Urteil des BGH vom 29.03.2017

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 346/04
Verkündet am:
13. Oktober 2005
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
HaftpflG 1978 § 2
Der Anlagenbetreiber haftet nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG Dritten für alle
(physikalischen und chemischen) Wirkungen der von einer Rohrleitungsan-
lage ausgegangenen Flüssigkeiten, auch soweit der Schaden auf der Be-
schaffenheit des Transportguts beruht (hier: Schäden durch Aushärten eines
dem Wasser beigefügten Spezialbindemittels).
BGH, Urteil vom 13. Oktober 2005 - III ZR 346/04 - OLG Dresden
LG Chemnitz
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 13. Oktober 2005 durch den Vorsitzenden Richter Schlick und die Richter
Dr. Wurm, Streck, Dr. Kapsa und Dörr
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Dresden vom 14. Juli 2004 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin, ein privatrechtlich organisiertes Abwasserentsorgungs-
unternehmen, betreibt in G. die Abwasserbeseitigung. Der beklag-
te Zweckverband versorgt die Stadt mit Brauch- und Trinkwasser.
Anfang des Jahres 2001 ließ der Beklagte auf der Grundlage einer vom
Streithelfer der Klägerin durchgeführten Planung durch einen privaten Unter-
nehmer einige von ihm nicht mehr benötigte Brauchwasserleitungen in
G. mit "Doroflow" verfüllen. Dabei handelt es sich um ein Spezialbinde-
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mittel
für Hohlraumverfüllungen. Zur Verarbeitung wird unter Zusatz von Wasser eine
Suspension hergestellt, die bei dem im Streitfall gewählten Mischungsverhält-
nis die Eigenschaft einer sehr gut fließfähigen wässrigen Lösung und eine Er-
starrungszeit von über 47 Stunden aufwies. Im Zuge der Verdämmungsmaß-
nahmen drang über eine Verbindung der Leitungen eine nicht unerhebliche
Menge der Flüssigkeit auch in das Kanalnetz der Klägerin ein. Der Beklagte
ließ daraufhin Reinigungsarbeiten vornehmen. Die Kosten der von ihr nach-
träglich durchgeführten weiteren Reinigungs- und Erneuerungsmaßnahmen
sowie weiter notwendig werdender Aufwendungen in behaupteter Höhe von
insgesamt 174.266,82 € verlangt die Klägerin von dem Beklagten erstattet.
Das Landgericht hat der Klage in diesem Umfang stattgegeben, das
Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Mit der - vom erkennenden Senat zuge-
lassenen - Revision verfolgt die Klägerin ihre Ersatzansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Klägerin stünden schon dem
Grunde nach keine Zahlungsansprüche zu. Ein Anspruch aus § 2 Abs. 1 HPflG
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(Wirkungshaftung) bestehe nicht. Zwar unterfielen die Rohrleitungen sowohl
des Beklagten als auch der Klägerin dem Anlagenbegriff. Es fehle jedoch an
einem Zusammenhang zwischen der typischen Funktion der Anlage, nämlich
dem konzentrierten Transport von Wasser, und dem eingetretenen Schaden.
Nach herrschender Meinung scheide mangels Zusammenhangs mit dem
Transport oder der Abgabe von Wasser eine Haftung aus, wenn der Schaden
dadurch eintrete, dass die zu befördernden Stoffe Mängel hätten, z.B. Trink-
wasser verunreinigt oder vergiftet sei oder sich Rostteilchen aus Rohren lös-
ten. Denn hier habe zwar der Transport den Schaden mit verursacht, die ent-
scheidende Ursache liege jedoch in der Beschaffenheit des Stoffes. Anderes
könne nicht gelten, wenn der Schaden wie hier auf eine Zugabe von Flüssigbe-
ton im Wasser zurückzuführen sei.
Darüber hinaus verneint das Berufungsgericht im Einzelnen auch An-
sprüche der Klägerin aus einem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis oder
einem privatrechtlichen (Versorgungs-)Vertrag sowie Amtshaftungsansprüche,
Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff, § 831 BGB und analog § 906
Abs. 2 Satz 2 BGB. Schließlich scheide auch ein Ersatzanspruch aufgrund
öffentlich-rechtlicher oder bürgerlichrechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag
aus. Mangels Zurechenbarkeit des Verhaltens des Nebenintervenienten habe
schon keine Reinigungspflicht des Beklagten bestanden. Damit habe die Klä-
gerin möglicherweise ein Geschäft des Streithelfers, nicht aber des Beklagten
geführt.
II.
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1.
Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis schon
deshalb nicht stand, weil das Berufungsgericht eine Anlagenhaftung des Be-
klagten (§ 2 Abs. 1 HPflG) zu Unrecht verneint hat.
a) Ein Schadensersatzanspruch nach § 2 Abs. 1 HPflG setzt voraus,
dass der Schaden entweder durch die Wirkung von Flüssigkeiten entstanden
ist, die von einer Rohrleitungsanlage oder einer Anlage zur Abgabe von Flüs-
sigkeiten ausgehen (Satz 1, so genannte Wirkungshaftung), oder dass der
Schaden, ohne auf den Wirkungen der Flüssigkeit zu beruhen, auf das Vor-
handensein der Anlage zurückzuführen ist, es sei denn, dass sich diese in ord-
nungsgemäßem Zustand befand (Satz 2, so genannte Zustandshaftung). Im
vorliegenden Fall geht es allein um die Wirkungshaftung.
b) Im Ansatz zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass
der Beklagte ungeachtet dessen, dass er die in Rede stehenden Leitungsab-
schnitte - erst - durch die Verfüllung mit Doroflow endgültig stilllegen wollte (zur
Außerbetriebnahme von Anlagen vgl. Filthaut, HPflG, 6. Aufl. 2003, § 2 Rn. 20;
Geigel/Kunschert, Der Haftpflichtprozeß, 24. Aufl. 2004, 22. Kap. Rn. 69), auch
insoweit noch Inhaber einer Rohrleitungsanlage war. Auch der Umstand, dass
die Klägerin mit ihrem Abwasserkanalnetz gleichfalls eine Rohrleitungsanlage
betreibt (vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 109, 8, 12; 115, 141, 142; 158, 263,
265; 159, 19, 21 f.), ist hier ohne Belang, da beide Systeme äußerlich getrennt
sind und je eine eigene Anlage bilden.
c) Für die Wirkungshaftung ist nicht erforderlich, dass die betreffende
Anlage einen Defekt (etwa durch Korrosion oder Rohrbruch) aufwies. Es reicht
aus, dass sich die mit dem konzentrierten Transport von Wasser oder anderen
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Flüssigkeiten in einer Rohrleitung typischerweise verbundene besondere Be-
triebsgefahr verwirklicht hat, die den gesetzgeberischen Grund für die Einfüh-
rung der strengen Haftung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG bildete (Senatsurteile
BGHZ 109, 8, 13; 114, 380, 381; Urteil vom 13. Juni 1996 - III ZR 40/95, NJW
1996, 3208). Daran mag es zwar - was der Senat nicht zu entscheiden hat - im
Verhältnis zum Abnehmer fehlen, wenn der Schaden dadurch eintritt, dass die
beförderten Stoffe Mängel haben, z.B. Trinkwasser verunreinigt oder vergiftet
ist, oder dass sich beim Strömungsvorgang von den Innenwänden der Wasser-
rohre Rostteilchen gelöst haben und auf diese Weise zum Verbraucher gelangt
sind (so Filthaut, aaO, Rn. 24, im letzten Punkt gegen Geigel/Kunschert, aaO
Rn. 70). Ein entsprechender Grund zur Haftungseinschränkung besteht dage-
gen nicht, wenn außenstehende Dritte durch ein Austreten der beförderten
Flüssigkeit aus der Rohrleitungsanlage geschädigt werden. Dritte werden nicht
allein durch den Transport, sondern typischerweise auch durch die Art des
Transportguts gefährdet (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks.
8/108 S. 11). Der Anlagenbetreiber haftet daher ihnen gegenüber nach dem
weit gefassten Wortlaut der Norm und ihrem Schutzzweck im Grundsatz für
jede Wirkung des von der Anlage ausgehenden Stoffes, sei sie physikalischer
oder chemischer Natur. Das ist bisher - soweit ersichtlich - beispielsweise we-
der für auslaufendes Öl noch für mit Fremdstoffen verunreinigtes Abwasser in
Zweifel gezogen worden und wäre etwa bei mit Chemikalien gefüllten Leitun-
gen eines Chemieunternehmens nicht anders zu beurteilen. Das von Filthaut
(aaO) in diesem Zusammenhang angeführte Senatsurteil vom 17. Oktober
1985 (III ZR 99/84, NJW 1986, 2312, 2314 f.) betrifft eine für den damaligen
Schadenshergang (Fischereischäden infolge Abschwemmung von Bestandtei-
len eines Misthaufens sowie von Öl) unerhebliche kurze Verrohrung eines
Bachs und damit einen wesentlich anders gelagerten Sachverhalt. Der Scha-
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den war in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall vielmehr unabhän-
gig davon eingetreten, dass das Wasser zuvor durch eine Rohrleitung geflos-
sen war. Entsprechendes gilt für den Sachverhalt, über den der Senat durch
Urteil vom 12. September 2002 (III ZR 214/01, VersR 2002, 1555) entschieden
hat. Soweit damals der Senat eine Haftung nach § 2 Abs. 1 HPflG unter Hin-
weis auf die Beschaffenheit der in der Anlage transportierten Flüssigkeit ver-
neint hat (aaO S. 1557), hält er an dieser zu allgemein gehaltenen Aussage
nicht fest. Im Gegensatz hierzu hat in der vorliegenden Fallgestaltung der Be-
klagte selbst die Suspension, bei der es sich entgegen dem Berufungsgericht
nicht um fehlerhaftes Wasser, sondern um eine zur Verdämmung der Rohre
bestimmte andere Art von Flüssigkeit handelte, in die Rohrleitungsanlage ein-
geleitet. Auch aus anderen Gründen liegt der Schaden hier nicht außerhalb
des Schutzbereichs der Norm. Es war einer der gesetzgeberischen Gründe für
die Einbeziehung von Rohrleitungsanlagen in die Gefährdungshaftung, dass
ein solches System in seiner Ausdehnung schwer zu überwachen und ein ra-
sches Eingreifen erschwert ist (BT-Drucks. 8/108 S. 11). Gerade eine solche
Gefahr hat sich mit dem unbemerkten Übertritt der Flüssigkeit in das Rohrlei-
tungssystem der Klägerin an einer dem Beklagten unbekannten Verbindungs-
stelle hier verwirklicht.
d) Aus den genannten Gründen hat der Beklagte - vorbehaltlich eines
von ihm geltend gemachten, seitens des Berufungsgerichts nicht geprüften Mit-
verschuldens (§ 4 HPflG) - nach § 2 Abs. 1 HPflG für alle durch Verstopfungen
mit dem ausgehärteten Bindemittel Doroflow eingetretenen Schäden am Ka-
nalnetz der Klägerin einzutreten, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um unmit-
telbare oder mittelbare Schäden (Folgeschäden) handelt. Das gilt nur insoweit
nicht, als dabei beschädigte Hausanschlüsse nicht im Eigentum der Klägerin,
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sondern des jeweiligen Grundstückeigentümers stehen und es sich deswegen
um Schäden an Sachen Dritter handelt. In diesem Umfang können der Klägerin
allerdings Ansprüche aus anderen Rechtsgründen zustehen (unten Ziff. 2).
e) Die für den Schadensfall noch maßgebende (Art. 229 § 8 Abs. 1
EGBGB) Haftungsbeschränkung auf einen Höchstbetrag von 100.000 DM ge-
mäß § 10 Abs. 1 HPflG a.F. steht der Klage nicht entgegen. Diese Begrenzung
der Ersatzpflicht gilt nicht für eine Beschädigung von Grundstücken (§ 10
Abs. 3 HPflG). Hierzu zählen auch Grundstücksbestandteile, selbst wenn sie
nur zu einem vorübergehenden Zweck oder in Ausübung eines Rechts an ei-
nem fremden Grundstück mit dem Grund und Boden verbunden sind wie in der
Regel Versorgungsleitungen (Filthaut, aaO, § 10 Rn. 3). Auf die sachenrechtli-
che Trennung vom Grundstück nach § 95 Abs. 1 BGB als sogenannte Schein-
bestandteile kommt es insofern nicht an.
2.
Der Senat sieht im gegenwärtigen Stadium des Rechtsstreits keinen An-
lass, auf alle der vom Berufungsgericht darüber hinaus geprüften Anspruchs-
grundlagen einzugehen, insbesondere sich mit der Frage zu befassen, inwie-
weit dem Beklagten bei seinen grundsätzlich in den Bereich schlicht-
hoheitlicher Verwaltung fallenden Maßnahmen (vgl. Senatsurteil BGHZ 55,
229, 230) Pflichtverletzungen der von ihm beauftragten privaten Unternehmer
zuzurechnen sind. Soweit der Klägerin Aufwendungen durch die Reinigung
nicht in ihrem Eigentum stehender privater Hausanschlüsse an ihrem Kanal-
netz entstanden sind oder noch entstehen werden, kann sie dem Grunde nach
Ersatz, wenn nicht schon im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs nach
§ 426 Abs. 1 BGB, so doch jedenfalls als Geschäftsführerin ohne Auftrag ver-
langen (§§ 683, 670 BGB). Nicht anders als im Verhältnis zur Klägerin ist der
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Beklagte auch den privaten Anschlussinhabern gemäß § 2 Abs. 1 HPflG für
Schäden an deren Hausanschlussleitungen durch die aus seiner Anlage aus-
getretene und in die Abwasserkanalisation der Klägerin gelangte Suspension
ersatzpflichtig (vgl. dazu Senatsurteil BGHZ 125, 19, 25 f.). Die Klägerin hat
deswegen, selbst wenn sie zugleich ihrerseits den Grundstückseigentümern
nach derselben Vorschrift oder aus den mit diesen bestehenden Versorgungs-
verträgen zum Schadensersatz verpflichtet sein sollte, zumindest auch ein ob-
jektiv fremdes Geschäft des Beklagten in dessen Interesse geführt (§ 677
BGB). Das reicht zur Anwendung der Regeln über die Geschäftsführung ohne
Auftrag aus; der Wille, ein fremdes Geschäft mit zu besorgen, wird unter sol-
chen Umständen vermutet (st. Rspr., vgl. Senatsurteil BGHZ 143, 9, 14 f.;
BGH, Urteil vom 21. Oktober 2003 - X ZR 66/01, NJW-RR 2004, 81, 82; Urteil
vom 26. Januar 2005 - VIII ZR 66/04, NJW-RR 2005, 639, 641; jeweils m.w.N.).
III.
Das Berufungsurteil kann nach alledem nicht bestehen bleiben. Eine
eigene Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt, weil das Berufungsgericht
zu dem behaupteten Schaden keinerlei Feststellungen getroffen hat. Die darum
notwendige Zurückverweisung gibt ihm Gelegenheit, dies nachzuholen.
Schlick
Wurm
Streck
Kapsa
Dörr