Urteil des BPatG vom 13.05.2003

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BPatG 253
9.72
BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
1 Ni 1/02 (EU)
(Aktenzeichen)
URTEIL
Verkündet am
13. Mai 2003
In der Patentnichtigkeitssache
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betreffend das europäische Patent 0 513 854
(deutsches Patent 35 88 030)
hat der 1. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts aufgrund der
mündlichen Verhandlung vom 13. Mai 2003 durch den Präsidenten
Dr. Landfermann sowie die Richter Dr.-Ing. Barton, Dipl.-Ing. Dr. Pösentrup,
Dipl.-Phys. Dr. Frowein und Rauch
für Recht erkannt:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des
jeweils zu vollstreckendes Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 31. Oktober 1985 angemeldeten,
als Teilanmeldung aus der europäischen Patentanmeldung mit dem veröffentlich-
ten Aktenzeichen EP 0 221 215 entstandenen europäischen Patents 0 513 854
(Streitpatent), das unter anderem mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundes-
republik Deutschland erteilt worden ist und insoweit beim Deutschen Patent- und
Markenamt unter der Nummer 35 88 030 geführt wird.
Das in englischer Sprache veröffentlichte Streitpatent betrifft ein "Luggage case".
Es umfasst 9 Patentansprüche, die sämtlich mit der Nichtigkeitsklage angegriffen
werden. Anspruch 1 lautet in der Fassung der Offenlegungsschrift EP
0 513 854 B9:
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"A luggage case (11) comprising two shells (12, 13) moulded from
plastics material, each shell having a peripheral side wall (15, 17),
the side walls forming the front (18), back (19) and end walls (20) of
the case, the two shells (12, 13) being hinged together at the back
walls (19) and having only three latches (24, 25, 26) for relesably
fastening the edges of the shells together when the case (11) is
closed, two latches (24, 25) being located at the front of the end
walls (20) or at the corners between the front and end walls (20) of
the case (11) and the third latch being mounted halfway along the
front wall, wherein an elastomeric strip (35) is provided along the
edge of one of the shells (12), the elastomeric strip extending
around the periphery of the shell edge and wherein, when the case
is closed,. the elastomeric strip (35) is clamped between the rims of
the two shells (12, 13) to form a seal, the latches (24, 25, 26) en-
gaging across and to the outside of the sealing strip (35) when the
latches (24, 25, 26) are fastened."
In seiner deutschen Übersetzung hat der Anspruch 1 folgenden Wortlaut:
"Reisekoffer (11), der zwei aus Kunststoff geformte Schalen (12,
13) umfasst, wobei jede Schale eine Umfangsseitenwand (15, 17)
aufweist, wobei die Seitenwände die Vorder- (18), Rück- (19) und
Stirnwände (20) des Koffers bilden, wobei die beiden Schalen (12,
13) an den Rückwänden (19) gelenkig miteinander verbunden sind
und nur drei Verschlüsse (24, 25, 26) zum lösbaren Befestigen der
Kanten der Schalen aneinander aufweisen, wenn der Koffer (11)
geschlossen ist, wobei zwei Verschlüsse (24, 25) an der
Vorderseite der Stirnwände (20) oder an den Ecken zwischen der
Vorderwand und den Stirnwänden (20) des Koffers angeordnet sind
und der dritte Verschluss an der Vorderwand in der Mitte
angebracht ist, wobei ein Elastomerstreifen (35) an der Kante einer
der Schalen (12) vorhanden ist, wobei sich der Elastomerstreifen
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um den Umfang der Schalenkante herum erstreckt, und wobei,
wenn der Koffer geschlossen ist, der Elastomerstreifen (35)
zwischen den Rändern der beiden Schalen (12, 13) eingeklemmt ist
und eine Dichtung bildet, wobei die Verschlüsse (24, 25, 26) über
dem Dichtungsstreifen (35) und außerhalb desselben anliegen,
wenn die Verschlüsse (24, 25, 26) verriegelt sind."
Die Klägerin macht geltend, der Gegenstand dieses Anspruchs sei durch den
Stand der Technik nahegelegt. Sie stützt sich dabei auf die Druckschriften:
D3 US-Patentschrift 3 967 708
D4 Deutsches Gebrauchsmuster 83 27 697 U1
D5 Französische Patentschrift 1 368 150
D6 Fanzösische Offenlegungsschrift 2 455 552
D7 Französische Offenlegungsschrift 2 526 401 und
D8 Britische Patentschrift 1 544 080.
Im Laufe des Rechtsstreits hat die Klägerin das Streitpatent des weiteren unter
dem Gesichtspunkt der unzulässigen Erweiterung angegriffen.
Die Klägerin beantragt,
das europäische Patent 0 513 854 mit Wirkung für das Hoheitsge-
biet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie widerspricht der Klageänderung, tritt dem Klagevorbringen insgesamt entge-
gen und hält den Gegenstand des Streitpatents für patentfähig.
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Wegen Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt ihrer Schrift-
sätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, mit der die Nichtigkeitsgründe der unzulässigen Erweiterung (Art II § 6
Abs 1 Nr 3 IntPatÜG, Art 138 Abs 1 lit c EPÜ) und der fehlenden Patentfähigkeit
(Art II § 6 Abs 1 Nr 1 IntPatÜG, Art 138 Abs 1 lit a EPÜ,) geltend gemacht werden,
ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
I.
Der angegriffene Anspruch 1 betrifft einen Reisekoffer, der in aufgegliederter Form
folgende Merkmale aufweist:
1 Reisekoffer
(11),
1.1
der zwei aus Kunststoff geformte Schalen (12, 13) umfaßt,
1.2
wobei jede Schale eine Umfangsseitenwand (15, 17) aufweist,
1.3 wobei
die
Seitenwände
die Vorder- (18), Rück- (19) und Stirnwände (20)
des Koffers bilden,
1.4
wobei die beiden Schalen (12, 13) an den Rückwänden (19) gelenkig
miteinander verbunden sind
1.5
und nur drei Verschlüsse (24, 25, 26) zum lösbaren Befestigen der Kan-
ten der Schalen aneinander aufweisen, wenn der Koffer (11) geschlos-
sen ist, wobei
- 6 -
1.5.1
zwei Verschlüsse (24, 25) an der Vorderseite der Stirnwände (20) oder
an den Ecken zwischen der Vorderwand und den Stirnwänden (20) des
Koffers angeordnet sind
1.5.2
und der dritte Verschluss an der Vorderwand in der Mitte angebracht ist;
2
wobei ein Elastomerstreifen (35) an der Kante einer der Schalen (12)
vorhanden ist,
2.1
wobei sich der Elastomerstreifen um den Umfang der Schalenkante
herum erstreckt, und wobei, wenn der Koffer geschlossen ist,
2.2
der Elastomerstreifen (35) zwischen den Rändern der beiden Schalen
(12, 13) eingeklemmt ist und
2.3 eine
Dichtung
bildet,
wobei die Verschlüsse (24, 25, 26) über dem Dich-
tungsstreifen (35) und außerhalb desselben anliegen, wenn die Ver-
schlüsse (24, 25, 26) verriegelt sind.
II.
Einschlägiger Fachmann für die Beurteilung des angegriffenen Gegenstandes ist
ein Techniker, zB ein Dipl.-Ing.(FH) der Fachrichtung Maschinenbau, mit Erfah-
rungen in Kunststoffverarbeitung und in der Entwicklung von Reisekoffern.
III.
Der Senat sieht die Klageänderung als sachdienlich an, weil durch die Befassung
mit dem nachgeschobenen Nichtigkeitsgrund der mangelnden ursprünglichen
Offenbarung, ein darauf gestützter neuerlicher Angriff vermieden werden kann (§
263 ZPO; vgl Busse / Keukenschrijver, PatG 5.Aufl, § 83 Rn 7). Er kommt zu dem
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Ergebnis, dass der Anspruch 1 als ursprünglich offenbart anzuerkennen ist.
Die Klägerin sieht eine unzulässige Erweiterung darin, dass im vorausgegangenen
Einspruchs-Beschwerdeverfahren in den dort aufrechterhaltenen Anspruch 1 im
Merkmal 1.5 aufgenommen wurde (wird nachfolgend unterstrichen), dass die
Schalen "...nur drei Verschlüsse zum lösbaren Befestigen der Kanten der Schalen
aneinander aufweisen, wenn der Koffer geschlossen ist,...". Diese Einfügung stellt
jedoch keine unzulässige Erweiterung, sondern eine zulässige Beschränkung auf
eine der ursprünglich offenbarten Ausführungsformen dar (vgl dazu die Offenle-
gungsschrift EP 0 221 215 A1, Anlage D9 der Klägerin, Sp 2 Z 4-6, Sp 3 Z 29-31
und 47-50, Sp 8 Z 5-22 sowie Fig 1 und 3).
IV.
Der mit Anspruch 1 beanspruchte Reisekoffer ist patentfähig.
1. Er ist unbestritten gewerblich anwendbar und auch neu.
Die Druckschriften D5 FR-PS 1 368 150, D6 FR-OS 2 455 552 und D7 FR-OS
2 526 401 betreffen schon keine Reisekoffer (Merkmal 1), sondern abgedichtete
Container. Außerdem lehren sie auch nicht die hier beanspruchte Anzahl und An-
ordnung von Verschlüssen (Merkmale 1.5 bis 1.5.2). Im Stand der Technik nach
der DE 83 27 697 U1 (D4) und der D8 GB-PS 1 544 080 sind ebenfalls die Merk-
male 1.5 bis 1.5.2 nicht verwirklicht und dem Koffer nach der D3 US 3 967 708
fehlt unter anderem ein Elastomerstreifen gemäß den Merkmalen 2 bis 2.3.
2. Nach dem Vorbringen der Klägerin zum Stand der Technik und dem Ergebnis
der mündlichen Verhandlung konnte der Senat nicht die Überzeugung erlangen,
dass ein Koffer nach der Lehre des Patentanspruchs 1 ohne erfinderische Tätig-
keit aufzufinden war.
- 8 -
In der Streitpatentschrift EP 0 513 854 B2 (D1) wird in Spalte 1 Absatz 2 als
Problem geschildert, dass herkömmliche, ohne Metallrahmen (dh kostengünstig)
hergestellte Reisekoffer mit zwei Verschlüssen an der Vorderwand bei Belastung
an den Stirnkanten auseinander klaffen und keine Abdichtung der Schalen gegen
Schmutz und Wasser gewährleisten. Die aus diesem Problem resultierende Auf-
gabe werde mit dem Reisekoffer nach dem Patentanspruch 1 gelöst (vgl D1 Sp 1
Abs 5 und 6).
Von besonderer Bedeutung ist hierbei die patentgemäße Anordnung von nur drei
Verschlüssen (Merkmal 1.5), wobei je einer der Verschlüsse an der Vorderseite
der Stirnwände oder an den Ecken zwischen der Vorderwand und den Stirnwän-
den des Koffers angeordnet ist (Merkmal 1.5.1) und der dritte Verschluss an der
Vorderwand in der Mitte angebracht ist (Merkmal 1.5.2).
a) Als nächstkommender Stand der Technik kann mit der Klägerin von der DE
83 27 697 U1 (D4), der zugleich jüngsten im Verfahren befindlichen Entgegenhal-
tung, ausgegangen werden, bei der ein Fachmann die Merkmale 1 bis 1.4 sowie 2
bis 2.2 verwirklicht sieht.
Wie die Klägerin zutreffend eingeräumt hat, liegen dort die Verschlüsse (in Figur 1
ist nur ein Verschluss-Riegel 6 in dem teilweise aufgebrochen dargestellten Rand
4 dargestellt) nicht über und außerhalb des Dichtungsstreifens an (Merkmal 2.3),
wenn die Verschlüsse verriegelt sind, sondern zumindest teilweise unter bzw.
hinter dem Dichtungsstreifen. Weil Teile des Schlosses hinter der Dichtung liegen
und somit uU Feuchtigkeit nach innen gelangen kann, bedürfte es bei dieser Kon-
struktion einer zusätzlichen Abdichtung.
Eine Anregung für die besondere Anordnung der drei Verschlüsse, gemäß der
Merkmalsgruppe 1.5, vermag diese Druckschrift ersichtlich nicht zu geben. Eine
derartige Anordnung lag auch nicht im Bereich üblichen fachmännischen Han-
delns.
- 9 -
b) Der Senat ist auch nicht davon überzeugt worden, dass die US 3 967 708 (D3)
dem Fachmann die entscheidenden Hinweise gegeben hätte. Es ist schon nicht
sicher, ob der Fachmann auf der Suche nach Anregungen zur Problem-Lösung
bei einem üblichen Schalenkoffer diese Druckschrift überhaupt in Betracht gezo-
gen hätte. Bei dem dort gezeigten und beschriebenen Koffer handelt es sich näm-
lich ganz offensichtlich um einen sehr speziellen Kofferaufbau, der insbesondere
für den Transport von langen Kleidungsstücken konzipiert wurde (Sp 1 Z 18-23).
Wie die Figuren zeigen, ist bei dieser speziellen Kofferkonstruktion die Deckel-
schale einstückig zusammen mit der Rückwand ausgebildet, in die auch Stand-
füße (vgl Fig 1 und 3) integriert sind. Die Problematik des Auseinanderklaffens an
den Stirnkanten sowie einer wirksamen Abdichtung der Schalen wird in der Schrift
nicht angesprochen.
Selbst wenn man jedoch davon ausgeht, dass der hier zuständige Fachmann die
US 3 967 708 (D3) in Betracht gezogen hätte, dann käme er bei einer Zusammen-
schau dieses Standes der Technik mit einem üblichen Schalenkoffer, wie er zB
aus der oben diskutierten Entgegenhaltung D4 bekannt ist, noch nicht zum Ge-
genstand des Anspruchs 1 nach dem Streitpatent. Wenn er nämlich aus der US-
Patentschrift D3 gezielt nur die hier beanspruchte Positionierung der drei Schlös-
ser entnehmen würde, so müsste er auch noch andere Verschlüsse, als sie aus
den Druckschriften D3 oder D4 bekannt waren, verwenden, um zu dem Merkmal
2.3 zu gelangen. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass dieser weitere Schritt
für den Fachmann nahe lag.
c) Zu keinem anderen Ergebnis kommt man bei einer Übertragung der aus der US
3 967 708 (D3) bekannten Positionierung von drei Schlössern auf den aus der GB-
PS 1 544 080 (D8) bekannten Schalenkoffer.
Schon für eine Zusammenschau fehlen dem Fachmann, der einen üblichen
Schalenkoffer - wie er zB aus D4 bekannt ist – hinsichtlich Stabilität und Abdich-
tung verbessern wollte, in diesen Schriften jegliche Anregungen. In der US
3 967 708(D3) ist weder die Problematik der Stabilität, noch die der Abdichtung
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angesprochen. Aus dieser Schrift ergibt sich auch kein Hinweis darauf, dass die
besondere Anordnung von nur drei Schlössern zu einer Verbesserung der Stabili-
tät oder der Abdichtung beitragen könnte.
Wenn zu Gunsten der Klägerin angenommen würde, der Fachmann hätte trotz-
dem die in der US 3 967 708(D3) gezeigte Anordnung der drei Schlösser über-
nommen, dann hätte er sich jedoch von den dort eingesetzten Verschlüssen tren-
nen und statt dessen die Verschlüsse (nicht aber deren Positionierung) aus der
GB-PS 1 544 080 (D8) übernehmen müssen. Allerdings wäre er dann immer noch
nicht beim Gegenstand des angefochtenen Patentanspruchs 1. Denn weder in der
US 3 967 708(D3) noch in der GB-PS 1 544 080 (D8) werden Elastomer-Dicht-
streifen eingesetzt, die sich um den Umfang einer der Schalenkanten herum
erstrecken (Merkmale 2 und 2.1). Die Anbringung eines derartigen Dichtstreifens
wäre bei dem sehr speziellen Schalenaufbau des aus der US 3 967 708(D3) be-
kannten Koffers nicht ohne weiteres möglich, und auch die Konstruktion der
Schalenränder gemäß der GB-PS 1 544 080 (D8) lässt (vgl dazu Fig 2 und 3) kei-
nen Raum für die Anbringung eines Elastomerstreifens. Dort werden die gegen-
einander stehenden Schalenränder 8,9 und ein dahinter angeordneter Verstär-
kungsstreifen 12 in einer bevorzugten Ausführungsform (vgl Anspruch 9) vielmehr
mit einem metallischen U-Streifen versteift. Damit führt diese Zusammenschau
nicht zum angefochtenen Gegenstand.
Die Entgegenhaltungen FR-PS 1 368 150 (D5), FR-OS 2 455 552 (D6) und FR-
OS 2 526 401(D7) liegen weiter entfernt. Ein weiteres Eingehen darauf erübrigt
sich. Die Klägerin hat sie in der mündlichen Verhandlung auch nicht noch einmal
aufgegriffen.
Somit hat der Patentanspruch 1 Bestand.
c) Die ebenfalls angegriffenen Patentansprüche 2 bis 8 betreffen Ausgestaltungen
des Reisekoffers nach dem Patentanspruch 1. Sie haben mit diesem Bestand.
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V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 ZPO. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs 1 PatG iVm
§ 709 ZPO.
Dr. Landfermann
Dr. Barton
Dr. Frowein Dr.
Pösentrup
Rauch
Pr