Urteil des BPatG vom 16.10.2007

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BUNDESPATENTGERICHT
6 W (pat) 302/03
_______________
(Aktenzeichen)
Verkündet am
16. Oktober 2007
B E S C H L U S S
In der Einspruchssache
betreffend das Patent 100 46 415
BPatG 154
08.05
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hat der 6. Senat (Technischer Beschwerdesenat) aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 16. Oktober 2007 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters
Dr.-Ing.
Lischke und der Richter Guth, Dipl.-Ing. Hildebrandt und Dipl.-Ing.
Ganzenmüller
beschlossen:
Das Patent 100 46 415 wird widerrufen.
G r ü n d e
I.
Gegen das Patent 100 46 415, dessen Erteilung am 14. August 2002 veröffentlicht
wurde, ist am 12. November 2002 Einspruch erhoben worden.
Der Einspruch stützt sich auf die Widerrufsgründe der unzulässigen Erweiterung
und der fehlenden Patentfähigkeit des Patentgegenstandes und bezieht sich
hierzu u. a. auf die vorveröffentlichten Druckschriften DE 487 877 C und die
DE 38 05 963 A1.
Die Einsprechende stellte den Antrag,
das angegriffene Patent zu widerrufen.
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Die nicht zu der mündlichen Verhandlung erschienene Patentinhaberin stellte
schriftsätzlich die Anträge,
das angegriffene Patent in vollem Umfang aufrecht zu erhalten
(Hauptantrag),
hilfsweise das angegriffene Patent mit den am 15. Oktober 2007
eingegangenen Unterlagen gemäß Hilfsantrag 1,
weiter hilfsweise mit den am 15. Oktober 2007 eingegangenen
Unterlagen gemäß Hilfsantrag 2 beschränkt aufrecht zu erhalten.
Ferner bezweifelt sie die Zulässigkeit des Einspruchs, da dieser nicht das Erfor-
dernis der Schriftform gem. § 59 (1) Satz 2 PatG erfülle. Es fehle nämlich auf dem
der Patentinhaberin übersandten Duplikat die Unterschrift des Einsprechenden
bzw. dessen Vertreters.
Im Übrigen führt sie aus, weshalb der Gegenstand des geltenden Patentan-
spruchs 1 laut Haupt- bzw. Hilfsanträgen gegenüber dem aufgezeigten Stand der
Technik neu sei und auch auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Das Patent betrifft nach dem Wortlaut des erteilten Patentanspruchs 1 gemäß
Hauptantrag eine
Rillenschienen-Weichenvorrichtung (1) für Rillenschienengleise,
mit wenigstens einer Backenschiene (4) und wenigstens einer
Zungenschiene (5),
dadurch gekennzeichnet, dass
die Backenschiene (4) aus einer Vignolschiene an sich hergestellt
ist.
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Nach dem Wortlaut des geltenden Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 betrifft
das Patent eine
Rillenschienen-Weichenvorrichtung (1) für Rillenschienengleise,
mit wenigstens einer Backenschiene (4) und wenigstens einer
Zungenschiene (5),
dadurch gekennzeichnet, dass
die Backenschiene (4) aus einer Vignolschiene hergestellt ist.
Nach dem Wortlaut des geltenden Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 2 betrifft
das Patent eine
Rillenschienen-Weichenvorrichtung (1) für Rillenschienengleise,
mit wenigstens einer Backenschiene (4) und wenigstens einer
Zungenschiene (5),
dadurch gekennzeichnet, dass
die Backenschiene (4) aus einer Vignolschiene hergestellt ist,
dass am Backenschienenkopf (6) zungenschienenseitig eine Ein-
lassung
(X) und eine Unterschlagung
(7) für die Zungen-
schiene (5) vorgesehen sind, dass die Einlassung (X) größer
3 mm ist und dass eine Neigung der Unterschlagung (7) von etwa
1 : 3 vorgesehen ist.
An den jeweiligen Hauptanspruch schließen sich rückbezogene Unteransprüche
an, zu deren Wortlaut sowie zu weiteren Einzelheiten auf den Akteninhalt verwie-
sen wird.
Nach der in Abs. [0005] der Patentschrift angegebenen Aufgabe soll mit dem Pa-
tentgegenstand eine einfache und kostengünstige Rillenschienen-Weichenvor-
richtung zur Verfügung gestellt werden, die relativ selten einer Bearbeitung oder
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eines Austauschs der Zungenschiene bedarf und die Fahrsicherheit beim Überfah-
ren der Weiche gewährleistet.
II.
1.
Das Bundespatentgericht ist für die Entscheidung über den vorliegenden Ein-
spruch nach § 147 Abs. 3 PatG in der bis zum 30. Juni 2006 geltenden Fassung
zuständig geworden, weil der Einspruch im in dieser Vorschrift genannten Zeit-
raum beim Deutschen Patent- und Markenamt eingegangen ist. Gegen die Zu-
ständigkeit des Bundespatentgerichts für das Einspruchsverfahren nach dieser
Vorschrift bestehen weder unter dem Aspekt der Rechtsweggarantie (Art. 19
Abs. 4 GG) noch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1
GG) verfassungsrechtliche Bedenken (vgl. BGH X ZB 9/06 v. 17. April 2007 - In-
formationsübermittlungsverfahren I).
Das Bundespatentgericht ist auch nach der ab 1. Juli 2006 in Kraft getretenen
Fassung des § 147 Abs. 3 PatG gemäß dem Grundsatz der perpetuatio fori, der
u. a. in § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO seine gesetzliche Ausprägung gefunden hat, zu-
ständig geblieben (vgl. hierzu auch 23 W (pat) 327/04; 23 W (pat) 313/03;
19 W (pat) 344/04; BGH X ZB 6/05 v. 27. Juni 2007 Seite 6 - Informationsüber-
mittlungsverfahren II).
2. Der form- und fristgerecht erhobene Einspruch ist substantiiert auf Widerrufs-
gründe gem. § 21 PatG gegründet und daher zulässig.
Dies gilt auch für das Kriterium der Schriftform, welche von der Patentinhaberin
angezweifelt wurde, da das in der Akte befindliche Original des Einspruchsschrift-
satzes ordnungsgemäß vom Vertreter der Einsprechenden unterzeichnet ist.
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Der Einspruch ist auch erfolgreich, da er zum Widerruf des angegriffenen Patents
führt.
3.
Die geltenden Patentansprüche nach Haupt- und Hilfsanträgen sind zulässig.
3.1 Die Fassung des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag weicht durch die
Einfügung „an sich“ zwischen den Wörtern „Vignolschiene“ und „hergestellt“ vom
ursprünglichen Anspruchswortlaut ab.
Soweit die Einsprechende hierzu geltend macht, diese laut Patentinhaberin eine
Klarstellung bezweckende Ergänzung könne zu einer unzulässigen Erweiterung
i. S. § 21 (4) 4. PatG geführt haben und überdies auch eine „Aufweichung“ des
ursprünglich verfahrensmäßigen Charakters des Patentanspruchs hin zu einem
Verwendungsanspruch bewirken, kann dem der Senat nicht folgen.
Zum einen ist - zumindest im Kontext mit den Erläuterungen in der Beschreibung -
in beiden Anspruchsfassungen eindeutig klar, was mit dem kennzeichnenden
Merkmal gemeint ist, nämlich die Anweisung, die Backenschiene der in Rede ste-
henden Weiche unter Anpassung an die Erfordernisse der mit ihr zusammenwir-
kenden Zungenschiene aus (dem Profil) einer Vignolschiene herzustellen, so dass
die erfolgte Änderung sachlich ohne Auswirkung auf die beanspruchte Lehre
bleibt. Insbesondere liegt damit keine unzulässige Änderung i. S. einer Erweite-
rung des Patentgegenstandes oder der Schaffung eines aliud vor.
Zum anderen ist es hinsichtlich der Anspruchskategorie unerheblich, ob der Zu-
satz „an sich“ möglicherweise eher eine Verwendung impliziert. Im Vordergrund
steht durch den gegenständlich formulierten Oberbegriff jedenfalls die gegen-
ständlich ausgebildete Weiche, wobei der ggf. eine verfahrens- oder verwen-
dungsmäßige Anweisung umfassende Begriff „hergestellt“ für den Fachmann eine
räumlich-gegenständliche Entsprechung bei der fertigen Backenschiene erkennen
lässt.
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3.2 Die Fassung des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 ist - bei ansonsten
identischem Merkmalsumfang - durch Weglassung der in Rede stehenden Einfü-
gung „an sich“ wieder auf die Ursprungsfassung zurückgeführt. Dies sieht der Se-
nat als zulässig an, da, wie oben zum Hauptantrag ausgeführt, weder eine Erwei-
terung beseitigt noch wiederum ein aliud geschaffen wurde sondern lediglich eine
den Begriff „hergestellt“ verdeutlichende Angabe weggelassen wurde, welche zum
Verständnis der beanspruchten Lehre nicht zwingend erforderlich ist (vgl. Schulte,
PatG, 7. Aufl., § 21 Rn. 114).
3.3 Entsprechendes gilt für die Zulässigkeit des Patentanspruchs 1 gemäß
Hilfsantrag 2, soweit es den mit dem Hilfsantrag 1 übereinstimmenden Merkmals-
umfang betrifft.
Im Übrigen beruht der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 unbestritten auf ei-
ner einschränkenden Zusammenfassung der erteilten Patentansprüche 1 bis 4,
deren Gegenstände auch ursprungsoffenbart sind.
4. Der Gegenstand des Patentanspruch 1 ist weder nach Hauptantrag noch
nach Hilfsantrag 1 oder 2 patentfähig.
4.1 Zum
Hauptantrag
Der zweifellos gewerblich anwendbare Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach
Hauptantrag ist gegenüber dem aufgezeigten Stand der Technik zwar neu, da
keine der hierzu vorgelegten Entgegenhaltungen dessen sämtliche Merkmale
aufweist. Er beruht jedoch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Die DE 487 877 C zeigt ausweislich des dortigen Patentanspruchs 1 und gestützt
durch Beschreibung (vgl. insbes. Seite 1, Spalte 1, erster Absatz) und Zeichnung
eine Rillenschienen-Weichenvorrichtung für Rillenschienengleise nach dem Ober-
begriff des angegriffenen Patentanspruchs
1, nämlich mit wenigstens einer
Backenschiene und wenigstens einer Zungenschiene. Dabei weist die Backen-
schiene, wie in Fig. 5 und 6 dargestellt, ein Vignol-Profil auf, welches im Bereich
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der Anlage der Weichenzunge entsprechend ausgeformt ist. Zur Herstellung die-
ses Vignol-Profils vermittelt die DE 487 877 C die Lehre, hierfür ein spezielles
Ausgangsprofil zu verwenden, aus dessen Querschnitt „durch Ausarbeiten von
Laschenkammern od. dgl. auf der einen oder anderen Seite sowohl das Profil ei-
ner normalen Rillenschiene als auch das einer gleich hohen Vignolschiene gebil-
det werden kann“. Der Fachmann, hier ein Konstrukteur mit langjähriger Erfahrung
im Weichenbau, erhält somit aus dieser Druckschrift bereits den Hinweis auf die
Möglichkeit, die Backenschiene einer Rillenschienen-Weichenvorrichtung aus ei-
nem Ausgangsprofil herzustellen, welches durch geeignetes Bearbeiten zu unter-
schiedlichen Querschnittsformen geformt werden kann, so dass zum Fertigen ei-
ner Weiche nicht mehrere spezielle Schienenprofile beschafft werden müssen.
Vom Offenbarungsgehalt der DE 487 877 C unterscheidet sich der Gegenstand
des erteilten Patentanspruchs 1 daher lediglich in dem Merkmal, dass als Aus-
gangsprofil zur Herstellung der Weiche eine Vignolschiene (an sich) Verwendung
findet.
Wenn sich der Fachmann, ausgehend von der Lehre der DE 487 877 C, im ein-
schlägigen Stand der Technik nach einer weiteren Rationalisierungsmöglichkeit
i. S. einer kostengünstigen Materialbeschaffung umsieht, so findet er in der DE
38 05 963 A1 eine Weiche beschrieben, bei welcher die Backenschiene aus einer
Vignolschiene besteht (vgl. dort u. a. Spalte 1, erster Absatz). Diese ist, wie in Fig.
1 und 2 dargestellt, in ihrem Querschnitt durch Wegnehmen von Material so ge-
formt, dass die in diesem Bereich zur Anlage kommende Weichenzunge sich in
der gewünschten Weise an die Backenschiene anschmiegen kann. Dies vermittelt
dem Fachmann unmittelbar die Anregung, die Backenschiene einer Weiche aus
einer Vignolschiene herzustellen. Es lag für ihn deshalb nahe, diese Maßnahme
bei einer Rillenschienen-Weichenvorrichtung, wie sie aus der DE 487 877 C be-
kannt ist, anzuwenden, zumal dort bereits die Herstellung einer Backenschiene
aus einem universellen Ausgangsprofil beschrieben ist.
Der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag ist somit nicht bestandsfähig.
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4.2 Zu Hilfsantrag 1
Wie oben zur Frage der Zulässigkeit ausgeführt, unterscheidet sich der Gegen-
stand des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 sachlich nicht von dem nach
dem Hauptantrag. Die Beurteilung der Patentfähigkeit führt daher zu demselben
Ergebnis wie zum Hauptantrag begründet. Auch der Gegenstand des Patentan-
spruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 beruht demnach nicht auf einer erfinderischen Tä-
tigkeit.
Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ist daher nicht gewährbar.
4.3 Zu Hilfsantrag 2
Gemäß Hilfsantrag 2 umfasst der Patentanspruch 1 zusätzlich zu den Merkmalen
nach Hilfsantrag 1 noch die Angaben,
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dass am Backenschienenkopf zungenschienenseitig eine Einlassung und eine
Unterschlagung für die Zungenschiene vorgesehen sind,
-
dass die Einlassung größer 3 mm ist und
-
dass eine Neigung der Unterschlagung von etwa 1 : 3 vorgesehen ist.
Auch diese Merkmale sind nach Auffassung des Senats nicht geeignet, eine erfin-
derische Tätigkeit zu begründen. So sind zungenschienenseitige Einlassungen
und Unterschlagungen fachnotorische Mittel im Weichenbau, um ein sicheres An-
liegen der Weichenzunge an die Backenschiene zu gewährleisten. Im Übrigen
zeigt auch die zum Hauptantrag abgehandelte DE 487 877 C in den Fig. 5 und 6
jeweils eine Backenschiene mit Einlassung (wo die rechte Flanke des Schienen-
kopfs ersichtlich gegenüber dem ursprünglich symmetrischen Profil abgeschnitten
ist) und Unterschlagung (Abschrägung der rechten Flanke des Schienenkopfs).
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Die konkreten Angaben für die Einlassung „größer 3 mm“ und die Neigung der
Unterschlagung „etwa 1 : 3“ stellen reine Bemessungsangaben dar, die der Fach-
mann in Anpassung an die jeweils gegebenen Umstände im Rahmen seines
Fachwissens trifft, ohne hierzu erfinderisch tätig zu werden. Jedenfalls sind diese
Wertebereiche an keiner Stelle der Streitpatentschrift als besonders vorteilhaft und
damit ggf. die Erfindung entscheidend tragend hervorgehoben. Vielmehr dürften
sie sich im Bereich des Üblichen im Weichenbau bewegen, wie sich zumindest
tendenziell auch den Ausführungsbeispielen in den Entgegenhaltungen DE
487 877 C (Fig. 5 und 6) und DE 38 05 963 A1 (Fig. 1) entnehmen lässt.
Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 ist daher ebenfalls nicht gewährbar.
5. Schon von der Antragslage her haben mit dem jeweils nicht bestandsfähigen
bzw. gewährbaren Hauptanspruch auch die jeweiligen Unteransprüche keinen
Bestand.
Dr. Lischke
Guth
Hildebrandt
Ganzenmüller
Cl