Urteil des BGH vom 22.11.2007

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 280/06
Verkündet
am:
22. November 2007
K i e f e r
Justizangestellter
als
Urkundsbeamter
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 839 Ca, Fm; ZPO § 286 C
a) Zu den Pflichten eines Entwässerungsverbands, bei einem abseh-
baren längerfristigen Ausfall von Entwässerungseinrichtungen Er-
satz- und Vorsorgemaßnahmen zu treffen.
b) Es besteht kein Anscheinsbeweis dahin, dass die Überschwem-
mung des Grundstücks eines Verbandsmitglieds auf das Abschal-
ten eines Schöpfwerks zurückzuführen ist, wenn Vorkehrungen für
eine anderweitige Ableitung des Niederschlagswassers getroffen
waren.
BGH, Urteil vom 22. November 2007 - III ZR 280/06 - OLG Oldenburg
LG Aurich
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. November 2007 durch den Vorsitzenden Richter Schlick, die Richter
Dr. Kapsa, Dörr und Dr. Herrmann sowie die Richterin Harsdorf-Gebhardt
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 6. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 6. Oktober 2006 aufge-
hoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der klagende Landwirt bewirtschaftet in R. (Ostfriesland) einen
überwiegend auf Milchwirtschaft ausgerichteten landwirtschaftlichen Betrieb. Er
nimmt den beklagten Entwässerungsverband, dessen Mitglied er ist, wegen
einer Überschwemmung seiner Grundstücke im September 2001 auf Scha-
densersatz in Anspruch.
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Der Kläger ist Eigentümer von im R. H. gelegenen Flä-
chen, die sich im Einzugsbereich des Schöpfwerks M. des beklagten
Verbands befinden. Von April bis Oktober 2001 war das Schöpfwerk aufgrund
von Bauarbeiten abgeschaltet. Im September 2001 kam es zu starken Regen-
fällen, bei denen die Weiden des Klägers teilweise im Wasser standen. Der
Kläger führt dies auf einen Anstieg des Wassers im R. Tief und eine
anschließende Überschwemmung seiner Grundstücke zurück und macht we-
gen der Stilllegung des Schöpfwerks M. sowie wegen mangelnder
Vorsorgemaßnahmen den Beklagten dafür verantwortlich. Mit der Klage hat er
Ersatz seines auf 19.499,64 € berechneten Schadens und Erstattung der Kos-
ten eines zur Schadensermittlung eingeholten Privatgutachtens in Höhe von
639,16 € verlangt. Das Landgericht hat, sachverständig beraten, die Klage ab-
gewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerecht-
fertigt erklärt und den Rechtsstreit zur Entscheidung über die Höhe des An-
spruchs an das Landgericht zurückverwiesen. Mit der - vom erkennenden Senat
zugelassenen - Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag
weiter.
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Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg.
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I.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts haftet der beklagte Verband auf
Schadensersatz, weil er seine dem Kläger gegenüber als Mitglied bestehende
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Verpflichtung, die Entwässerung der Weideflächen zu gewährleisten, schuldhaft
nicht erfüllt habe (§ 839 Abs. 1 BGB). Als Gegenleistung für den entrichteten
Mitgliedsbeitrag schulde der Beklagte vor allem die Entwässerung der vom Klä-
ger landwirtschaftlich genutzten Flächen. Diese Verpflichtung habe der Beklagte
nicht erfüllt. Die Überschwemmungen seien auf ein schuldhaftes Fehlverhalten
zurückzuführen. Zwar habe das Abschalten der Anlage selbst noch keine
Pflichtverletzung dargestellt. Jedoch sei der Verband verpflichtet gewesen, für
die Zeit der Reparatur und des Ausfalls des Schöpfwerks Vorsorge zu treffen,
um die Entwässerung trotz dieser Einschränkungen sicherzustellen. Er sei in-
des auf die Betriebsbeeinträchtigungen nicht ausreichend vorbereitet gewesen.
Wie sich bereits daraus ergebe, dass es erwiesenermaßen zu Überschwem-
mungen gekommen sei, habe die Mitinanspruchnahme der Kesselschleuse
E. und der B. Schleuse nebst Handbetrieb der Stufenschöpfwerke
nicht ausgereicht, um das Wasser bei Auftreten überdurchschnittlicher Regen-
mengen von den Weiden abzuschlagen. Angesichts der Bedeutung einer funk-
tionierenden Entwässerung für die Mitglieder sei der Beklagte verpflichtet ge-
wesen, eine vorhandene Pumpe in Betrieb zu nehmen und - gegebenenfalls
darüber hinaus - zusätzliche mobile Pumpen anzumieten, um auch Spitzenbe-
lastungen bewältigen zu können.
Die Pflichtverletzung sei für den eingetretenen Schaden kausal gewesen.
Zwar sei es richtig, dass es nach dem vom Landgericht eingeholten Sachver-
ständigengutachten eine Mehrzahl möglicher Überschwemmungsursachen ge-
be, die zudem in nicht eindeutig unterscheidbarer Weise zusammengewirkt und
einander beeinflusst haben könnten. Das entlaste den Beklagten jedoch nicht,
weil auch eine Mitursächlichkeit zur Haftungsbegründung ausreiche.
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Dass aber ein Fehlverhalten auf Seiten des beklagten Verbands jedenfalls als
mitursächlich in Betracht komme, habe der gerichtliche Sachverständige bestä-
tigt. Dabei kämen dem Kläger die Grundsätze des Anscheinsbeweises zugute.
Der hierfür erforderliche typische Geschehensablauf sei darin zu sehen, dass
es gerade zu einem Zeitpunkt zu den festgestellten, im Ausmaß unüblichen
Überschwemmungen gekommen sei, in dem das Entwässerungssystem des
Beklagten teilweise lahmgelegt gewesen sei. Zwar könne der Beweis des ers-
ten Anscheins durch einen Gegenbeweis erschüttert werden. Hierzu müssten
jedoch Tatsachen, aus denen der Schluss auf die ernsthafte Möglichkeit eines
anderen als des gewöhnlichen Ablaufs abgeleitet werden solle, voll bewiesen
werden. Für derartige Tatsachen habe der beklagte Verband indessen keinen
geeigneten Beweis angetreten.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung in mehrfacher
Hinsicht nicht stand.
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1.
Zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings einen Schadensersatzan-
spruch des Klägers unter dem Blickwinkel des § 839 BGB geprüft. Es geht hier
- entgegen der Revision - nicht um eine der Allgemeinheit gegenüber obliegen-
de Pflicht des Beklagten zur Unterhaltung von Gewässern gemäß §§ 28, 29
WHG, die in Niedersachsen auch die Unterhaltung und den Betrieb von Anla-
gen zur Abführung des Wassers umfasst (§ 98 Abs. 2 Nr. 4 NWG) und deren
Verletzung der Senat in ständiger Rechtsprechung nach allgemeinem Delikts-
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recht, insbesondere § 823 Abs. 1 BGB, beurteilt (BGHZ 121, 367, 374; 125,
186, 188; Urteil vom 13. Juni 1996 - III ZR 40/95 - NJW 1996, 3208, 3209; je-
weils m.w.N.; kritisch hierzu Czychowski/Reinhardt, WHG 9. Aufl., § 28 Rn. 60;
Reinhardt, NuR 2004, 420, 427 f.), sondern um die besonderen Pflichten eines
Wasser- und Bodenverbands als Körperschaft des öffentlichen Rechts (§ 1
Wasserverbandsgesetz - WVG) gegenüber seinen Mitgliedern. Das Mitglied-
schaftsverhältnis gehört dem öffentlichen Recht an. Pflichtverletzungen des
Verbands in dieser Sonderverbindung können daher Amtshaftungsansprüche
(§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) oder Schadensersatzansprüche aus einem öf-
fentlich-rechtlichen Schuldverhältnis (vgl. Senatsurteil vom 5. März 1987 - III ZR
265/85 - VersR 1987, 768 f.; Urteil vom 8. März 2007 - III ZR 55/06 - RdL 2007,
182, 183 = NVwZ 2007, 1221) auslösen, regelmäßig aber nicht auf die allge-
meinen Bestimmungen des Deliktsrechts gestützte sonstige Ersatzansprüche.
2.
Hingegen ist die weitere Ansicht des Berufungsgerichts, als Gegenleis-
tung für den Mitgliedsbeitrag schulde der Beklagte vor allem die Entwässerung
der landwirtschaftlich genutzten Grundstücke des Klägers, der Beklagte müsse,
wie es an anderer Stelle heißt, deren Entwässerung "gewährleisten" oder "si-
cherstellen", ohne Grundlage. Der von den Verbandsmitgliedern zu entrichten-
de Beitrag besagt ersichtlich nichts über Inhalt und Umfang der den Beklagten
treffenden Pflichten, im Gegenteil sind umgekehrt die Verbandsbeiträge unter
anderem an den Vorteilen der Verbandsmitglieder oder den vom Verband für
sie erbrachten Leistungen zu bemessen (§ 28 Abs. 4 WVG). Der Pflichtenkreis
des Beklagten ergibt sich vielmehr in erster Linie aus Gesetz und Satzung.
Hierzu stellt das Berufungsgericht nichts fest. Es fehlt in dieser Beziehung auch
an entsprechendem Parteivortrag.
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Nach der im Revisionsverfahren vorgelegten Satzung des Beklagten vom
10. April 1996 hat der Verband außer dem Ausbau und der Unterhaltung von
Gewässern II. und III. Ordnung (§ 2 Nr. 1 und 7) unter anderem zur Aufgabe,
Grundstücke zu ent- und zu bewässern sowie Anlagen zur Ent- und Bewässe-
rung herzustellen, zu beschaffen, zu betreiben, zu unterhalten und zu beseiti-
gen (§ 2 Nr. 3 und 4). Für die Durchführung der Gewässerunterhaltung und des
Gewässerausbaus verweist § 4 (Unternehmen, Plan) auf beim Verband aufbe-
wahrte Verzeichnisse und Pläne. Näheres über den Pflichtenumfang des Be-
klagten bei der Entwässerung der im Verbandsgebiet gelegenen Grundstücke
sowie der weiteren Abführung des Wassers ergibt sich aus diesen Bestimmun-
gen nicht. Der bisher vorgetragene Sachverhalt lässt deswegen nur den allge-
meinen Schluss zu, dass der Beklagte die Entwässerung des Verbandsgebiets
im Rahmen des erkennbar Gebotenen und wirtschaftlich Vertretbaren so zu
planen und durchzuführen hat, wie es den anerkannten Regeln der Entwässe-
rungstechnik entspricht (vgl. Senatsurteil vom 5. März 1987 aaO S. 769). Das
schließt zwar Ersatz- und Vorsorgemaßnahmen bei einem absehbaren länger-
fristigen Ausfall von Entwässerungseinrichtungen ein, steht jedoch einer unbe-
dingten Einstandspflicht des Verbands für die umfassende Entwässerung der
Grundstücke nach Art einer Garantiehaftung, wie es in den Formulierungen des
Berufungsgerichts anklingt, entgegen. Das Berufungsgericht wird daher erfor-
derlichenfalls diesen Fragenkreis weiter aufzuklären haben. Dabei wird die
Feststellung, welche Vorsorgemaßnahmen im Streitfall nach den anerkannten
technischen Regeln zu treffen waren und ob hierfür die von dem Beklagten ge-
troffenen Vorkehrungen ausreichten, nicht ohne sachverständige Hilfe zu treffen
sein. Der Umstand allein, dass es gleichwohl zu einer Überschwemmung ge-
kommen ist, genügt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts für eine
Pflichtverletzung nicht. Schon aus diesem Grunde kann das angefochtene Urteil
nicht bestehen bleiben.
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3.
Durchgreifenden Bedenken begegnen ferner die Erwägungen des Beru-
fungsgerichts zur Kausalität eines etwaigen Pflichtenverstoßes auf Seiten des
Beklagten für den beim Kläger eingetretenen Schaden. Zu Unrecht meint das
Berufungsgericht, dem Kläger kämen die Grundsätze über den Beweis des ers-
ten Anscheins zugute.
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a) Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung
durch das Revisionsgericht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs sind die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins nur bei
typischen Geschehensabläufen anwendbar, d.h. in Fällen, in denen ein be-
stimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf
eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für
den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist (BGHZ 100, 31, 33; 160, 308,
313; BGH, Urteil vom 5. April 2006 - VIII ZR 283/05 - NJW 2006, 2262, 2263
Rn. 10). Dabei bedeutet Typizität nicht, dass die Ursächlichkeit einer bestimm-
ten Tatsache für einen bestimmten Erfolg bei allen Sachverhalten der Fallgrup-
pe notwendig immer vorhanden sein muss; sie muss aber so häufig gegeben
sein, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr
groß ist (BGHZ 160 aaO; Urteil vom 5. April 2006 aaO).
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b) Ein Wahrscheinlichkeitsurteil dieser Art ist im Streitfall schon wegen
der Seltenheit und Komplexität des Sachverhalts nicht möglich. Es gibt keinen
allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass das Abschalten eines zur Ent-
wässerung des Untergebiets betriebenen Schöpfwerks trotz Vorkehrungen für
eine anderweitige Ableitung des Niederschlagswassers bei stärkeren Regenfäl-
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len in aller Regel zu einer Überschwemmung der anliegenden Grundstücksflä-
chen führt. Dementsprechend hat der vom Landgericht beauftragte Sachver-
ständige neben zeitweise zu hohen Wasserständen im R. Tief sowie
unzureichender Vorflut zwischen einzelnen Teilflächen und den Stufenschöpf-
werken oder einem Rückstau auf denselben Teilflächen wegen zu langer Au-
ßerbetriebnahme der Stufenschöpfwerke auch eine Reihe weiterer, nicht nur
theoretisch denkbarer Ursachen genannt: unzureichende Unterhaltung der
Entwässerungsgräben auf den Teilflächen, außergewöhnlich starke Nieder-
schläge und niedrigere Geländehöhen in Abweichung von den Grundkarten.
Dass die im Ausmaß unüblichen Überschwemmungen zeitlich mit den Beein-
trächtigungen im Entwässerungssystem des Beklagten zusammenfielen, worauf
sich das Berufungsgericht stützt, begründet allenfalls einen gewissen Anhalt,
lässt aber schon deswegen den Schluss auf einen typischen Geschehensablauf
nicht zu, weil Feststellungen zu den Auswirkungen ähnlicher Fallgestaltungen
fehlen und sich auch die allgemeine Lebenserfahrung, wie ausgeführt, dafür
nicht in Anspruch nehmen lässt.
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III.
Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif. Infolgedessen ist das
Berufungsurteil aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 ZPO zur erneu-
ten tatrichterlichen Beurteilung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
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Schlick Kapsa
Dörr
Herrmann
Harsdorf-Gebhardt
Vorinstanzen:
LG Aurich, Entscheidung vom 13.07.2005 - 5 O 1445/02 -
OLG Oldenburg, Entscheidung vom 06.10.2006 - 6 U 224/05 -