Urteil des BGH vom 03.02.2006

BGH (stpo, beistand, vertretung, bestellung, antrag, strafsache)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 419/05
vom
15. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Mordes
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15. Februar
2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt für den Angeklagten
,
Rechtsanwältin für den Angeklagten
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter des Nebenklägers,
der Nebenkläger in Person,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Mühlhausen vom 11. März 2005 werden verwor-
fen.
2. Die Kosten der Rechtsmittel sowie die hierdurch entstandenen
notwendigen Auslagen der Angeklagten hat die Staatskasse zu
tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen (gemeinschaftlich begange-
nen) Mordes zu Freiheitsstrafen von elf Jahren und zehn Monaten (Angeklagter
G. ) und zwölf Jahren und sieben Monaten (Angeklagter S. ) verur-
teilt. Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkten, vom Generalbundes-
anwalt nicht vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft haben keinen Er-
folg.
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1. Nach den Feststellungen des Landgerichts nahmen die damals 22 und
23 Jahre alten Angeklagten am Abend des 13. Mai 2004 in zwei verschiedenen
Lokalen in M. erhebliche Mengen alkoholischer Getränke zu sich. Als
sie nach 1.35 Uhr am frühen Morgen des 14. Mai 2004 das zweite Lokal verlie-
ßen, wiesen sie Blutalkoholkonzentrationen zwischen 1,37 und 3,75 %o (Ange-
klagter G. ) bzw. zwischen 1,58 und 3,39 %o (Angeklagter S. ) auf.
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Auf einem ansonsten menschenleeren Platz in der Innenstadt von M.
bemerkten die Angeklagten das Tatopfer, einen 62-jährigen Mann, der
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dabei war, herumliegende Pfandflaschen in einen mitgeführten Plastikbeutel
einzusammeln. Als er auf verbale Provokationen des Angeklagten S
nicht reagierte, versetzte dieser ihm einen Faustschlag ins Gesicht, so dass der
Geschädigte zu Boden stürzte und reglos liegen blieb. Nun traten beide Ange-
klagte auf das Opfer ein, bis dieses nicht mehr reagierte und nur noch röchelnd
atmete. Die Angeklagten entfernten sich, nachdem der Angeklagte S.
noch die in dem Beutel befindlichen Flaschen zerschlagen hatte. Hinsichtlich
dieses Geschehens hat das Landgericht das Verfahren in der Hauptverhand-
lung gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt.
Die Angeklagten setzten sich, noch im Bereich der Innenstadt, zunächst
auf eine Bank und rauchten. Dann gingen sie zu dem Platz zurück, auf dem das
Tatopfer lag. Der Angeklagte S. hatte sich entschlossen, das Opfer zu
töten, um eine Aufdeckung der vorangegangenen Misshandlung zu verhindern;
der Angeklagte G. war hiermit einverstanden. Als ihnen zwei flüchtig be-
kannte Personen begegneten, lenkte der Angeklagte G. diese mit dem Hin-
weis, es handle sich um eine betrunkene Person, bewusst von einer Hilfeleis-
tung für das Opfer ab. Als sie sich unbeobachtet glaubten, traten beide Ange-
klagte sodann in Tötungsabsicht gegen Kopf und Körper des Tatopfers. Der
Angeklagte S. ließ den etwa 30 kg schweren Fuß eines Verkehrs-
schilds, das in der Nähe des Tatorts stand, aus Brusthöhe mehrfach auf den
Kopf des Opfers fallen. Sodann entfernten sich die Angeklagten, trennten sich
und gingen nach Hause. Das Tatopfer verstarb an den ihm zugefügten
schwersten Kopfverletzungen kurze Zeit später noch am Tatort.
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Festgestellt ist darüber hinaus, dass gegen beide Angeklagte schon frü-
her jugendstrafrechtliche Verfahren geführt wurden; gegen den Angeklagten
G. dreimal wegen Diebstahls, wegen Sachbeschädigung und wegen Hehle-
rei, gegen den Angeklagten S. einmal wegen Diebstahls geringwerti-
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ger Sachen. Beide Angeklagte haben seit ihrer Jugend Erfahrungen mit Alko-
hol. Ein Hang im Sinne von § 64 StGB ist bei keinem von ihnen festgestellt wor-
den. Frühere Gewalt- oder Aggressionstaten unter dem Einfluss von Alkohol
sind nicht festgestellt.
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Das Landgericht hat die Angeklagten wegen mittäterschaftlich begange-
nen Verdeckungsmords verurteilt. Es hat, sachverständig beraten, bei beiden
Angeklagten eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit auf Grund
der vorliegenden Alkoholisierung festgestellt und die Voraussetzungen des § 21
StGB als gegeben angesehen. Die Strafen hat es dem jeweils gemäß § 49
Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen entnommen und die Strafrahmenmilde-
rung auf eine "Gesamtwürdigung der Tat sowie der Tatumstände" gestützt (UA
S. 33 f.).
2. Die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft,
die sich bei beiden Angeklagten jeweils gegen die in Anwendung von §§ 21, 49
Abs. 1 StGB vorgenommene Strafrahmenmilderung wenden, haben keinen Er-
folg.
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a) Die Anwendung von § 21 StGB durch das Landgericht begegnet im
Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken. Aus dem Gesamtzusammenhang der
Urteilsgründe ergibt sich unmissverständlich, dass das Landgericht in Überein-
stimmung mit den Sachverständigen angenommen hat, dass bei voll erhaltener
Unrechtseinsicht allein die Steuerungsfähigkeit beider Angeklagter zur Tatzeit
erheblich vermindert war (UA S. 11, 28).
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b) Auch die Anwendung der Strafrahmenmilderung gemäß §§ 21, 49
Abs. 1 StGB ist hier aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
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Ob bei Annahme des § 21 StGB eine Milderung vorzunehmen oder zu
versagen ist, hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Ein-
zelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei ist bei vermin-
derter Schuldfähigkeit grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt
der Tat verringert ist, so dass eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen ist,
wenn nicht andere, Schuld erhöhende Gesichtspunkte dem entgegen stehen
(Urt. des Senats vom 26. Mai 2004 - 2 StR 386/03, NStZ 2004, 619; st. Rspr.;
vgl. auch MüKo-Streng § 21 Rdn. 22; Tröndle/Fischer aaO § 21 Rdn. 18; jeweils
m.w.N.). Hat der Tatrichter die Wahl zwischen lebenslanger und zeitiger Frei-
heitsstrafe, müssen besonders gravierende Erschwerungsgründe vorliegen, um
die Schuldminderung so auszugleichen, dass von einer Milderung des Straf-
rahmens abgesehen werden darf (BGH NStZ 1994, 183; 2004, 619; NStZ-RR
2003, 136; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 28).
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Wenn die verminderte Schuldfähigkeit allein auf einem selbstverschulde-
ten Alkoholrausch beruht, ist schon nach bisheriger ständiger Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs jedenfalls dann für eine Strafrahmenmilderung kein
Anlass, wenn der Täter die Begehung von Straftaten vorausgesehen hat oder
hätte voraussehen können, insbesondere wenn ihm aus früheren Erfahrungen
bekannt ist, dass er unter Alkoholeinfluss zu Straftaten neigt (BGHSt 34, 29, 33;
43, 66, 78; BGH NStZ 1993, 537; StV 1993, 355; BGHR StGB § 21 Strafrah-
menverschiebung 3, 14; vgl. dazu auch BGH NStZ 2003, 480, 481; 2004, 678,
679 f.; jeweils m.w.N.).
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Hierüber hinaus gehend hat der 3. Strafsenat im Urteil vom 27. März
2003 - 3 StR 435/02 (NStZ 2003, 480) in nicht tragenden Ausführungen mitge-
teilt, er wolle an der einschränkenden Voraussetzung einschlägiger Vorerfah-
rung nicht festhalten, sondern im Hinblick auf die Allgemeinkundigkeit der ent-
hemmenden und damit abstrakt gefährlichen Wirkung von Alkohol eine Straf-
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rahmenmilderung regelmäßig versagen, wenn die Verminderung der Schuldfä-
higkeit auf selbst zu verantwortender Trunkenheit beruht; dabei soll es auf die
Schwere der begangenen Tat und damit auf den im Einzelfall anzuwendenden
Strafrahmen nicht ankommen (NStZ 2003, 480, 482; vgl. auch BGH, Urt. vom
19. Oktober 2004 - 1 StR 254/04, NStZ 2005, 151, 152; Senatsurteil vom 1. Juli
2003 - 2 StR 106/03, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 32). Der
5. Strafsenat hat dagegen im Urteil vom 17. August 2004 - 5 StR 93/04 (NStZ
2004, 678) eine differenzierte, auf eine Verschuldensprüfung im Einzelfall ab-
stellende Lösung vertreten.
Nach Ansicht des Senats ist eine schematische Behandlung der Frage
einer fakultativen Strafrahmenmilderung allein wegen Vorliegens eines selbst
zu verantwortenden Alkolholrausches nicht angebracht. Der Tatrichter hat über
die vom Gesetz eingeräumte Möglichkeit einer Strafrahmenmilderung vielmehr
auf Grund einer Gesamtabwägung der schuldrelevanten Gesichtspunkte zu
entscheiden (BGH NStZ 2004, 678, 679; 2005, 151, 152). Für die Beurteilung
des konkreten Schuldgehalts bei alkoholbedingt erheblicher Minderung der
Schuldfähigkeit ist zunächst von der Allgemeinkundigkeit des Umstands auszu-
gehen, dass eine alkoholische Berauschung generell die Hemmschwelle ge-
genüber sozial auffälligem und aggressivem Verhalten zu senken pflegt. Des-
halb meint der Senat, dass bei selbst zu verantwortender Trunkenheit in der
Regel eine Strafrahmensenkung nicht geboten ist. Diese kommt jedoch bei be-
sonderen Umständen in der Person des Täters oder in der Tat in Betracht.
Wenn der Täter über keine Vorerfahrungen der Art verfügt, dass er persönlich
unter Alkoholeinfluss zu rechtsgutsverletzendem Verhalten neigt, oder wenn
sich für ihn zum Zeitpunkt der Berauschung auch aus sonstigen Umständen
kein Anhaltspunkt dafür ergibt, dass es unter der Wirkung der konkreten Alko-
holisierung zu Straftaten kommen könnte, so stellt dies einen Umstand dar, der
eine Strafrahmenmilderung rechtfertigen kann.
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Bei der Bewertung der für die Feststellung einer vorwerfbaren Vorher-
sehbarkeit relevanten objektiven und subjektiven Umstände ist dem Tatrichter
ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt; seine Wertung ist, wenn sie er-
kennbar auf einer vollständigen Tatsachengrundlage beruht, vom Revisionsge-
richt in der Regel hinzunehmen (BGH NStZ 2004, 678, 679; 2005, 151, 152).
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Vorliegend hat der Tatrichter das Rechtsproblem gesehen und im Urteil
erörtert. Er hat sich, worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen
hat, nicht auf die Feststellung beschränkt, dass es bei beiden Angeklagten in
der Vergangenheit noch nicht zu alkoholtypischen Straftaten gekommen ist.
Vielmehr ist das Landgericht auf Grund einer knappen, aber alle wesentlichen
Gesichtspunkte umfassenden Gesamtwürdigung (UA S. 33 f.) zu dem werten-
den Ergebnis gelangt, dass Umstände, welche eine Strafrahmenmilderung
rechtfertigten, gegeben waren. Diese Beurteilung ist aus Rechtsgründen nicht
zu beanstanden und vom Revisionsgericht hinzunehmen.
Rissing-van Saan Rothfuß Fischer
Roggenbuck Appl