Urteil des BGH vom 22.06.2009
BGH (gerichtshof für menschenrechte, sicherungsverwahrung, stgb, europäische menschenrechtskonvention, anordnung, gefährlichkeit, gesetzliche grundlage, ne bis in idem, jugendstrafrecht, intensität des grundrechtseingriffs)
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 554/09
vom
9. März 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
- 2 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. März 2010,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Sander,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
Rechtsanwältin
und Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landge-
richts Regensburg vom 22. Juni 2009 wird verworfen.
Er hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat gegen den inzwischen 32-jährigen Verurteilten
nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2
Nr. 1 JGG angeordnet. Dagegen wendet sich der Verurteilte mit seiner auf die
Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Dem Rechtsmittel bleibt der
Erfolg versagt.
1
A.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
2
I.
Der Verurteilte wurde am 29. Oktober 1999 durch das Landgericht Re-
gensburg - Jugendkammer - wegen Mordes, begangen zur Befriedigung des
Geschlechtstriebs und um eine andere Straftat zu verdecken, zu einer Jugend-
strafe von zehn Jahren verurteilt.
3
- 4 -
1. Dieser Verurteilung lag folgendes Geschehen zu Grunde:
4
5
Im Alter von 19 Jahren überfiel der Verurteilte am Abend des 9. Juni
1997 auf einem Waldweg eine 31-jährige Joggerin in der Absicht, sie zu verge-
waltigen und anschließend zu töten. Dem Angriff war ein kurzes Streitgespräch
vorangegangen, in dem die Frau mit einer Strafanzeige gedroht hatte. Sie be-
anstandete möglicherweise die Fahrweise des Verurteilten (dieser hatte mit
seinem Pkw „Reifen-Burnouts“ durchgeführt) oder die Tatsache, dass der Ver-
urteilte überhaupt den Waldweg befuhr. Der Verurteilte würgte danach sein Op-
fer mehrfach mit einem mitgeführten Bremsseil, zerrte es etwa 30 Meter in den
Wald, würgte es dann mit bloßen Händen und drückte ihm schließlich, als es
auf dem Rücken am Boden lag, einen Ast mit beiden Händen so lange gegen
den Hals, bis es sich nicht mehr bewegte. Der bereits toten oder im Sterben
liegenden Frau riss der Verurteilte die Hose auf, legte ihren Genitalbereich frei
und onanierte bis zum Samenerguss auf sie. Den Geschlechtsverkehr wollte er
in dieser Situation nicht mehr.
2. Die damals mit der Sache befasste Jugendkammer ging davon aus,
dass der Verurteilte bei der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung
noch einem Jugendlichen gleichstand, so dass gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG
Jugendstrafrecht anzuwenden war. Nach ihrer Auffassung war der Verurteilte
bei Begehung der Tat weder schuldunfähig (§ 20 StGB) noch vermindert
schuldfähig (§ 21 StGB). Allerdings stellte sie, sachverständig beraten, „gewis-
se Anhaltspunkte für den Beginn einer sexuellen Deviation“ bei „noch beste-
henden Nachreifungsmöglichkeiten“ fest. Sie gelangte zu der Überzeugung,
dass „durch längerfristige und therapeutische Einwirkung auf den (Verurteilten)
dessen potentieller Gefährlichkeit für die Zukunft entgegengewirkt werden“
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- 5 -
müsse, und verhängte deshalb das Höchstmaß der Jugendstrafe von zehn Jah-
ren.
II.
7
Die nunmehr mit der Sache befasste Kammer hat weiterhin folgende
Feststellungen getroffen:
1. Der Verurteilte verbüßte die verhängte Jugendstrafe vollständig und ist
seit 18. Juli 2008 einstweilig in der Sicherungsverwahrung untergebracht. Wäh-
rend seiner Haftzeit ist er lediglich wegen Arbeitsverweigerung dreimal diszipli-
narisch auffällig geworden. Im Stationsalltag wurde er als rasch erregbar und zu
aggressiven Ausbrüchen neigend erlebt. Gewalttätige oder tätliche Auseinan-
dersetzungen wurden jedoch nicht bekannt. Abgesehen von der Anlassverurtei-
lung ist der Verurteilte nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten.
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2. Während des Jugendstrafvollzugs erfuhr der Verurteilte eine mehrjäh-
rige sozialtherapeutische Behandlung. Dabei stand er im Spannungsfeld zwi-
schen dem behandelnden Therapeuten einerseits und dem Einfluss nehmen-
den Verteidiger sowie seiner Adoptivmutter andererseits. Letztere verhinderten
beim Verurteilten immer wieder eine Unrechtseinsicht und eine Aufarbeitung
der begangenen Tat durch Leugnen des Vorliegens einer Sexualstraftat und
durch Beschönigungen (insbesondere durch die Darstellung der Tat als „Aus-
rutscher“).
9
Nachdem deshalb keine Basis mehr für eine weitere sinnvolle Zusam-
menarbeit mit dem bisherigen Therapeuten bestand, erfolgte ein Therapeuten-
wechsel. Dafür wurde der Verurteilte in die JVA verlegt. In Erwartung
10
- 6 -
einer besseren Erreichbarkeit des psychisch erkrankten Verurteilten durch eine
Therapeutin wurde ein Behandlungsversuch mit Gruppen- und Einzelpsycho-
therapie in der sozialtherapeutischen Abteilung für Sexualstraftäter in der JVA
unternommen. Dieser Versuch wurde abgebrochen, nachdem der
Verurteilte mit den dort zur Verfügung stehenden integrativen sozialtherapeuti-
schen Mitteln nicht zu erreichen war.
3. Schon im Alter von etwa 15 Jahren traten beim Verurteilten erstmals
Gewaltfantasien auf, die er seit seinem 17. oder 18. Lebensjahr mit Selbstbe-
friedigung verband. Dabei stellte sich der Verurteilte vor, sein weibliches Opfer
durch einen Angriff gegen dessen Hals wehr- bzw. leblos zu machen, um an-
schließend darauf zu onanieren. Dadurch wollte er das Opfer einerseits seine
Macht und Dominanz spüren lassen, andererseits wollte er es demütigen und
erniedrigen. Diese Fantasien steigerten sich in den letzten drei bis vier Wochen
vor der Tat besonders intensiv, nachdem sich bei ihm infolge beruflicher und
sozialer Probleme „maximaler Druck“ aufgebaut hatte. Bei der Tat wollte der
Verurteilte seine Fantasien abladen und setzte sie entsprechend um.
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Die sexuellen Gewaltfantasien bestanden auch nach der Inhaftierung des
Verurteilten im August 1998 fort und verstärkten sich in der Untersuchungshaft
sowie zu Beginn der Strafhaft. In zeitlichem Zusammenhang mit der ersten Aus-
führung des Verurteilten im September 2004 wurden sie erneut besonders stark
ausgeprägt. Dies wurde erstmals bekannt im November 2005 im Rahmen von
Explorationen zur Erstellung von Sachverständigengutachten zur Risikoprogno-
se bei Ausgängen und Urlauben. Die Ausführungen wurden daher im Februar
2006 gestoppt. Die sexuellen Gewaltfantasien sind nach wie vor nicht überwun-
den.
12
- 7 -
4. Nach den Feststellungen der von zwei Sachverständigen beratenen
Kammer besteht bei dem Verurteilten - was bei der Entscheidung über die An-
lasstat noch anders beurteilt worden war - eine multiple Störung der Sexualprä-
ferenz (ICD-10 F65.6) mit einer sadistischen Komponente und eine emotional
instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10 F60.30). Der Ver-
urteilte hat Schwierigkeiten, Wut zu kontrollieren. Auf Kränkungen und Zurück-
weisungen reagiert er mit impulsiven Handlungen, indem er sich beispielsweise
durch zielloses Herumfahren oder „Reifen-Burnouts“ abreagiert. Er ist deshalb
psychisch krank. Dieser psychische Zustand steht tatauslösend in unmittelba-
rem Zusammenhang mit der Anlasstat.
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III.
Das Landgericht hat die Voraussetzungen für die nachträgliche Anord-
nung der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG bejaht. Insbeson-
dere hat es eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit
festgestellt und ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der Person des Verurteil-
ten, seiner Tat und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der
Jugendstrafe zu der Überzeugung gelangt, dass er mit hoher Wahrscheinlich-
keit erneut Straftaten i.S.v. § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG begehen wird. Indes erachtete
die Kammer - im Einklang mit dem Wortlaut der Vorschrift - weder das Vorlie-
gen eines Hanges noch das Vorhandensein neuer Tatsachen („Nova“) für er-
forderlich. Sie hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach § 62 StGB, die
Möglichkeit milderer Maßnahmen sowie das verfassungsmäßige Übermaßver-
bot geprüft, aber auch unter diesen Gesichtspunkten die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung für zwingend geboten erachtet.
14
- 8 -
B.
15
Der Revision des Verurteilten bleibt der Erfolg versagt. Die nachträgliche
Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2
Nr. 1 JGG hält revisionsrechtlicher Prüfung stand. Das Landgericht hat die for-
mellen (Ziffer I.) und materiellen (Ziffer II. und III.) Voraussetzungen des § 7
Abs. 2 Nr. 1 JGG zutreffend bejaht. Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht (Ziffer
IV.) ist nicht gegeben. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) ist nicht ver-
letzt (Ziffer V.).
I.
Die formellen Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG liegen vor.
Denn der Verurteilte ist wegen Mordes (§ 211 StGB) und damit wegen eines
Verbrechens gegen das Leben, durch welches das Opfer körperlich schwer ge-
schädigt wurde, verurteilt worden. Da für diese Katalogtat gegen den Verurteil-
ten eine Jugendstrafe von zehn Jahren verhängt wurde, liegt auch die weitere
formelle Voraussetzung des § 7 Abs. 2 Halbs. 1 JGG vor, wonach es sich um
eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren handeln
muss.
16
II.
Die Annahme des Landgerichts, vor Ende des Vollzugs seien Tatsachen
erkennbar gewesen, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für
die Allgemeinheit hinweisen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Zutreffend geht
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- 9 -
das Landgericht davon aus, dass es sich dabei nicht um neue Tatsachen („No-
va“) handeln muss.
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1. Der Verzicht auf die Anordnungsvoraussetzung „neue Tatsachen“ er-
gibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift „sind nach einer Verurteilung
(…) Tatsachen erkennbar“ - im Gegensatz zu § 66b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2
StGB, der fordert, dass Tatsachen nach der Anlassverurteilung erkennbar „wer-
den“. Darin hat der eindeutige Wille des Gesetzgebers seinen Niederschlag
gefunden, wonach für die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung
nach Jugendstrafrecht nicht ausnahmslos und stets erhebliche „neue“ Tatsa-
chen erforderlich sein sollen (BTDrucks. 16/6562 S. 9). Vielmehr soll die Neu-
regelung des § 7 Abs. 2 JGG auch dann anwendbar sein, wenn die wesentli-
chen die Gefährlichkeit begründenden Tatsachen bereits zum Zeitpunkt der
Anlassverurteilung erkennbar waren und im Vollzug der Jugendstrafe keine er-
heblichen „neuen“ Tatsachen hervorgetreten sind (BTDrucks. 16/6562 S. 7).
2. Dieser Verzicht ist auch im System der Anordnung von Sicherungs-
verwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht angelegt. Hier besteht
keine gesetzliche Grundlage, die ursprüngliche oder vorbehaltene Sicherungs-
verwahrung anzuordnen (vgl. § 2 JGG i.V.m. § 7 JGG). Die noch nicht abge-
schlossene Entwicklung jugendlicher Straftäter zum Zeitpunkt der Anlassverur-
teilung bietet besondere Chancen und Aussichten für eine positive Einwirkung
sowie für entsprechende positive Veränderungen der Betroffenen während des
Vollzugs der Jugendstrafe, der vorrangig dem Erziehungsgedanken dient. Des-
halb ist in diesen Fällen die Verlagerung des Entscheidungszeitpunkts über die
Sicherungsverwahrung an das Ende des Jugendstrafvollzugs zur Erhöhung der
Prognosesicherheit geboten (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 7). Dies gilt auch dann,
wenn sich bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung erhebliche Hinweise auf
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- 10 -
eine hohe künftige Gefährlichkeit eines jugendlichen Straftäters zeigen, weil
gleichwohl auch bei ihm grundsätzlich besondere Chancen für eine positive
Veränderung (auch) durch die Einwirkung des Jugendstrafvollzugs vorhanden
sind (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 9).
20
Damit können an sich beachtliche Umstände für eine Anordnung von Si-
cherungsverwahrung bei der jeweiligen Anlassverurteilung nach Jugendstraf-
recht aus rechtlichen Gründen keine Berücksichtigung finden. Der Gesetzgeber
hat in § 7 Abs. 2 JGG - ebenso wie in § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB - gezielt eine
Möglichkeit zur Neubewertung dieser Umstände geschaffen. Damit hat er dem
staatlichen Schutzauftrag Rechnung getragen, potentielle Opfer schwerster
Verbrechen auch vor höchstgefährlichen jungen Straftätern zu schützen, denen
auf andere Weise nicht mehr mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet werden
kann (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 7).
3. Das Landgericht durfte deshalb die beim Verurteilten nunmehr festge-
stellte multiple Störung der Sexualpräferenz mit sadistischer Komponente und
die emotional instabile Persönlichkeitsstörung als Tatsachen i.S.d. § 7 Abs. 2
JGG werten, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die All-
gemeinheit hinweisen. Darauf, ob dieser Zustand bereits bei der Anlassverurtei-
lung vorlag, bei der „gewisse Anhaltspunkte für den Beginn einer sexuellen De-
viation“ festgestellt wurden, kommt es mithin nicht an.
21
- 11 -
III.
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1. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht für die nach-
trägliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG die
Feststellung eines Hanges nicht für erforderlich hält.
a) § 7 Abs. 2 JGG setzt nach seinem Wortlaut das Merkmal „Hang“ nicht
voraus.
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Dies ist vom Gesetzgeber so gewollt (vgl. BTDrucks. 16/9643 S. 6). Er
hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugend-
strafrecht durch Gesetz vom 8. Juli 2008 (BGBl I 1212), in Kraft seit 12. Juli
2008, geregelt. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass der Bundesge-
richtshof für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen
Erwachsene nach § 66b Abs. 2 StGB die Feststellung eines Hanges i.S.v. § 66
Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt (vgl. dazu BGHSt 50, 373, 381; 51, 191, 199; BGH
StV 2008, 636, 637; am Hangerfordernis zweifelnd, aber nicht tragend: BGH
NJW 2006, 1446, 1447), obwohl der Wortlaut der Vorschrift dies nicht vorsieht.
Dazu sah sich der Bundesgerichtshof durch die Vorschriften über die Erledi-
gung der Maßregel (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO, § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB) ver-
anlasst, die einheitlich für das System der Sicherungsverwahrung gelten und
vom Vorliegen eines Hanges des Verurteilten zum Zeitpunkt der Anordnung der
Unterbringung ausgehen. In Kenntnis dieser Rechtsprechung hat der Gesetz-
geber - offensichtlich in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht - Kam-
mer -, Beschl. vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06 (NJW 2006, 3483, 3484) -
bei § 7 Abs. 2 JGG erneut auf das Erfordernis eines Hanges verzichtet wie in
§ 66b Abs. 2 StGB und in § 106 Abs. 5 JGG bei der nachträglichen Sicherungs-
verwahrung für nach allgemeinem Strafrecht verurteilte erwachsene und he-
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ranwachsende Ersttäter (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 13, 18 f.). Er hat § 7 Abs. 2
JGG ausdrücklich an diese Vorschriften angelehnt (BTDrucks. 16/6562 S. 8).
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Der Gesetzgeber hat die Gefährlichkeit nicht von einem Hang zu den ge-
nannten Anlasstaten abhängig gemacht. Die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG
stellt gezielt auf den davon betroffenen jungen Straftäter ab. Der Gesetzgeber
hat ausdrücklich von der ursprünglichen oder vorbehaltenen Sicherungsverwah-
rung wegen der bei jungen Straftätern regelmäßig vorhandenen Entwicklungs-
defizite sowie der damit einhergehenden Prognoseunsicherheiten, wie oben
ausgeführt, Abstand genommen. Auch für die Beurteilung zum Ende des Ju-
gendstrafvollzugs, zu dem der Verurteilte jedenfalls das 21. Lebensjahr vollen-
det hat, da er nach Eintritt der Strafmündigkeit mit 14 Jahren mindestens eine
siebenjährige Jugendstrafe verbüßen muss, wurde bewusst auf das Merkmal
„Hang“ verzichtet.
Vorliegend ist zudem die zeitliche Nähe des Erlasses dieses Gesetzes
zum Ende des Strafvollzugs des Verurteilten in dieser Sache zu berücksichti-
gen. Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus der Anlassverurteilung bis 17. Juli
2008. Das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei
Verurteilungen nach Jugendstrafrecht (BGBl I 1212) vom 8. Juli 2008 trat unmit-
telbar vorher am 12. Juli 2008 in Kraft. Diese zeitliche Nähe lässt den Schluss
zu, dass der Gesetzgeber Fallgestaltungen der vorliegenden Art bei Erlass des
Gesetzes im Blick gehabt hat und auch diese erfassen wollte. Unter den darge-
legten Umständen ist für eine Auslegung der Vorschrift durch die Rechtspre-
chung über den Wortlaut hinaus kein Raum, zumal der Katalog der Anlasstaten
hier auf schwerste Verbrechen gegen Personen beschränkt wurde. Die Gefähr-
lichkeit i.S.v. § 7 Abs. 2 JGG kann danach auch durch andere Tatsachen als
durch einen Hang zur Begehung der Anlasstaten festgestellt werden.
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- 13 -
b) Gleichwohl muss die spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten im
Hinblick auf die Begehung von Anlasstaten in seiner Persönlichkeit angelegt
sein. Nur dadurch ist die dem gesetzgeberischen Willen entsprechende Be-
grenzung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung bei jungen
Straftätern nach § 7 Abs. 2 JGG auf einzelne höchstgefährliche Straftäter (vgl.
BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7, 9) gewährleistet.
27
Die spezifische Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.v. § 7 Abs. 2 JGG ist
weitergehend als der in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB beschriebene Hang zu erhebli-
chen Straftaten. Denn der Katalog der Taten wurde in § 7 Abs. 2 JGG auf
schwerste Verbrechen gegen Personen beschränkt, während der Hang nach
§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB auch schweren wirtschaftlichen Schaden umfasst. Aller-
dings kann ein Hang zu erheblichen Straftaten eine Indiztatsache für das Vor-
liegen der spezifischen Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG dar-
stellen (vgl. BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; Beschl. vom 5. August 2009
- 2 BvR 2098/08 und 2 BvR 2633/08 [jew. zu § 66b StGB]).
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c) Soweit die Vollstreckungsregelungen des § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO
i.V.m. § 67d Abs. 3 und 2 StGB, die gemäß § 82 Abs. 3 JGG auf die nach Ju-
gendstrafrecht verhängte Sicherungsverwahrung anzuwenden sind, ausdrück-
lich die Feststellung eines Hanges voraussetzen, sind sie gegebenenfalls da-
hingehend auszulegen, dass die dann mit der Sache befasste Strafvollstre-
ckungskammer und der Sachverständige nicht das weitere Vorliegen eines
Hanges zu prüfen haben, sondern die weiterhin gegebene spezifische Gefähr-
lichkeit des Verurteilten zu Anlasstaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG.
29
2. Daran gemessen hat das Landgericht rechtsfehlerfrei die erhebliche
Gefährlichkeit des Verurteilten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG festgestellt. Seine Progno-
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- 14 -
seentscheidung, die sich ohnehin einer generell abstrakten Beurteilung entzieht
und deshalb für das Revisionsgericht nur in begrenztem Umfang nachprüfbar ist
(vgl. BGHR StGB § 66b Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2; BGH NStZ-RR
2008, 40, 41; Ullenbruch in MüKo-StGB § 66 Rdn. 137, § 66b Rdn. 89), weist
entgegen dem Vorbringen der Revision keinen Rechtsfehler auf.
a) Die äußerst belastende Maßregel der nachträglichen Anordnung der
Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteilten ist - worauf der
Gesetzgeber ausdrücklich hinweist (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 9) - nur in au-
ßergewöhnlichen, seltenen Ausnahmefällen gegen Straftäter berechtigt, bei
denen die konkrete Gefahr besteht, dass sie in absehbarer Zeit nach ihrer Ent-
lassung aus dem Vollzug der Jugendstrafe besonders schwere Straftaten der in
§ 7 Abs. 2 JGG bezeichneten Art begehen werden. An Inhalt und Qualität der
Prognose sind in jedem Fall strengste Anforderungen zu stellen (BTDrucks.
16/6562 S. 9). Eine hohe Wahrscheinlichkeit kann nicht bereits dann ange-
nommen werden, wenn (nur) überwiegende Umstände auf eine künftige Delin-
quenz des Verurteilten hindeuten. Es bedarf vielmehr unter Ausschöpfung der
Prognosemöglichkeiten einer positiven Entscheidung über die Gefährlichkeit
des Verurteilten (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 982 [zu § 66b StGB]; BGHR
StGB § 66b Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2). Den damit einhergehenden ho-
hen Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose werden die Ausführungen
der Kammer gerecht.
31
b) Auf der Grundlage der beiden Sachverständigengutachten (einem
psychiatrischen und einem kriminologischen) hat das Landgericht nachvollzieh-
bar dargelegt, dass bei dem Verurteilten eine multiple Störung der Sexualpräfe-
renz mit sadistischer Komponente und eine emotional instabile Persönlichkeits-
störung vom impulsiven Typ bestehen. Insbesondere erstere lässt sich kontinu-
32
- 15 -
ierlich über Jahre hinweg nachweisen. Diese in der Persönlichkeit des Verurteil-
ten angelegte psychische Störung äußerte sich zunächst in sexuellen Gewalt-
fantasien. Diese entwickelte der Verurteilte aus sexueller Frustration (er ist se-
xuell unerfahren und hatte noch keine engere Beziehung zu einer Frau) und
unter dem Einfluss zahlreicher persönlicher, beruflicher und sozialer Stressfak-
toren. In seinen Fantasien war ihm besonders wichtig, ein weibliches Opfer
durch einen Angriff gegen dessen Hals wehr- bzw. leblos zu machen, um an-
schließend darauf zu onanieren. Ihm ging es dabei um Macht und Dominanz
gegenüber seinem Opfer, aber auch um dessen Demütigung und Erniedrigung.
Diese Fantasien verband er schließlich mit Selbstbefriedigung.
In der Zeit unmittelbar vor Begehung der Anlasstat hatte sich beim Verur-
teilten infolge beruflicher Probleme, Einmischungen seitens seiner als dominant
empfundenen Mutter und Hänseleien in seiner Clique „maximaler Druck“ aufge-
baut. Diese Anhäufung alltäglicher Stressfaktoren ist beim Verurteilten auf seine
emotional instabile Persönlichkeit zurückzuführen. Aufgrund dessen erfuhren
seine Gewaltfantasien als Ausprägung seines psychischen Zustandes eine in-
tensive Steigerung und bezogen sich nunmehr auch auf ihm bekannte Frauen,
von denen er sich gedemütigt fühlte. Seine Fantasien lud er schließlich bei der
Anlasstat bei seinem Opfer ab. Seine in der Person angelegten Schwierigkei-
ten, Wut zu kontrollieren sowie auf Kränkungen und Zurückweisungen adäquat
zu reagieren, traten dabei zu Tage.
33
Die in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegten Gewaltfantasien
sind nach wie vor nicht überwunden. Wie die Vergangenheit zeigt, kommt es
auch immer wieder zu Steigerungen. Dies war insbesondere im zeitlichen Zu-
sammenhang mit den begleiteten Haftausführungen des Verurteilten der Fall.
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Nach Auffassung des Landgerichts geben die Auslöser der Anlasstat
dieser Symptomcharakter für künftige Taten. Dabei hat es sich an den individu-
ell bedeutsamen Bedingungsfaktoren für diese Delinquenz, deren Fortbestand,
der weiterhin fehlenden Kompensation durch protektive Umstände, der nach
wie vor erforderlichen Behandlungsbedürftigkeit des Verurteilten sowie dem
Gewicht dieser Gesichtspunkte in zukünftigen Risikosituationen orientiert. Auf
dieser Basis hat es die spezifische Gefährlichkeit i.S.v. § 7 Abs. 2 JGG bejaht.
Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern.
35
c) Aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung kommt das Landge-
richt mit tragfähiger Begründung zu dem Ergebnis, dass der Verurteilte mit ho-
her Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit nach seiner Entlassung aus dem
Vollzug weitere schwere Straftaten i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG begehen wird.
36
aa) Es durfte bei seiner Prognoseentscheidung von der Einordnung der
Wahrscheinlichkeit als „deutlich erhöht“ bzw. als „mittelhoch bis hoch“ durch die
beiden Sachverständigen abweichen. Bei der von ihnen vorgenommenen Ein-
teilung der Rückfallgeschwindigkeit und der Gefährlichkeit in die Stufen „niedrig
- mittelhoch - hoch“ handelt es sich - worauf das Landgericht und auch der psy-
chiatrische Sachverständige Dr. B. zutreffend hinweisen - um „psychi-
atrisch-forensische Konstrukte“. Demgegenüber ist die rechtliche Bewertung, ob
eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung weiterer schwerer Straftaten
i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG vorliegt, eine Rechtsfrage, die das Tatgericht ohne Bin-
dung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu be-
antworten hat (vgl. Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 Rdn. 202).
Dies hat das Landgericht tragfähig getan.
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bb) Die psychischen, in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegten
Störungen, die tatauslösend in unmittelbarem symptomatischen Zusammen-
hang mit der Anlasstat stehen, sind nicht ausreichend therapiert. Der Verurteilte
ist nach wie vor nicht in der Lage, seine eigene Gefährlichkeit realistisch einzu-
schätzen. Er verfügt weder über eine ausreichende Fähigkeit, Frühwarnsym-
ptome zu erkennen, noch über adäquate Bewältigungsstrategien, um einer er-
neuten Eskalation entgegenzuwirken. Der im Falle einer Entlassung erforderli-
che gesicherte soziale Empfangsraum - insbesondere die weitere therapeuti-
sche Anbindung des Verurteilten - ist nicht gegeben. Bei einer Entlassung zum
jetzigen Zeitpunkt ist daher mit hinreichender Gewissheit davon auszugehen,
dass es beim Verurteilten, der bis zu seiner Inhaftierung in dem behüteten El-
ternhaus lebte und sich nunmehr seit August 1998 in dem gesicherten Rahmen
des Jugendstrafvollzugs befindet, bei der Bewerkstelligung des alltäglichen Le-
bens in absehbarer Zeit zu einer Kumulation von Stressfaktoren kommt. Eben-
so wie bei der Anlasstat besteht dann die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es er-
neut zu einer intensiven Steigerung der noch nicht überwundenen Gewaltfanta-
sien kommt, bis hin zu deren tatsächlichem Abladen in Form der Begehung
schwerster Sexualdelikte, bis hin zum Sexualmord (zur Befriedigung des Ge-
schlechtstriebs). Unter diesen Umständen war die Anordnung verhältnismäßig
i.S.v. § 62 StGB. Mildere Maßnahmen kommen nicht in Betracht.
38
IV.
Die Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG steht im Einklang mit der Verfassung.
Daher sind die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG, anders als die Revi-
sion meint, nicht gegeben.
39
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1. § 7 Abs. 2 JGG verstößt weder gegen das verfassungsrechtliche
Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG noch gegen das Doppelbestra-
fungsverbot (ne bis in idem) des Art. 103 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungs-
gericht hat bereits entschieden, dass die Anwendungsbereiche des Art. 103
Abs. 2 und 3 GG auf staatliche Maßnahmen beschränkt sind, die eine repressi-
ve, dem Schuldausgleich dienende Strafe darstellen. Demgegenüber fällt die
Maßregel der Sicherungsverwahrung als präventive, der Verhinderung zukünf-
tiger Straftaten dienende Maßnahme - ungeachtet ihrer strafähnlichen Ausge-
staltung - nicht in den Anwendungsbereich dieser Verbote. Denn ihr Zweck be-
steht nicht darin, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit
vor dem Täter zu schützen (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 981; BVerfG, Beschl.
vom 5. August 2009 - 2 BvR 2098/08 und 2 BvR 2633/08; ebenso BGHSt 52,
205, 209 f.; 50, 284, 295 jew. m.w.N.; aA - jedoch nicht tragend und ohne weite-
re Begründung - BGH, Beschl. vom 19. Oktober 2007 - 3 StR 378/07 - Rdn. 13).
40
2. Auch ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche und grundrechtliche Ge-
bot des Vertrauensschutzes, Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG liegt nicht vor. Der
Umstand, dass § 7 Abs. 2 JGG auf das Erfordernis neuer Tatsachen für die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach
Jugendstrafrecht verzichtet, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Beden-
ken.
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a) In der Rechtsprechung ist bereits grundsätzlich entschieden, dass die
gesetzliche Möglichkeit, gemäß § 66b StGB nachträglich die Unterbringung ei-
nes Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen, als Fall tatbestand-
licher Rückanknüpfung oder unechter Rückwirkung verfassungsrechtlich nicht
zu beanstanden ist (BVerfG NJW 2009, 980, 981; NJW 2006, 3483, 3484;
BGHSt 52, 205, 210 f.). Dies gilt auch dann, wenn - wie bei § 66b Abs. 1 Satz 2
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- 19 -
i.V.m. Satz 1 StGB - auf das Erfordernis neuer Tatsachen für die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung in den Fällen verzichtet wird, in denen
die ursprüngliche Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Grün-
den nicht möglich war (BVerfG NJW 2009, 980, 981; BGHSt 52, 205, 210 ff.;
BGH, Beschl. vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09). Auch insofern ist eine
Rückbewirkung von Rechtsfolgen oder eine „echte“ Rückwirkung im Sinne ei-
nes nachträglich ändernden Eingriffs in abgewickelte, der Vergangenheit ange-
hörende Tatbestände nicht gegeben (dazu ausführlich BVerfG NJW 2009, 980,
981 f. m.w.N.).
b) Gleiches gilt für die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG. Auch sie knüpft
zwar gegebenenfalls an eine vor ihrer Verkündung begangene Anlasstat und
deren Aburteilung an, sie ändert jedoch nicht nachträglich eine an die Anlasstat
anknüpfende Rechtsfolge (vgl. BVerfG NJW 2006, 3483, 3484 [zu § 66b Abs. 2
StGB]).
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In den Fällen des § 7 Abs. 2 JGG reichen sowohl der Prozessgegen-
stand als auch die rechtlichen Möglichkeiten des Gerichts im Verfahren über die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung über diejenigen im Er-
kenntnisverfahren der Anlassverurteilung hinaus (BVerfG NJW 2009, 980, 981
[zu § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB]). Dem im Erkenntnisverfahren entscheidenden
Gericht stand (und steht auch weiterhin) die rechtliche Möglichkeit der Anord-
nung einer ursprünglichen oder vorbehaltenen Sicherungsverwahrung bei nach
Jugendstrafrecht verurteilten Straftätern nicht zur Verfügung. Seine Entschei-
dung konnte (und kann) sich damit von Rechts wegen nicht auf die Frage der
Sicherungsverwahrung beziehen. Dies ist wegen der regelmäßig noch nicht
abgeschlossenen Entwicklung der Täter und der Prognoseunsicherheiten auch
sachgerecht. Für die Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen ist demnach
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insbesondere das Verhalten des Verurteilten nach Eintritt der Rechtskraft der
Anlassverurteilung von Bedeutung. Damit unterscheidet sich die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG - anders als die
Revision meint - maßgeblich von einem Wiederaufnahmeverfahren zum Nach-
teil des Verurteilten (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 981). Dementsprechend wird
durch sie auch keine frühere Entscheidung über die Nichtanordnung der Siche-
rungsverwahrung nachträglich zu Lasten des Verurteilten korrigiert.
c) In einem solchen Fall ist das gesetzgeberische Anliegen, das der
Maßregel zugrunde liegt, namentlich der Schutz der Allgemeinheit, gegen die
Belange des Vertrauensschutzes abzuwägen (BVerfG NJW 2006, 3483, 3484;
BGHSt 52, 205, 211 m.w.N.). Diese Güterabwägung ergibt, dass der vom Ge-
setzgeber mit der Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG verfolgte Schutz der Allge-
meinheit vor einzelnen extrem gefährlichen jungen Straftätern, von denen wei-
tere schwerwiegende Verbrechen i.S. dieser Vorschrift zu erwarten sind, durch
die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder gefährdet werden
(vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7), im Gemeinwohlinteresse überwiegt. Dahinter
müssen der Vertrauensschutz und das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten zu-
rücktreten (so für § 66b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 StGB bereits: BGHSt 52,
205, 211; BGH, Urt. vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09; BVerfG NJW 2009,
980, 982; für § 66b Abs. 2 StGB: BVerfG NJW 2006, 3483, 3484).
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aa) Zwar wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 8. Juli 2008 (BGBl I
1212) der bis dahin bestehende Vertrauenstatbestand auf den Ausschluss der
Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteilten beseitigt. Dies
führt im Rahmen der gebotenen Abwägung zu einer stärkeren Gewichtung der
Vertrauensschutzbelange. Allerdings wird die Schutzwürdigkeit des Vertrauens
bereits durch § 2 Abs. 6 StGB eingeschränkt. Nach dieser Vorschrift ist über
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Maßregeln der Besserung und Sicherung, wenn gesetzlich nichts anderes be-
stimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zum Zeitpunkt der Entschei-
dung gilt. Mithin steht die Anordnung der Sicherungsverwahrung stets unter
dem Vorbehalt einer Änderung der Gesetzeslage (vgl. BVerfGE 109, 133, 185
[zu § 67d Abs. 3 StGB]; BGHSt 52, 205, 212 [zu § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB]).
Der Stellenwert des gesetzgeberischen Anliegens, Schutz der Allgemeinheit vor
hochgefährlichen jungen Straftätern, überwiegt das Vertrauen der von der Neu-
regelung betroffenen Verurteilten auf die fehlende Möglichkeit der Anordnung
ihrer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Das Freiheitsgrundrecht der
von der tatbestandlichen Rückanknüpfung betroffenen Verurteilten aus Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG tritt trotz seines hohen Wertes, der ihm vorliegend insbeson-
dere aufgrund des zum Tatzeitpunkt jugendlichen Alters der betroffenen Straftä-
ter zukommt, hinter das überragende öffentliche Interesse zurück. Da die An-
wendung des § 7 Abs. 2 JGG - entsprechend dem gesetzgeberischen Willen
(vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7) - auf einzelne extrem gefährliche Verurteilte
- wie im gegenständlichen Fall - beschränkt ist, bewegt sich der Gesetzgeber
demnach in seinem Gestaltungsspielraum für Maßnahmen zur Gewährung der
Sicherheit der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 109, 133, 187 [zu § 67d Abs. 3
StGB]).
bb) Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Neuregelung des
§ 7 Abs. 2 JGG nicht das Vorliegen neuer Tatsachen verlangt. Durch den Ver-
zicht auf die Anordnungsvoraussetzung neuer Tatsachen („Nova“) wurde die
Möglichkeit einer Neubewertung von Umständen geschaffen, die zum Zeitpunkt
der Anlassverurteilung aus rechtlichen Gründen nicht beachtlich waren (vgl. zu
§ 66b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 StGB: BGHSt 52, 205, 212). Es ist verfas-
sungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn diese mit solchen gleichgestellt
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- 22 -
werden, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht erkennbar waren (vgl.
BVerfG NJW 2009, 980, 982; BVerfGE 109, 190, 236).
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cc) Die Revision macht in diesem Zusammenhang geltend, jugendliche
Straftäter müssten, auch wenn sie sich in der Haft noch so unauffällig verhiel-
ten, in der „unerträglichen Ungewissheit“ leben, dass es nach Verbüßung der
Jugendstrafe zu einer negativen Beurteilung von Umständen vor der Verurtei-
lung komme. Im Gegensatz dazu hätten nach allgemeinem Strafrecht Verurteil-
te das Entstehen der erforderlichen neuen Tatsachen selbst in der Hand.
Diesem Argument der Schlechterstellung kann der Senat nicht folgen.
Wegen der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung und der Prognoseunsi-
cherheit bei jugendlichen Straftätern wurde die Beurteilung der Gefährlichkeit
auf den Zeitpunkt der Entlassung aus dem Vollzug der Jugendstrafe verlagert
(vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 7). Bis dahin hat es der nach Jugendstrafrecht ver-
urteilte Straftäter aber gerade selbst in der Hand, unter dem Einfluss des Ju-
gendstrafvollzugs, der vorrangig dem Erziehungsgedanken Rechnung trägt,
etwa vorhandene Anhaltspunkte für seine Gefährlichkeit zu beseitigen, indem er
das von ihm begangene schwerwiegende Delikt aufarbeitet. Zudem ist in diesen
Fällen regelmäßig eine Nachreifung des jungen Verurteilten zu erwarten, die bei
der Gefährlichkeitsbeurteilung zu diesem späten Zeitpunkt Berücksichtigung
findet. All dies stellt ein „Mehr“ an Möglichkeiten der Abwendung der Siche-
rungsverwahrung dar, als dies bei nach allgemeinem Strafrecht verurteilten He-
ranwachsenden und Erwachsenen der Fall ist.
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3. Die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG wahrt trotz des mit ihr verbunde-
nen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
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a) Das Bundesverfassungsgericht hat für § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB be-
reits ausgesprochen, dass - trotz des Verzichts auf das Erfordernis neuer Tat-
sachen („Nova“) - die gesetzliche Möglichkeit der Maßregelanordnung den An-
forderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit genügt (BVerfG NJW
2009, 980, 982). Da die enge Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 66b
Abs. 1 StGB gewährleistet, dass die Maßnahme der nachträglichen Anordnung
der Sicherungsverwahrung - entsprechend dem gesetzgeberischen Willen -
auch in den Fällen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nur in besonderen Ausnah-
mefällen in Betracht kommt und auf einige wenige Verurteilte beschränkt bleibt,
ist die Vorschrift als verhältnismäßige Regelung verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden (BVerfG NJW 2009, 980, 982; vgl. auch - jew. zu § 66b Abs. 2
StGB - BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; BGH, Beschl. vom 19. Oktober 2007 -
3 StR 378/07 - Rdn. 13; BGHSt 50, 275, 278).
b) Gleiches gilt für die Norm des § 7 Abs. 2 JGG. Der Gesetzgeber hat
dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch hier da-
durch Rechnung getragen, dass er die Möglichkeit der nachträglichen Anord-
nung von Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht auf
gravierendste Einzelfälle beschränkt hat (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7 und 9).
Dazu hat er die Voraussetzungen einer solchen deutlich strenger gefasst als bei
nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (BTDrucks. 16/6562 S. 7):
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- Zum einen ist der Katalog der Anlasstaten noch enger als bei Verurtei-
lungen nach allgemeinem Strafrecht auf schwerste Verbrechen gegen andere
Personen beschränkt. Dabei müssen (ebenso wie bei § 106 Abs. 3, 5 und 6
JGG) bereits diese und nicht erst die zu erwartenden künftigen Straftaten mit
einer schweren seelischen oder körperlichen Schädigung oder Gefährdung des
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- 24 -
Opfers verbunden gewesen sein (BTDrucks. 16/6562 S. 7, 8). Der schwere
Raub nach § 250 StGB, der unter Umständen lediglich zu wirtschaftlichen
Schäden führen kann, stellt in § 66b StGB eine Katalogtat dar, wurde aber in
§ 7 Abs. 2 JGG ausgenommen.
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- Zum anderen wird - gegenüber einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf
Jahren in den entsprechenden Bestimmungen des § 66b Abs. 2 StGB und
§ 106 Abs. 5 JGG bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht - hier eine
Verurteilung wegen einer Katalogtat zu einer Jugendstrafe von mindestens sie-
ben Jahren verlangt.
- Außerdem kommt hinzu, dass die Frist zur Überprüfung der Fortdauer
der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 JGG
auf ein Jahr verkürzt wurde, während sie bei nach allgemeinem Strafrecht Ver-
urteilten zwei Jahre beträgt (§ 67e Abs. 2 StGB).
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c) Zwar hat der Gesetzgeber bei der Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG
bewusst auf die gesonderte Feststellung eines Hanges des Verurteilten zu den
Anlasstaten verzichtet. Diese gesetzgeberische Entscheidung für einen grund-
sätzlichen Verzicht auf die Feststellung eines Hanges ist vorliegend mit Blick
auf die dargestellten zusätzlichen, limitierenden Anordnungsvoraussetzungen
(vorgehend lit. b) unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten jedoch nicht zu
beanstanden (in diesem Sinne für § 66b Abs. 2 StGB bereits BVerfG NJW
2006, 3483, 3484). Dies gilt umso mehr, als die erforderliche in der Persönlich-
keit des Verurteilten angelegte spezifische Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.d.
§ 7 Abs. 2 JGG weitergehend ist als der in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB umschriebe-
ne Hang.
56
- 25 -
4. Soweit der Revisionsführer einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 i.V.m.
Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG wegen fehlender Berechenbarkeit der Freiheitsent-
ziehung rügt, dringt er nicht durch.
57
58
a) tzgeber, die Fälle, in
denen eine Freiheitsentziehung zulässig sein soll, hinreichend klar zu bestim-
men. Freiheitsentziehungen sind dabei in berechenbarer, messbarer und kon-
trollierbarer Weise zu regeln. Dies gilt auch für präventive Freiheitsentziehun-
gen, da diese ebenso stark
greifen wie Freiheitsstrafen (BVerfGE 109, 133, 188). Im Hinblick auf die Inten-
sität des Grundrechtseingriffs bei der Freiheitsentziehung muss der Gesetzge-
ber nicht nur bestimmen, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen
überhaupt die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherungsverwahrung ange-
ordnet werden kann, sondern darüber hinaus auch sicherstellen, dass Ent-
scheidungen über die Freiheitsentziehung auf Grund einer Prognose keine von
vornherein unbegrenzte Wirkung zukommen darf. Die Unsicherheit, die jeder
Prognose innewohnt, erfordert bei einer präventiven Freiheitsbeschränkung
eine angemessene Entscheidung des Gesetzgebers darüber, welche zeitliche
Wirkung der Prognoseentscheidung zukommt und wann diese zu überprüfen ist
(BVerfGE 109, 133, 188).
b) Diesen Anforderungen genügt die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG.
Sie sieht sowohl die - strengen - tatbestandlichen Anordnungsvoraussetzungen
vor, so dass für nach Jugendstrafrecht verurteilte Straftäter klar erkennbar ist,
ob die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für sie
grundsätzlich in Betracht kommt. Zudem hat der Gesetzgeber für die rechtzeiti-
ge Feststellung nachlassender Gefährlichkeit Vorsorge getroffen, indem er eine
regelmäßige Überprüfung der Prognoseentscheidung in angemessener Zeit
59
- 26 -
sicherstellt. Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 JGG hat das Gericht die Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung spätestens nach einem Jahr zu überprüfen. Damit
ist gewährleistet, dass die einzelne Prognoseentscheidung die Freiheitsentzie-
hung nur für einen bestimmten Zeitraum trägt. Zugleich ist für den Betroffenen
vorhersehbar, wann er mit einer neuen Überprüfung rechnen kann (vgl.
BVerfGE 109, 133, 189).
V.
Ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention liegt
nicht vor. Auch das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde Nr. 19359/04) steht der vor-
liegenden Entscheidung nicht entgegen. Abgesehen davon, dass dieses Urteil
noch nicht endgültig ist (Art. 43 Abs. 1, Art. 44 Abs. 2b EMRK), liegt hier jeden-
falls eine - unter den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für
maßgeblich erachteten Kriterien - abweichende Fallgestaltung und Rechtslage
vor.
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1. Während es bei dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte zu entscheidenden Fall um den Wegfall und damit um die nachträgliche
Verlängerung der nach § 67d Abs. 1 StGB aF geltenden zehnjährigen Höchst-
frist für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geht, betrifft der gegen-
ständliche Sachverhalt die erstmalige nachträgliche Anordnung der Siche-
rungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteilten. In diesen Fällen ist
eine ursprüngliche oder vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht möglich.
61
- 27 -
2. Auch die jeweiligen Verfahren sind grundsätzlich verschieden. Wäh-
rend die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungs-
verwahrung von der Strafvollstreckungskammer nach Aktenlage ohne mündli-
che Verhandlung lediglich nach Anhörung des Betroffenen und nach Einholung
nur eines Sachverständigengutachtens im schriftlichen Verfahren getroffen
wird, ergeht das Urteil über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsver-
wahrung nach § 7 Abs. 2 JGG im Erkenntnisverfahren auf Grundlage einer
neuen Hauptverhandlung und nach Einholung von zwei Sachverständigengut-
achten (§ 275a Abs. 4 Satz 2 StPO).
62
3. Soweit die Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte in dem ihr vorliegenden Fall einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK
sieht, verhält es sich hier deshalb anders, weil der betroffene Verurteilte - im
Gegensatz zu demjenigen in dem Fall, den die Kammer zu entscheiden hatte -
psychisch krank ist. Damit ergibt sich gegenständlich eine Eingriffsermächti-
gung in das Freiheitsrecht des Betroffenen zum Schutze der Allgemeinheit je-
denfalls aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e EMRK.
63
4. Im Hinblick auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
in seiner Entscheidung vom 17. Dezember 2009 festgestellte Verletzung von
Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK ist zudem das im gegenständlichen Fall maßgebli-
che, vom allgemeinen Strafrecht abweichende System des Jugendstrafrechts
zu berücksichtigen (vgl. beispielsweise § 5 Abs. 3 JGG, § 106 Abs. 4 JGG).
Dieses ist geprägt vom Erziehungsgedanken, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 JGG.
Daran orientiert sich auch der in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder
der Bundesrepublik Deutschland geregelte Vollzug der Jugendstrafe, vgl.
Art. 121 Satz 2, Art. 124 BayStVollzG. In dessen Umsetzung erfuhr der Verur-
64
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teilte vorliegend insbesondere auch eine Vielzahl an sozialtherapeutischen Be-
handlungsversuchen.
65
5. Der Senat ist unter diesen Umständen nicht davon überzeugt, dass
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - anders als in seiner Kam-
merentscheidung vom 17. Dezember 2009 - auch in der gegenständlichen Fall-
gestaltung einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
sehen würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt bei seinen
Entscheidungen jeweils auf den konkreten Einzelfall ab. Daher kann jede neue
Entscheidung - je nach der zugrunde liegenden Fallgestaltung - von ihm zu ei-
ner neuen, abweichenden Bewertung staatlichen Handelns führen (vgl. Schäd-
ler in KK 6. Aufl. Vorb MRK Rdn. 5).
6. Abgesehen davon ist Folgendes zu berücksichtigen:
66
Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht die Europäische Men-
schenrechtskonvention im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. BVerfG,
Beschl. vom 4. Februar 2010 - 2 BvR 2307/06 m.w.N.). Demnach beeinflussen
die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention die Ausle-
gung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgeset-
zes. Ihr Text und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte können auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshil-
fen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und
rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu
einer - von der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht gewollten
(vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes
nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfG, Beschl. vom 4. Februar 2010 - 2 BvR
2307/06 m.w.N.).
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- 29 -
Daraus ergibt sich vorliegend aber, dass die Europäische Menschen-
rechtskonvention nicht nur in Bezug auf die Grundrechte des Verurteilten und
die ihn betreffenden rechtsstaatlichen Grundsätze als Auslegungshilfe heranzu-
ziehen ist, sondern auch bei der Auslegung der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG resultierenden, für den Staat bestehenden
Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben potentieller Opfer zu stellen
und deren Leben insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten ande-
rer zu bewahren (BVerfG, Beschl. vom 4. Februar 2010 - 2 BvR 2307/06; vgl.
auch Art. 2 EMRK i.V.m. Art. 1 EMRK). Daran gemessen hat vorliegend das
Freiheitsrecht des Verurteilten hinter dem Opferschutz zurückzutreten (siehe
oben Ziffer B.IV.2.c).
68
C.
Der Senat bemerkt, dass es in Fällen wie dem vorliegenden, in dem sich
die besondere Gefährlichkeit des Verurteilten in einem psychischen Zustand im
Zusammenspiel mit äußeren Stressfaktoren gründet, geboten ist, rechtzeitig
dafür Sorge zu tragen, dass dem Verurteilten im Falle seiner Entlassung ein
gesicherter sozialer Empfangsraum zur Verfügung steht, um das Rückfallrisiko
des in Freiheit entlassenen Verurteilten zu mindern. Zudem sollte frühzeitig mit
einer geeigneten Therapie begonnen werden.
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In Fällen wie dem gegenständlichen, in dem der Erfolg einer Therapie
immer wieder dadurch negativ beeinflusst wird, dass sich der Verurteilte im
Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen befindet, sollte dem Verurteilten
zudem eine neutrale Person beratend zur Seite gestellt werden. Die über § 82
Abs. 3 JGG anzuwendende Vorschrift des § 463 Abs. 3 Satz 5 StPO hilft dann
70
- 30 -
nicht weiter, wenn der Verurteilte bereits einen Wahlverteidiger hat. Dem Senat
ist es verwehrt, insofern eine Entscheidung zu treffen. Er könnte sich jedoch
vorstellen, dass der Gesetzgeber diesbezüglich eine gesetzliche Grundlage für
flankierende Maßnahme schafft.
Nack Rothfuß Hebenstreit
Elf Sander