Urteil des BGH vom 26.09.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 2/13
vom
26. September 2013
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
Erlangt die Behörde Kenntnis von der Ablehnung des Asylantrages des Betroffenen
als offensichtlich unbegründet, so gebietet das in Haftsachen geltende Beschleuni-
gungsgebot grundsätzlich, dass unverzüglich die für die Durchführung der Abschie-
bung erforderlichen Maßnahmen eingeleitet werden.
BGH, Beschluss vom 26. September 2013 - V ZB 2/13 - LG Stade
AG Cuxhaven
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. September 2013 durch die
Vorsitzende
Richterin
Dr. Stresemann
und
die
Richter
Dr. Lemke,
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, Dr. Czub und Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom
20. Dezember 2012 ihn in seinen Rechten verletzt hat, soweit ge-
gen ihn zur Sicherung der Abschiebung Haft bis einschließlich
9. Januar 2013 angeordnet wurde.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
des Betroffenen in allen Instanzen werden der Stadt Cuxhaven
auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000
€.
Gründe:
I.
Der Betroffene ist kosovarischer Staatsangehöriger. Nach eigenen An-
gaben reiste er Mitte 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein, ohne über
einen gültigen Reisepass und ein Visum zu verfügen. Am 6. November 2012
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wurde der Betroffene von der Polizei festgenommen, weil er im Verdacht stand,
Straftaten begangen zu haben.
Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 7. November 2012 ordnete das
Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom gleichen Tage
Abschiebungshaft für die Dauer von drei Monaten an.
Das Landgericht hat auf die Beschwerde des Betroffenen mit Beschluss
vom 20. Dezember 2012 die Haftanordnung aufgehoben und festgestellt, dass
diese ihn in seinen Rechten verletzt hat. Zugleich ordnete es Sicherungshaft bis
zum 9. Januar 2013 an.
Gegen die Anordnung der Sicherungshaft durch das Landgericht richtet
sich die Rechtsbeschwerde des am 9. Januar 2013 abgeschoben Betroffenen,
mit dem er die Feststellung der Verletzung seiner Rechte erreichen will.
II.
Das Beschwerdegericht hat die Haftanordnung des Amtsgerichts wegen
eines nicht hinreichend begründeten Haftantrags als rechtswidrig angesehen.
Zudem sei dieser dem Betroffenen nicht ausgehändigt und übersetzt worden.
Nachdem diese Mängel behoben worden seien, habe die Sicherungshaft für
den ausgesprochenen Zeitraum angeordnet werden können. Insbesondere sei
dem Beschleunigungsgebot genügt. Die beteiligte Behörde habe den Vollzug
der Ausweisung mit Nachdruck betrieben und alle notwendigen Anstrengungen
unternommen, um Ersatzpapiere zu beschaffen. Dass die Abschiebung am
9. Januar 2013 und nicht bereits im Dezember 2012 vollzogen werden solle, sei
nicht zu beanstanden und unterliege dem - in engen Grenzen - bestehenden
organisatorischen Spielraum der Behörde.
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III.
Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache mit dem
Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3
Nr. 3 FamFG statthaft (vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. April 2010
- V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360), form- und fristgerecht gemäß § 71
FamFG eingelegt und hat Erfolg.
Die Haftanordnung durch das Beschwerdegericht hat den Betroffenen in
seinen Rechten verletzt, weil die beteiligte Behörde das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG abzuleitende Beschleunigungsgebot verletzt hat.
1. Die Abschiebungshaft muss auch während des Laufs der Drei-Monats-
Frist des § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG auf das unbedingt erforderliche Maß be-
schränkt und die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betrieben werden;
das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten,
wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt, und zwar
gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der größtmöglichen Be-
schleunigung (Senat, Beschluss vom 1. März 2012 - V ZB 206/11, FGPrax
2012, 133, 134 Rn. 15; Beschluss vom 11. Oktober 2012 - V ZB 104/12, Rn. 7,
juris). Er ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen An-
strengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der
Vollzug der Abschiebungshaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden
kann (Senat, Beschlüsse vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239
und vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, Rn. 16, juris).
2. Diesen Anforderungen genügte das Vorgehen der beteiligten Behörde
entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts nicht.
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Sein Hinweis auf einen bestehenden organisatorischen Spielraum der
beteiligten Behörde trägt nicht. Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitende
Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (BVerfGE 20, 45, 49 f.; 46,
194, 195) schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der
Umsetzung der Abschiebung nicht aus (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011
V ZB 247/10, Rn. 7, juris; Beschluss vom 21. Oktober 2010
– V ZB 56/10, Rn.
13, juris). Hier hat die beteiligte Behörde das Verfahren aber objektiv verzögert,
indem sie nicht schon nach Kenntnis von dem den Asylantrag des Betroffenen
als offensichtlich unbegründet ablehnenden Bescheid am 28. November 2012,
sondern erst am 11. Dezember 2012 die Passersatzpapierbeschaffung in die
Wege leitete.
Sobald vorhersehbar ist, dass die Abschiebung erforderlich wird, muss
die Behörde alle notwendigen Anstrengungen unternehmen, um die erforderli-
chen Papiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Haft auf eine möglichst kur-
ze Zeit beschränkt werden kann (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010
- V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361 Rn. 25; Beschluss vom 11. Juli 1996
- V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239). Entgegen der in ihrer Stellungnahme vom
6. Dezember 2012 geäußerten Ansicht war der Eintritt der Bestandskraft des
Bescheides vom 28. November 2012 nicht notwendig, um die Abschiebung
durchführen zu können. Mit diesem Bescheid wurde der Asylantrag des Be-
troffenen nach § 30 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. § 30
AsylVfG verfolgt den Zweck, in aussichtslosen Fällen sowie in solchen, die
durch mangelnde Mitwirkung oder missbräuchliche Antragstellung gekenn-
zeichnet sind, eine zügige Durchführung des Verfahrens und eine möglichst
rasche Abschiebung zu ermöglichen (BT-Drucks. 12/2062, S. 32 f.; BT-
Drucks. 12/4450, S. 22). Mit der Abweisung eines Asylantrages als offensicht-
lich unbegründet verkürzen sich demgemäß auch Fristen. Die mit der Abschie-
bungsandrohung zu setzende Ausreisefrist beträgt - abweichend von der nach
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§ 38 Abs. 1 AsylVfG geltenden Frist von 30 Tagen - nach § 36 Abs. 1 AsylVfG
nur eine Woche. Der Klage, die nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylVfG binnen
Wochenfrist zu erheben ist, kommt nach § 75 AsylVfG keine aufschiebende
Wirkung zu. Für Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80
Abs. 5 VwGO gilt ebenfalls die Wochenfrist (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Eine
Abschiebung ist nach § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG bei rechtzeitiger Antragstel-
lung zwar nicht zulässig. Allerdings soll die Entscheidung über den Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage binnen einer Woche nach
Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist erfolgen, sofern nicht die gesetzlichen
Ausnahmetatbestände vorliegen (§ 36 Abs. 3 Sätze 5 bis 7 AsylVfG).
Vor diesem Hintergrund durfte die Behörde nicht die Bestandskraft des
Bescheides vom 28. November 2012 abwarten, ehe sie weitere Maßnahmen
einleitete. Vielmehr gab ihr bereits der Ablehnungsbescheid Anlass, die Ersatz-
papierbeschaffung, die ausweislich des Schreibens des Landeskriminalamtes
Niedersachsen vom 17. Dezember 2012 zwei Wochen in Anspruch nimmt, zu
beantragen, um die Abschiebung für den Fall der unterbliebenen oder erfolglo-
sen Stellung eines Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer
Klage gegen den Ablehnungsbescheid unverzüglich vornehmen zu können.
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IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 Fam-
FG, Art. 5 EMRK analog, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO, die Festsetzung des Be-
schwerdewerts aus § 128c Abs. 2 KostO, § 30 Abs. 2 KostO.
Stresemann
Lemke
Schmidt-Räntsch
Czub
Kazele
Vorinstanzen:
AG Cuxhaven, Entscheidung vom 07.11.2012 - 3 XIV 2153B -
LG Stade, Entscheidung vom 20.12.2012 - 9 T 133/12 -
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