Urteil des BGH vom 22.02.2006
BGH (hamburg, neue tatsache, verurteilung, akten, stgb, stpo, anordnung, unterbringung, strafregisterauszug, strafkammer)
5 StR 552/05
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 22. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsver-
wahrung
- 2 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Februar 2006
beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des
Landgerichts Hamburg vom 21. Juni 2005 nach § 349
Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwie-
sen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat die Unterbringung des Verurteilten in der Siche-
rungsverwahrung nachträglich gemäß § 66b Abs. 2 StGB angeordnet. Die
Revision des Verurteilten hat mit der Sachrüge – wie vom Generalbundes-
anwalt beantragt – Erfolg.
I.
Anlassverurteilung ist die folgende: Der Verurteilte tötete jeweils vor-
sätzlich am 10. November 1989 seine Ehefrau und am Folgetag das 8-jäh-
rige Kind, das seine Ehefrau mit in die neue Familie gebracht hatte. Deshalb
hat ihn das Landgericht Hamburg am 8. Oktober 1990 wegen Totschlags in
zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.
2
Als „neue“ Tatsache im Sinne der Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs zu § 66b StGB hat das Landgericht Folgendes angesehen: Am
20. August 1978 tötete der damals 18-jährige Verurteilte mit Tötungsvorsatz
3
- 3 -
einen Freund nach einer Auseinandersetzung. Die Tat blieb bis zum Jahre
1984 unentdeckt. Wegen dieser Tat hat das Landgericht Osnabrück den
Verurteilten am 24. Juli 1985 wegen Totschlags in einem minder schweren
Fall zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt.
Im hier vorliegenden Urteil hat das Landgericht angenommen, dass
dem Landgericht Hamburg bei Erlass des Urteils vom 8. Oktober 1990 die
Verurteilung durch das Landgericht Osnabrück vom 24. Juli 1985 „unbe-
kannt“ gewesen sei. Zu den hierfür relevanten Vorgängen im Ausgangsver-
fahren hat das nunmehr erkennende Gericht festgestellt: Die Staatsanwalt-
schaft Hamburg zog die Akten des in Osnabrück durchgeführten Verfahrens
bei und verfügte nach deren Eingang die Anlegung einer „Kopieakte“ und
deren Weiterleitung an den psychiatrischen Sachverständigen sowie – mit
der Anklageerhebung – die Übersendung der Osnabrücker Akten an das
Landgericht Hamburg. Dort gingen diese Akten jedoch nicht ein. Sie waren
im Verlauf des dortigen Verfahrens nicht auffindbar. Der Strafkammervorsit-
zende bemühte sich erfolglos um Beischaffung der genannten Akten, hilfs-
weise der beim Sachverständigen befindlichen Kopien. Der in der Hauptver-
handlung vorliegende Strafregisterauszug wies die Verurteilung durch das
Landgericht Osnabrück vom 24. Juli 1985 nicht aus. Diese Verurteilung wur-
de im Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. Oktober 1990 im Rahmen der
Erörterung der Vorstrafen nicht erwähnt. Vielmehr hob die Strafkammer bei
der Strafzumessung ausdrücklich hervor, „das vom Angeklagten selbst zur
Sprache gebrachte, in seinem Strafregisterausdruck aber nicht aufgeführte
Tötungsdelikt aus früheren Jahren stets außer Betracht gelassen“ zu haben.
4
II.
Das Urteil kann keinen Bestand haben, weil diejenigen Tatsachen,
auf die das Landgericht die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung stützt, keine solchen sind, die im Sinne des § 66b
5
- 4 -
StGB erst nach der Verurteilung im Ausgangsfall „erkennbar“ geworden, also
„neu“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wären.
Bei der Bestimmung der danach beachtlichen Tatsachen müssen
Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, von vornherein außer
Betracht bleiben. Darüber hinaus haben solche Umstände auszuscheiden,
die der frühere Tatrichter zwar nicht erkannt hat, die er aber hätte erkennen
können; denn „erkennbar“ im hier relevanten Sinn sind auch solche Tatsa-
chen, die der Tatrichter nach dem Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO zur Fin-
dung einer Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden
Maßregel zu erforschen hatte und bei hinreichender Aufklärung gefunden
hätte. Rechtsfehler, die durch Nichtberücksichtigung von Tatsachen der ge-
nannten Art entstanden sind, können nicht durch eine Entscheidung nach
§ 66b StGB korrigiert werden (BGH NStZ 2005, 561, 562 m. Anm. Ul-
lenbruch; BGH NJW 2005, 3078, 3080; BGH StV 2006, 66; BGH, Beschl.
vom heutigen Tage – 5 StR 585/05; sämtlich zur Veröffentlichung in BGHSt
vorgesehen).
6
Eine derartige „Erkennbarkeit“ der früheren Verurteilung durch das
Landgericht Osnabrück war im Zeitpunkt des Urteils des Landgerichts Ham-
burg vom 8. Oktober 1990 gegeben. Wenngleich der damals vorliegende
Strafregisterauszug das Urteil des Landgerichts Osnabrück nicht auswies
und die Akten des Osnabrücker Verfahrens nicht auffindbar waren, wusste
die Strafkammer des Landgerichts Hamburg vom Urteil des Landgerichts
Osnabrück. Der Vorsitzende hatte sich erfolglos um die Beschaffung der Ak-
ten, hilfsweise der beim Sachverständigen befindlichen Kopien bemüht, der
Angeklagte hatte die Verurteilung durch das Landgericht Osnabrück gar
selbst genannt. Bei alledem war das Landgericht Hamburg nach § 244
Abs. 2 StPO gehalten, die dem Urteil des Landgerichts Osnabrück zugrunde
liegende Tat festzustellen und in seine Urteilsfindung einzubeziehen. Damit
ist es ausgeschlossen, diese Tat als Anknüpfungstatsache für eine Entschei-
dung nach § 66 b StGB heranzuziehen. Mithin ist es auch ausgeschlossen,
7
- 5 -
die Erkenntnisse des Sachverständigen F. , der in seinem Gutachten
„erstmals die Gesamtheit aller Tötungsdelikte“ bewertet hat, insoweit als
„neue“ Tatsachen zu berücksichtigen, als er auf die dem Urteil des Landge-
richts Osnabrück zugrunde liegende Tat abgestellt hat.
III.
Zum weiteren Verfahren weist der Senat auf seinen Beschluss vom
heutigen Tage – 5 StR 585/05 hin.
8
Harms Häger Raum
Brause Schaal