Urteil des BPatG vom 20.10.2009
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BPatG 154
08.05
BUNDESPATENTGERICHT
12 W (pat) 301/08
_______________
(Aktenzeichen)
Verkündet am
20. Oktober 2009
…
B E S C H L U S S
In der Einspruchssache
betreffend das Patent 39 02 059
…
- 2 -
…
hat der 12. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf
die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 2009 unter Mitwirkung des
Vorsitzenden Richters Dr.-Ing. Ipfelkofer, der Richterin Prietzel-Funk sowie der
Richter Dipl.-Ing. Sandkämper und Dr.-Ing. Krüger
beschlossen:
Das Patent 39 02 059 wird für die Vergangenheit widerrufen.
G r ü n d e
I
Gegen das am 25. Januar 1989 angemeldete und am 26. August 2004 ver-
öffentlichte Patent 39 02 059 mit der Bezeichnung
„Bewegungstherapie-System mit einer Kurbel“
hat die Einsprechende am 25. November 2004 Einspruch erhoben.
Die Einsprechende führt aus, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber
dem Stand der Technik E1 nicht neu sei und verweist dazu auf die folgenden
Druckschriften:
E1:
Popp, Matthias H.: Design and construction of a laboratory system for
neuromuscular stimulation of the lower extremities during cycling.
M.Sc. Thesis, University of Cape Town, August 1986.
- 3 -
E2:
Pons, Dirk et al: Cycling device powered by the electrically stimulated
muscles of paraplegies. Medical & Biological Engineering & Computing,
January 1989, Seite 1 bis 7.
Sie beantragt,
das angegriffene Patent vollständig zu widerrufen.
Der ordnungsgemäß geladene Patentinhaber hat - wie schriftlich angekündigt -
den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht wahrgenommen. Er beantragt mit
am 6. Oktober 2009 eingegangenen Schriftsatz,
das Patent für die Vergangenheit in unveränderter Form
aufrechtzuerhalten,
hilfsweise das Patent mit dem als Anlage zum o. g. Schriftsatz
beigefügten Anspruchssatz in beschränkter Form für die
Vergangenheit aufrechtzuerhalten.
Das Patent umfasst 12 Ansprüche.
Der erteilte Anspruch 1 lautet:
1. Bewegungstherapie-System mit wenigstens einer drehbar
gelagerten Kurbel mit zwei Kurbelarmen, die mit Armen oder
Beinen verbindbar ist und mittels eines Motors für eine konti-
nuierliche rotatorische Bewegung angetrieben werden kann, da-
durch gekennzeichnet, dass eine Einrichtung zur Erfassung des
Drehmoments an der Kurbel (7) über den Strom am Motor (4) in
elektronisch verwertbarer digitaler Form vorgesehen ist.
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Die erteilten Ansprüche 2 bis 12 sind direkt oder indirekt auf den erteilten An-
spruch 1 rückbezogen.
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet:
1. Bewegungstherapie-System mit wenigstens einer drehbar
gelagerten Kurbel mit zwei Kurbelarmen, die mit Armen oder
Beinen verbindbar ist und mittels eines Motors für eine konti-
nuierliche rotatorische Bewegung angetrieben werden kann, da-
durch gekennzeichnet, dass eine Einrichtung zur Erfassung des
Drehmoments an der Kurbel (7) über den Strom am Motor (4) in
elektronisch verwertbarer digitaler Form vorgesehen ist,
und dass an der Zentraleinheit eine Schnittstelle zum Anschluss
eines Elektro-Muskelstimulators vorgesehen ist.
Diesem schließen sich die erteilten Ansprüche 2 bis 11 in unveränderter Form an.
Wegen des Wortlauts der Unteransprüche und weiterer Einzelheiten wird auf den
Akteninhalt verwiesen.
II
1) Der Einspruch ist zulässig und führt zum Widerruf des Patents.
Das Verfahren war auch nach Ablauf der Schutzdauer des Patents fortzusetzen,
da die Einsprechende ein Rechtsschutzbedürfnis geltend gemacht, und der
Patentinhaber auf Anfrage mitgeteilt hat, dass er keine Erklärung über einen
Verzicht auf Ansprüche für die Vergangenheit abgeben werde.
- 5 -
2) Der erteilte Anspruch 1 lässt sich wie folgt gliedern:
Bewegungstherapie-System
A
mit wenigstens einer drehbar gelagerten Kurbel
A.1
mit zwei Kurbelarmen,
A.2
die mit Armen oder Beinen verbindbar ist
A.3
und mittels eines Motors angetrieben werden kann,
A.3.1
(eines Motors) für eine kontinuierliche rotatorische Be-
wegung,
dadurch gekennzeichnet, dass
B
vorgesehen ist: eine Einrichtung zur Erfassung des Drehmoments an
der Kurbel (7)
B.1
über den Strom am Motor (4)
B.2
in elektronisch verwertbarer digitaler Form.
3) Der hier angesprochene Fachmann besitzt einen Hochschulabschluss im Be-
reich der Medizintechnik und verfügt somit auch über die erforderlichen Kennt-
nisse auf dem Gebiet der Elektrotechnik.
4) Zum Verständnis des erteilten Anspruchs 1
Nach dem Oberbegriff des erteilten Anspruchs 1 weist das Bewegungstherapie-
System wenigstens eine drehbar gelagerte Kurbel mit zwei Kurbelarmen auf,
Merkmale A, A.1. Dieser Formulierung entnimmt der Fachmann, dass die Kurbel
in Art einer Fahrradtretkurbel zwei Kurbelarme und ein diese zwei Kurbelarme
verbindendes Wellenstück umfasst. Die Kurbel soll mit Armen oder Beinen ver-
bindbar sein, Merkmal A.2.
Der Motor, Merkmal A.3, ist aufgrund des im kennzeichnenden Teil, Merkmal B.1,
erwähnten Stroms ein Elektromotor.
- 6 -
Gemäß dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 ist eine Einrichtung vor-
gesehen, die dazu geeignet ist, das Drehmoment an der Kurbel (7) über den
Strom am Motor (4) in elektronisch verwertbarer digitaler Form zu erfassen. In der
Beschreibung des Patents ist dazu angegeben, dass bei einem als Gleich-
strommaschine ausgeführten Motor der Ankerstrom dem Drehmoment propor-
tional ist.
Der Fachmann entnimmt daher dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1, dass
die vorgesehene Einrichtung geeignet sein muss, den Ankerstrom des Motors zu
erfassen und in einen elektronisch verwertbaren digitalen Wert umzuwandeln, und
dass die Einrichtung außerdem geeignet sein muss, aus diesem Wert unter
Berücksichtigung des für den konkret verwendeten Gleichstrommotor gegebenen
Zusammenhangs zwischen Ankerstrom und Drehmoment das Drehmoment am
Motor zu ermitteln und weiter unter Berücksichtung des Übersetzungsverhält-
nisses zwischen Motor und Kurbel das Drehmoment an der Kurbel zu ermitteln.
5) Die erteilten Ansprüche sind zulässig.
Die Gegenstände der erteilten Ansprüche gehen nicht über den Inhalt der An-
meldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus:
Die Merkmale A, A.2 und A.3 des erteilten Anspruchs 1 ergeben sich aus dem
ursprünglich eingereichten Anspruch 1.
Merkmal A.1 („mit zwei Kurbelarmen“) ist der Figur in Verbindung mit den in der
Beschreibung, Seite 4, zweiter Absatz, in Mehrzahl genannten „Fußhalterungen 9“
und
Merkmal A.3.1 („für eine kontinuierliche rotatorische Bewegung“) der Figur in
Verbindung mit dem im ersten Absatz der Beschreibung verwendeten Begriff
„Drehzahl“ der Kurbel zu entnehmen.
Die Merkmale B und B.2 ergeben sich aus dem ursprünglich eingereichten
Anspruch 2.
Merkmal B.1 (Drehmomenterfassung „über den Strom am Motor“) ist in der
Beschreibung, Seite 4, letzter Absatz offenbart.
- 7 -
Die erteilten Ansprüche 2 bis 12 entsprechen bis auf die Streichung des Merk-
mals B im Anspruch 2 inhaltlich den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 2
bis 12.
6) Zur öffentlichen Zugänglichkeit und damit Berücksichtigungsfähigkeit der Ent-
gegenhaltung E1
Bei der E1 handelt es sich um eine - einer Diplomarbeit vergleichbare - Thesis zur
Erlangung des Abschlusses „Master of Science“ der University of Cape Town aus
dem Jahr 1986.
Diese Arbeit wird in der bereits am 21. Juni 1988 in endgültiger Form zur
Veröffentlichung in „Medical & Biological Engineering & Computing“ eingereichten
E2 zitiert. Es ist davon auszugehen, dass die E1 spätestens zu diesem Zeitpunkt
der Öffentlichkeit zugänglich war, denn es gehört zu den allgemein anerkannten
Regeln wissenschaftlichen Veröffentlichens, dass zitierte Quellen öffentlich zu-
gänglich sind, wenn nichts anderes angegeben ist.
Im Übrigen ist die öffentliche Zugänglichkeit der E1 auch vom Patentinhaber nicht
bestritten worden.
7) Es kann dahingestellt bleiben, ob der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1
neu ist, da er zumindest nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht:
Die E1 zeigt und beschreibt ein Bewegungstherapie-Gerät (vgl. Titel: „Design and
construction of al laboratory system for neuromuscular stimulation of the lower
extremities during cycling“). Wie der Fig. 4.1 auf Seite 42 zu entnehmen ist,
handelt es sich um ein fahrradähnliches Gerät mit einer drehbaren Kurbel mit zwei
Kurbelarmen, die mit den Beinen verbindbar ist (Merkmal A bis A2). Diese Figur
zeigt auch den Antrieb der Kurbel mittels eines Motors für eine kontinuierliche
rotatorische Bewegung (Merkmal A3 und A3.1).
- 8 -
Die E1 offenbart auch, dass gemäß den Merkmalen B.1 und B.2 des kenn-
zeichnenden Teils des erteilten Anspruchs 1 eine Einrichtung zur Erfassung des
Stroms am Motor (Seite 46, Punkt 2) in elektronisch verwertbarer digitaler Form
vorgesehen ist (Seite 46, Punkt 2 und Fig. 4.1 auf Seite 42, links, „A/D
CONVERTER“).
Nicht ausdrücklich erwähnt ist in der E1 das Merkmal B des erteilten Anspruchs 1,
wonach über den Strom am Motor die Erfassung des Drehmoments an der Kurbel
vorgesehen ist.
Jedoch ist in E1 als Motor ein Gleichstrommotor vorgesehen (Seite 46, Punkt 4),
der über ein Getriebe die Kurbel antreibt (Seite 63, Abschnitt 4.2.6, erster Absatz).
Es gehört in diesem Zusammenhang zum Fachwissen des Fachmanns, dass bei
einem Gleichstrommotor eine feste Beziehung zwischen Motorstrom und Motor-
drehmoment besteht und dass weiter entsprechend dem Übersetzungsverhältnis
des Getriebes eine Proportionalität zwischen Motordrehmoment und Drehmoment
an der Kurbel besteht.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Fachmann in E1 nicht ohne Weiteres als
selbstverständlich mitliest, dass über den Motorstrom auch das Motordrehmoment
und das Drehmoment an der Kurbel ermittelt werden soll.
Denn im ersten Absatz des Abschnitts 4.2.6 auf Seite 63 der E1 ist angegeben,
dass der Motor die Kurbel antreiben soll, um die Beine des Patienten passiv zu
bewegen oder auch eine variable Belastung bei verschiedenen Kurbelstellungen
aufzubringen, und dass diese Vorgänge durch den „MOTOR CONTROLLER“
geregelt werden sollen.
Bei einer passiven Bewegung eines Patienten muss zwangsläufig eine Über-
lastung der Muskel, Bänder oder Gelenke verhindert werden.
Der Fachmann, der sich mit dem Gegenstand der E1 eingehend auseinandersetzt,
um diesen nacharbeiten zu können, wird dadurch dazu angeregt, sich darüber
- 9 -
Gedanken zu machen, wie aufgrund der gemäß E1, Fig. 4.1, erfassten Werte die
Belastung der Beine des Patienten ermittelt werden kann.
Er stellt dabei aufgrund der Offenbarung der E1 in Verbindung mit seinem
Fachwissen fest, dass bei dem gemäß E1 verwendeten Gleichstrommotor über
den Motorstrom auch das Motordrehmoment und weiter über die Getriebe-
übersetzung auch das Drehmoment an der Kurbel ermittelt werden kann und
gelangt so ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des erteilten Anspruchs 1.
8) Zum Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag
Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag ist gegenüber dem erteilten Anspruch 1 um
das Merkmal des ursprünglichen und erteilten Anspruchs 12 ergänzt, dass „an der
Zentraleinheit eine Schnittstelle zum Anschluss eines Elektro-Muskelstimulators
vorgesehen ist.“
Dieser Anspruch 12 ist lediglich auf den ursprünglichen und erteilten Anspruch 3
rückbezogen, in dem die Zentraleinheit eingeführt und definiert wird.
Es kann aber dahingestellt bleiben, ob der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag zulässig
ist, denn das in den Anspruch aufgenommene zusätzliche Merkmal ist nicht
geeignet, die Beurteilung, dass der Gegenstand des Patents nicht auf einer
erfinderischen Tätigkeit beruht, im Ergebnis zu beeinflussen. Es ergibt sich näm-
lich vollständig bereits aus dem nächstkommenden Stand der Technik nach der
Druckschrift E1. So ist auch dort ein Elektro-Muskelstimulator (Stimulation
waveform generator) an eine als PC ausgeführte Zentraleinheit angeschlossen
(vgl. Fig. 4.1 und Seite 46, Abschnitt 1).
Auch der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag beruht somit nicht auf
erfinderischer Tätigkeit.
Der Anspruch 1 des Hilfsantrags hat deshalb ebenfalls keinen Bestand.
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Mit den verteidigten Patentansprüchen 1 gemäß Haupt- und Hilfsantrag fallen
auch die rückbezogenen Ansprüche, da über einen Antrag auf Aufrechterhaltung
des Patents nur als Ganzes entschieden werden kann (BGH, GRUR 1997, 120 -
Elektrisches Speicherheizgerät).
Dr. Ipfelkofer
Prietzel-Funk
Sandkämper
Dr. Krüger
Me