Urteil des BPatG vom 07.03.2007

BPatG: stand der technik, patentanspruch, einspruch, neuheit, gestaltung, patentfähigkeit, vorbenutzung, auflage, gehalt, unterteilung

BUNDESPATENTGERICHT
9 W (pat) 341/04
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(Aktenzeichen)
Verkündet am
7. März 2007
B E S C H L U S S
In der Einspruchssache
betreffend das Patent 195 15 393
BPatG 154
08.05
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hat der 9. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf
die mündliche Verhandlung vom 7. März 2007 unter Mitwirkung …
beschlossen:
Das Patent wird widerrufen.
G r ü n d e
I.
Gegen das am 26. April 1995 angemeldete und am 15. Januar 2004 veröffentlich-
te Patent mit der Bezeichnung
„Bedruckstoffführende Oberflächenstruktur, vorzugsweise
für Druckmaschinenzylinder oder deren Aufzüge“
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ist von der A… AG und der B… AG Ein-
spruch erhoben worden.
Die Einsprechenden meinen, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht so deut-
lich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann ihn ausführen könne.
Außerdem mangele es dem Gegenstand des Streitpatents gegenüber dem Stand
der Technik an der Neuheit, zumindest jedoch an der erfinderischen Tätigkeit. Sie
verweisen dazu auf folgenden druckschriftlichen Stand der Technik:
- DE 42 07 119 A1
- Grainger, St. „Funktionelle Beschichtungen in Konstruktion und An-
wendung“, Eugen G.
Leuze Verlag, 1. Auflage 1994, Seiten
148-150 (nachfolgend bezeichnet mit „Fachliteratur“).
Schriftsätzlich hatten die Einsprechenden noch weiteren druckschriftlichen Stand
der Technik genannt sowie eine offenkundige Vorbenutzung (Einsprechende 2)
geltend gemacht.
Die Einsprechenden stellen den Antrag,
das Patent zu widerrufen.
Die Patentinhaberin stellt den Antrag,
das Patent aufrechtzuerhalten,
hilfsweise, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt auf-
rechtzuerhalten:
- Patentansprüche 1 bis 8, eingegangen als 3. Hilfsantrag am
1. März 2007,
- Beschreibung und Zeichnungen gemäß Patentschrift.
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Sie ist der Meinung, der Gegenstand des Streitpatents sei hinreichend deutlich
und vollständig offenbart und gegenüber dem in Betracht gezogenen Stand der
Technik patentfähig.
Der Patentanspruch 1 nach dem Hauptantrag (erteilte Fassung) lautet:
Diesem Patentanspruch schließen sich die rückbezogenen Patentansprüche 2
bis 9 in der erteilten Fassung an.
Der Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag enthält außer den im Patentan-
spruch 1 nach dem Hauptantrag genannten Merkmalen noch das zusätzliche
Merkmal,
Dem Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag sind die Unteransprüche 2 bis 8
nachgeordnet.
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II.
1. Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch PatG a. F. § 147 Abs. 3
Satz 1 begründet.
2. Die Einsprüche sind zulässig.
Dies gilt unbestritten für den Einspruch der Einsprechenden I. Der Senat erachtet
auch den Einspruch der Einsprechenden II für zulässig, denn der schriftlich erklär-
te Einspruch ist auf einen der in § 21 PatG genannten Widerrufsgründe, hier: man-
gelnde Patentfähigkeit nach den §§ 1 bis 5 PatG, gestützt. Zur diesbezüglichen
Streitfrage der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit ist innerhalb der Ein-
spruchsfrist druckschriftlicher Stand der Technik genannt und substantiiert darge-
legt worden, worin die mangelnde Patentfähigkeit aus Sicht der Einsprechenden II
besteht. Deshalb ist der Einspruch der Einsprechenden II ausreichend begründet
im Sinne des § 59 Abs. 1 PatG. Ob die zusätzlich von der Einsprechenden II gel-
tend gemachte Vorbenutzung hinreichend substantiiert ist, kann dahinstehen.
Der Einspruch hat Erfolg durch den Widerruf des Patents.
3. Einer Entscheidung über die Ausführbarkeit des Gegenstands des jeweiligen
Patentanspruchs 1 nach Haupt- bzw. Hilfsantrag sowie über die Zulässigkeit die-
ser Patentansprüche 1 bedarf es nicht, da diese wie nachstehend ausgeführt
schon mangels Neuheit ihrer Gegenstände gegenüber dem Stand der Technik kei-
nen Bestand haben können.
Als Durchschnittsfachmann nimmt der Senat einen Fachhochschul-Ingenieur der
Fachrichtung Maschinenbau an, der bei einem Druckmaschinenhersteller/-zuliefe-
rer mit der Konstruktion und Herstellung/Fertigung von bogenführenden Druckma-
schinenzylindern - insbesondere für Schön- und Widerdruckmaschinen - befasst
ist und auf diesem Gebiet über mehrjährige Berufserfahrung verfügt. Ein solcher
Fachmann hat besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der Oberflächentechnik,
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weil die Beschaffenheit der bedruckstoffführenden Oberflächen derartiger Zylinder
wesentliches Kriterium im Hinblick auf Rutschsicherheit und Farbablageverhalten
und damit auf einwandfreie Funktion ist.
3.1 Hauptantrag
Zur Erleichterung von Bezugnahmen ist der Gegenstand des erteilten Patentan-
spruchs 1 nachstehend in einer Merkmalsgliederung wiedergegeben:
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Aus der DE 42 07 119 A1 ist ein bo-
genführendes Druckzylindermantel-
profil bekannt, das vorzugsweise im
Schön- und Widerdruck Anwendung
findet (DE 42 07 119 A1, Spalte 1,
Zeilen 3-6). Die bedruckstoffführende
Oberflächenstruktur des Druckzylindermantelprofils ist mit erhabenen Strukturele-
menten (Erhebungen 4) und zugeordneten Strukturtälern versehen (vgl. obenste-
hende Figur 2 der DE 42 07 119 A1). Die Strukturelemente sind gleichmäßig sta-
tistisch verteilt (Anspruch 1, Zeilen 7-11), wobei der Bedruckstoff sich auf den
Strukturelementen abstützt (Spalte 2, Zeilen 51-54). Die Oberflächenstruktur be-
steht aus einer Chromschicht (Spalte 2, Zeilen 39, 40). Die Strukturelemente sind
auf einem Substrat angeordnet (Spalte 1, Zeilen 66-68, Anspruch 3) und weisen
Tragflächen (Deckfläche 5) auf.
Die vorbekannte Oberflächenstruktur weist demnach - unstreitig - die o. g. Merk-
male 1 bis 6.1 und 7, 8 auf.
Auch die Gestaltung der Tragflächen im Sinne der Merkmale 9-11 ist bei der vor-
bekannten Oberflächenstruktur verwirklicht. Hartchromschichten der streitpatent-
gemäßen Art weisen nämlich herstellungsbedingt „von Hause aus“ eine gewisse
Rissigkeit auf (vgl. Fachliteratur). Erzeugt werden derartige Hartchromschichten
durch elektrolytische Beschichtung (Galvanisieren). Dabei entstehen bei Schichten
der hier in Betracht kommenden Dicke (150 μm) ohne besonderes Zutun
Schrumpf-Risse, die schon als solche eine Vielzahl von Vertiefungen im Sinne des
Streitpatents bilden (Merkmal 9). Diese Risse befinden sich dabei nicht etwa nur
im oberflächennahen Bereich des Überzuges, sondern vielmehr auch in dessen
Innerem. Selbst wenn diese bei dem Beschichtungsprozess entstandenen Risse
für sich noch kein unregelmäßiges Netzwerk bilden, sondern möglicherweise nur
einzeln und ohne sich zu schneiden verlaufen sollten, entsteht das streitpatentge-
mäße Netzwerk jedenfalls dann, wenn der in der DE 42 07 119 A1 angegebene
Schleifvorgang durchgeführt wird (Spalte 2, Zeilen 44-47). Denn durch diesen ent-
stehen Vertiefungen in der Größe der für den gewählten Schleifvorgang typischen
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Rautiefe, welche Vertiefungen die zu ihnen nicht parallel verlaufenden Schrumpf-
Risse zwangsläufig schneiden, dadurch miteinander verbinden und dabei auch
Spalten und Furchen bilden (Merkmal 10). Das so entstandene Netzwerk unterteilt
dann die Tragflächen in eine Vielzahl kleiner Flächen mit dem zwangsläufig auftre-
tenden Effekt der Reduzierung der strukturelementbezogenen Adhäsionskraft der
Druckfarbe (Merkmal 11). Die in der DE 42 07 119 A1 nicht ausdrücklich erwähnte
Gestaltung der Tragflächen der vorbekannten Oberflächenstruktur nach den Merk-
malen 9-11 ist somit durch den für eine Hartchromschicht üblichen Herstellungs-
prozess und die Schleifbearbeitung zur Rundlauf-Erhöhung „automatisch“ vorge-
geben.
In der vorbekannten „Chrombeschichtung“ gemäß der DE 42 07 119 A1 (Spalte 2,
Zeilen 39, 40) sieht der Fachmann unmittelbar eine „Chrom enthaltende Beschich-
tung“ im Sinne des Merkmals 6.2 gemäß obenstehender Merkmalsgliederung.
Denn bei den ihm aus seinem Fachwissen bekannten Chrombeschichtungen (vgl.
Fachliteratur) treten Schrumpf-Risse nicht nur bei einem Chrom-Gehalt von 100 %
oder einem anderen speziellen diskreten Wert auf, sondern in mehr oder weniger
großer Anzahl über einen ganzen Bereich des Chrom-Gehaltes.
Im Ergebnis ist somit die mit Patentanspruch 1 beanspruchte Oberflächenstruktur
mit allen ihren Merkmalen aus der DE 42 07 119 A1 entnehmbar.
Demgegenüber vertrat die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung die
Auffassung, dass Vertiefungen in Form von Spalten, Furchen und Rissen auf den
Tragflächen in der DE 42 07 119 A1 nicht offenbart seien. Erst recht könne dieser
Druckschrift nicht die Bildung eines unregelmäßigen Netzwerkes aus diesen Ver-
tiefungen entnommen werden. Durch den Schleifvorgang (Spalte 2, Zeilen 44-47)
würde vielmehr eine Struktur mit ausgeprägter Richtungsorientierung, nicht jedoch
ein unregelmäßiges Netzwerk entstehen.
Der Senat vermag dieser Auffassung nicht zu folgen. Die in der DE 42 07 119 A1
zwar tatsächlich nicht explizit erwähnte unregelmäßige Netzwerkstruktur mit Un-
terteilung der Tragflächen in eine Vielzahl kleiner Flächen ist nämlich - wie oben-
stehend erläutert - durch den Herstellungs- und Bearbeitungsprozess der vorbe-
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kannten Beschichtung in dieser immanent enthalten. Der Fachmann, zu dessen
Alltagsarbeit die gründliche Auseinandersetzung mit der Herstellung von Oberflä-
chenstrukturen bogenführender Druckmaschinenzylinder gehört, erkennt dies
nach Überzeugung des Senats ohne weiteres. Bei fachgerechter Würdigung der
DE 42 07 119 A1 entnimmt der Fachmann daraus auch die besagte Netzwerk-
struktur.
Mit dem Patentanspruch 1 fallen die auf ihn rückbezogenen Unteransprüche 2
bis 9.
3.2 Hilfsantrag
Soweit die Oberflächenstruktur nach dem Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag mit
der gemäß Hauptantrag übereinstimmt, wird auf die diesbezüglichen Ausführun-
gen zum Hauptantrag verwiesen (Abschnitt 3.1).
Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag fügt der Oberflächenstruktur nach dem Pa-
tentanspruch 1 gemäß Hauptantrag folgendes Merkmal hinzu:
12.
Der Größenunterschied der Vertiefungen ist nach Auffassung des Senats bei dem
Druckzylindermantelprofil nach der DE 42 07 119 A1 ebenfalls gegeben und auch
- entgegen der Auffassung der Patentinhaberin - für den Fachmann aus dieser
Druckschrift klar erkennbar. Denn die bei der Schleifbearbeitung der Oberfläche
entstehenden „Riefen“ sind größer als die sehr feinen Schrumpf-Risse (Haarrisse)
der Chromschicht. Besagte Riefen können nur auf den Tragflächen der Struktur-
elemente - zusammen mit Schrumpf-Rissen der Beschichtung - und nicht in den
Strukturtälern vorliegen. Denn die Strukturtäler werden vom Schleifvorgang nicht
erfasst.
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Entweder wird die Strukturierung der Oberfläche vor dem Schleifen vorgenom-
men. Dabei kann das Schleifwerkzeug in die Strukturtäler nicht eindringen und die
Oberfläche im „Talgrund“ auch nicht bearbeiten. Oder die Strukturierung wird nach
dem Schleifen vorgenommen. Dann werden die vom vorhergehenden Schleifvor-
gang zwar erfassten, an der Position eines Strukturtales liegenden Schichtberei-
che durch den Strukturierungsprozess aber entfernt. In beiden Fällen liegen in den
Tälern nur die Schrumpfrisse vor, die beim Strukturieren der Oberfläche freigelegt
werden. Denn Schrumpfrisse befinden sich, wie oben ausgeführt, nicht nur an der
Oberfläche der Schicht, sondern auch in deren Innerem.
Daraus folgt, dass die auf den Strukturelementen vorliegenden Vertiefungen, die
auch solche Schrumpfrisse enthalten, die durch den Schleifvorgang erweitert sind,
größer sind als die Vertiefungen in den Strukturtälern. Das für den Hilfsantrag zu-
sätzliche Merkmal 12 ist somit der vorbekannten Oberflächenstruktur in dem Fach-
mann bewusster Weise ebenfalls zu eigen. Demnach ist auch die Oberflächen-
struktur nach diesem Patentanspruch 1 gegenüber dem Stand der Technik nach
der DE 42 07 119 A1 nicht neu.
Mit dem Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag fallen die Unteransprüche 2 bis 8.
gez.
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