und
Spritzparameter zyklisch über die Maschinensteuerung erfasst, dem PC über ei-
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nen V.24 Maschinenanschluss übergeben und entsprechend vordefinierter Prüf-
plankriterien aufbereitet (S. 2, Sp. 1, Abs. 4., Sp. 3, Z. 11 bis 15, S. 3, re. Sp.,
Z. 15 bis 32).
Damit ist mit den Worten des Anspruchs 1 bekannt ein:
1.
"Betriebsverfahren für eine Steuerung (Maschinensteuerung)
eines Spritzgießprozesses und einen Rechner (PC),
a) wobei von der Steuerung Istwerte des Spritzgießprozesses er-
fasst
b) und an den Rechner (über den V. 24 Maschinenanschluss)
übermittelt werden,
c)
wobei die Istwerte vom Rechner (PC) unter einem
c1) nicht echtzeitfähigen Betriebssystem (Windows
®
) entgegen
genommen werden.
Im Unterschied zum Verfahren nach dem geltenden Anspruch 1, Merkmal d) ist
dort die Maschinensteuerung ein vom Rechner (PC) getrenntes, der Maschine zu-
gehöriges System.
Die Firmenschrift "Arburg Quality Control AQC: effiziente Prozessoptimierung, au-
tomatische Prozessüberwachung" beschreibt ein weiteres Modul ACQ des glei-
chen Qualitätsüberwachungssystems, das auch zusammen mit dem Modul AQS
und einem Leitrechner ALS eingesetzt werden kann (le. S., re. Sp., Abs. 1). Dort
wird auch ausgeführt das dieses Modul mit reduziertem Funktionsumfang auch an
Maschinen mit SELOGICA Maschinensteuerung eingesetzt und mit diesem teilin-
tegriert werden kann (letzte Seite, Kapitel "Kombinationsmöglichkeiten").
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Nach Überzeugung des Senats ist das für den Fachmann Anlass, die Teilintegra-
tion der ähnlichen Komponente AQS mit der Steuerung ebenfalls zu realisieren.
Die Kenntnisse des Fachmanns zur Realisierung eines quasiparallelen Betriebs
der beiden Systeme sind hier ebenso wie bei dem patentgemäßen Verfahren zu
unterstellen (siehe Punkt 3 dieses Beschlusses).
Damit kommt der Fachmann ohne erfinderische Tätigkeit, ausgehend von einem
Programmmodul AQS mit den Merkmalen a bis c1, zu einem Betriebsverfahren
bei dem nach Merkmal:
d) "die Steuerung (SELOGICA) als Softwareprozess ausgebildet
ist, der vom Rechner (Steuerrechner oder PC, auf dem die
teilintegrierten Module AQS und SELOGICA laufen) unter ei-
nem echtzeitfähigen Betriebssystem (für die Steuerung be-
triebsnotwendig) quasiparallel zum Entgegennehmen der Ist-
werte (T, p, n, v) ausgeführt wird."
Der geltende Anspruch 1 ist damit nicht patentfähig; ebenso die auf ihn rückbezo-
genen Ansprüche 2 bis 7. Das angegriffene Patent war deshalb zu widerrufen
(§ 21 Abs. 1, Nr. 1 PatG).
Bertl
Kirschneck
Dr. Kaminski
Dr. Scholz
Pü