Urteil des BGH vom 09.11.2000

BGH (zpo, lvg, belastung, höhe, schaden, gewinn, behauptung, verhandlung, stand, stoff)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IX ZR 310/99
Verkündet am:
9. November 2000
Bürk
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 9. November 2000 durch die Richter Dr. Kreft, Stodolkowitz, Dr. Zugehör,
Dr. Ganter und Raebel
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. Juli 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung
- auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt den verklagten Notar wegen Amtspflichtverletzung
bei einer Beurkundung auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Beklagte beurkundete am 23. Oktober 1992 einen Vertrag, mit wel-
chem die Klägerin von J. F. zwei Eigentumswohnungen für jeweils 140.000 DM
kaufte. Das Eigentum sollte frei von in Abteilung III des Grundbuchs eingetra-
genen Rechten übergehen. Die Klägerin erwarb nicht lastenfrei, weil der Be-
klagte eine Grundschuld in Höhe von 300.000 DM übersah. Diese löste der
Beklagte später mit eigenen Mitteln ab.
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Am 14. Dezember 1994 - als die Grundschuld noch eingetragen war -
schloß die Klägerin mit der LVG-GmbH & Co KG (im folgenden: LVG) zwei
notarielle Kaufverträge. Danach wollte die LVG die Wohnungen für jeweils
160.000 DM erwerben. Für den Fall, daß die Klägerin ihr nicht bis zum Ablauf
des 29. Dezember 1994 das Vorliegen der Löschungsbewilligung hinsichtlich
der Grundschuld nachweisen würde, behielt sich die LVG Rücktrittsrechte vor.
Da die Klägerin die Löschungsbewilligung nicht rechtzeitig erhielt, machte die
LVG mit Telefax vom 30. Dezember 1994, 15.10 Uhr, von diesen Rechten Ge-
brauch.
Die Grundschuld wurde am 29. Mai 1995 gelöscht. Die Klägerin ver-
kaufte die eine Wohnung am 15. August 1995 für 95.000 DM und die andere
am 21. Mai 1997 für 84.000 DM weiter.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin von dem Beklagten 141.000 DM für ent-
gangenen Gewinn, 3.152,03 DM für die Kosten der nutzlosen Beurkundungen
vom 14. Dezember 1994 und 39.933,76 DM für Zinsbelastungen verlangt. Das
Landgericht hat der Klage mit Ausnahme der zuletzt genannten Position statt-
gegeben. Das Oberlandesgericht hat die Verurteilungssumme um 40.000 DM
auf 104.152,03 DM gekürzt. Mit seiner Revision begehrt der Beklagte die voll-
ständige Klageabweisung.
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Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung – teils durch Bezugnahme
auf das erstinstanzliche Urteil - folgendermaßen begründet:
Der Beklagte habe eine schuldhafte Amtspflichtverletzung begangen,
indem er bei den Beurkundungen nicht auf die vorhandene Belastung hinge-
wiesen habe. Daraus ergebe sich aber kein Anspruch auf entgangenen Ge-
winn, weil die Klägerin – die nach eigenem Bekunden die Wohnungen nicht
gekauft hätte, wenn ihr die Grundschuld bekannt gewesen wäre – bei pflicht-
gemäßem Verhalten des Beklagten nicht in die Lage versetzt worden wäre, die
Wohnungen gewinnbringend weiterzuverkaufen. Die vom Landgericht in Höhe
von 141.000 DM zugesprochene erste Schadensposition sei deshalb nur in
Höhe von 101.000 DM gerechtfertigt. Insofern gehe es nicht um entgangenen
Gewinn. Die Klägerin könne auch Ersatz für die Kosten der Beurkundungen
vom 14. Dezember 1994 verlangen. Ihr Versuch, die Wohnungen an die LVG
weiterzuverkaufen, sei durch das haftungsbegründende Ereignis herausgefor-
dert worden und stelle eine nicht ungewöhnliche Reaktion auf dieses dar.
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II.
Entgegen der Ansicht der Revision liegt der absolute Revisionsgrund
des § 551 Nr. 7 ZPO nicht vor.
Das Berufungsgericht hat gemeint, sich mit solchen Voraussetzungen
des Schadensersatzanspruchs nicht befassen zu müssen, zu denen sich das
Landgericht geäußert habe und die mit der Berufung nicht angegriffen worden
seien. Entsprechendes gelte für Einwendungen des Beklagten, die das Land-
gericht nicht für durchgreifend erachtet habe, soweit es an Angriffen der Beru-
fung hiergegen fehle.
Das offenbart - wie die Revision zutreffend rügt - falsche Vorstellungen
über den Prozeßstoff der zweiten Instanz. Was der Prüfung durch das Beru-
fungsgericht unterfällt, ergibt sich nicht aus § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO, sondern
aus §§ 525 f, 537 ZPO. Durch eine zulässige Berufung wird die erneute sachli-
che und rechtliche Prüfung des Klageanspruchs uneingeschränkt eröffnet
(BGH, Urt. v. 8. November 1991 – V ZR 260/90, BGHR ZPO § 537 – Rechts-
anwendung 1; v. 17. März 1994 – IX ZR 102/93, NJW 1994, 1656, 1657 unter
III 2). Das Berufungsgericht hat auf das Rechtsmittel des verurteilten Beklagten
sein gesamtes Vorbringen zu berücksichtigen, soweit es - durch Vortrag in der
zweiten Instanz oder Bezugnahme auf das erstinstanzliche Vorbringen (BGH,
Urt. v. 7. Mai 1992 - IX ZR 151/91, BGHR ZPO § 537 – Streitpunkt 1) - Prozeß-
stoff geworden ist (vgl. ferner Rimmelspacher, in: MünchKomm-ZPO, § 537
Rdnr. 21; Musielak/Ball, ZPO 2. Aufl. § 519 Rdnr. 33 und § 537 Rdnr. 8 f). Eine
besondere, auf einzelne Streitpunkte bezogene Rüge ist nicht erforderlich, so-
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fern nur die Berufung zulässig ist. Letzteres hat das Berufungsgericht – zu
Recht – nicht in Zweifel gezogen.
Der Rechtsirrtum des Berufungsgerichts wirkt sich jedoch im Rahmen
des § 551 Nr. 7 ZPO nicht aus, weil es sich letztlich die Ausführungen im Er-
sturteil zu eigen gemacht hat. Das angefochtene Urteil enthält deshalb eine
vollständige Begründung. Wenn diese in einzelnen Punkten rechtsfehlerhaft ist
(vgl. unten III. 2 b, c und f), ist dies für § 551 Nr. 7 ZPO unerheblich (vgl. BGHZ
39, 333, 338; BGH, Urt. v. 11. März 1983 – V ZR 287/81, WM 1983, 658, 660
unter 4 b).
III.
Dennoch hält das Berufungsurteil einer rechtlichen Überprüfung nicht
stand.
1. Soweit in dem Übersehen einer im Grundbuch eingetragenen Bela-
stung eine schuldhafte notarielle Amtspflichtverletzung (§ 19 Abs. 1 BNotO,
§ 21 BeurkG) gesehen worden ist, läßt das Berufungsurteil allerdings keinen
Rechtsfehler erkennen. Gegenteiliges macht auch die Revision nicht geltend.
2. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand kann aber nicht davon
ausgegangen werden, daß der Klägerin durch die Amtspflichtverletzung ein
Schaden in Höhe von 101.000 DM und 3.152,03 DM entstanden ist.
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a) Für die Ermittlung des Vermögensschadens aus einer notariellen
Amtspflichtverletzung ist die sogenannte Differenzhypothese maßgeblich. Ein
Schaden liegt danach vor, wenn die infolge des haftungsbegründenden Ereig-
nisses eingetretene Vermögenslage des Betroffenen schlechter ist als diejeni-
ge, die sich ohne jenes Ereignis ergeben hätte (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH, Urt.
v. 18. November 1999 – IX ZR 402/97, WM 2000, 35, 38; v. 18. November
1999 – IX ZR 153/98, WM 2000, 193, 196; v. 6. Juli 2000 – IX ZR 88/98,
WM 2000, 1808, 1809). Maßgebender Zeitpunkt für den Vermögensvergleich
ist im Schadensersatzprozeß die letzte mündliche Tatsachenverhandlung
(BGH, Urt. v. 14. März 1985 – IX ZR 26/84, NJW 1986, 1329, 1332).
b) Die Klägerin hat geltend gemacht, sie hätte die Wohnungen im Jahre
1992 nicht gekauft, wenn der Beklagte das Bestehen der dinglichen Belastung
offengelegt hätte. Dann hätte die Klägerin den Kaufpreis von 280.000 DM - der
beim Wiederverkauf nur in Höhe von 179.000 DM an sie zurückgeflossen ist -
in ihrem Vermögen behalten.
Allerdings wären der Klägerin dann auch die Mieteinnahmen, die von ihr
selbst mit 820 DM monatlich angegeben worden sind, entgangen. Die Nichtbe-
rücksichtigung dieser Einnahmen durch das Berufungsgericht ist - wie die Re-
vision mit Recht geltend macht - fehlerhaft.
c) Nach der Behauptung des Beklagten, die das Berufungsgericht - wie
die Revision zu Recht rügt - übergangen hat, hätte die Klägerin die Wohnun-
gen trotzdem gekauft. Für diesen - in der Revisionsinstanz zu unterstellenden -
Fall hat die Klägerin nicht vorgetragen, daß der im Rahmen der Differenzhy-
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pothese vorzunehmende Vermögensvergleich ebenfalls einen Schaden ergä-
be.
d) Daß die Klägerin im Jahre 1992 für den Erwerb der Wohnungen tat-
sächlich 280.000 DM aufgewendet hat, ist nicht in erheblicher Weise bestritten.
Der Vortrag, ein Kaufpreisanteil von 80.000 DM sei an die Ehefrau des Ge-
schäftsführers der Klägerin gezahlt worden, gestattet nicht ohne weiteres den
Schluß darauf, die Klägerin habe im wirtschaftlichen Ergebnis nur 200.000 DM
gezahlt.
e) Ein vom Landgericht erhobenes Sachverständigengutachten hat die
Behauptung des Beklagten bestätigt, daß die Wohnungen von der Klägerin
überteuert angekauft worden sind. Sie waren am 23. Oktober 1992 insgesamt
nur 184.000 DM (91.000 DM und 93.000 DM) wert.
Auch dieser Umstand ist für die Schadensermittlung unerheblich. Nach
Ansicht der Revision soll die notarielle Pflicht, die Urkundsbeteiligten auf
grundbuchmäßige Belastungen des Kaufgegenstands hinzuweisen, den Er-
werber nicht davor schützen, daß er eine Immobilie ankauft, die - unabhängig
von der dinglichen Belastung - ihren Preis nicht wert ist. Diese Meinung teilt
der Senat nicht. Bei den Beurkundungen am 23. Oktober 1992 hatte der ver-
klagte Notar über die Voraussetzungen zu belehren, von denen der allseits
gewünschte rechtliche Erfolg des Geschäfts - lastenfreie Übertragung des Ei-
gentums - abhing (§ 17 Abs. 1 BeurkG). Die vorhandene Belastung stand die-
sem Erfolg entgegen. Sie verhinderte, wenn es dem Verkäufer nicht gelang, die
Belastung zur Löschung zu bringen, auch einen gewinnbringenden Weiterver-
kauf. Die Aussicht darauf darf dem Käufer selbst dann nicht genommen wer-
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den, wenn sie - weil er überteuert erworben hat - gering erscheint. Im vorlie-
genden Fall wäre es der Klägerin Ende 1994 beinahe gelungen, die Wohnun-
gen zu einem Preis zu veräußern, der nicht nur den Schaden beseitigt, son-
dern sogar einen Gewinn abgeworfen hätte.
f) Erheblich ist demgegenüber der Mitverschuldenseinwand. Wenn die
- für die Klägerin äußerst günstigen - Kaufverträge vom 14. Dezember 1994
durchgeführt worden wären, wäre aus dem Notarfehler über den Schaden hin-
aus, den der Beklagte durch Ablösung der Grundpfandlast beseitigt hat, kein
Nachteil entstanden. Daß die Verträge gescheitert sind, kann auf dem Mitver-
schulden der Klägerin beruhen (§ 254 Abs. 2 Alt. 2 BGB).
Nach dem – bislang, soweit ersichtlich, unbestritten gebliebenen – Vor-
trag des Beklagten wurde er von der Klägerin nicht über den genauen Inhalt
der beiden am 14. Dezember 1994 beurkundeten Kaufverträge unterrichtet.
Insbesondere hatte er von der knapp bemessenen Rücktrittsfrist keine Kennt-
nis. Den Zeitpunkt des Fristablaufs durfte die Klägerin dem Beklagten nicht
vorenthalten. Zwar hatten ihre Anwälte ihm unter dem 28. November 1994 ge-
schrieben, die Klägerin werde die Immobilien bis spätestens 15. Dezember
1994 veräußern. Gleichzeitig hatten sie angekündigt, dem Käufer werde ein
Rücktrittsrecht für den Fall eingeräumt werden, daß der Erwerb nicht lastenfrei
erfolgen könne. Die Länge der Frist, innerhalb deren das Rücktrittsrecht aus-
zuüben war, hatten sie aber nicht mitgeteilt. Es bestand deshalb die Gefahr,
daß der Beklagte die Freistellung der Immobilien von der Grundschuld nicht
fristgemäß bewirkte, obwohl ihm dies grundsätzlich möglich gewesen wäre.
Daß der Beklagte mit Anwaltsschreiben vom 8. Dezember 1994 in Aussicht
gestellt hatte, die Abwicklung werde ”noch in diesem Jahr” erfolgen, durfte die
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Klägerin nicht zum Anlaß nehmen, dem Beklagten zu verschweigen, daß die
von ihr mit dem Erwerber vereinbarte Frist bereits am 29. Dezember 1994 ab-
laufe.
Erheblich ist ferner der – unbestritten gebliebene - Vortrag des Beklag-
ten, seine Anwälte hätten mit Schreiben vom 27. Dezember 1994 den gegneri-
schen Anwälten mitgeteilt, die Löschungsbewilligung sei ”heute bei uns einge-
gangen”. Man dürfe aber erst darüber verfügen, wenn die Abfindungszahlung,
deren Überweisung sofort veranlaßt worden sei, bei der Grundpfandgläubigerin
eingegangen sei. Sobald die Grundpfandgläubigerin den Eingang der Zahlung
bestätige, werde die Löschungsbewilligung an die Anwälte der Klägerin weiter-
geleitet werden. Dies werde innerhalb weniger Tage der Fall sein. Dieses
Schreiben ist am 29. Dezember 1994 bei den Anwälten der Klägerin eingegan-
gen. In Anbetracht des Umstands, daß der Beklagte und seine anwaltlichen
Vertreter nicht wissen konnten, daß die Rücktrittsfrist an eben diesem Tage
ablief, wären die Anwälte der Klägerin verpflichtet gewesen, die Gegenseite –
telefonisch, durch Fax oder E-Mail – darauf aufmerksam zu machen, daß alles,
was später erfolgte, zu spät sein würde. Eine solche Nachricht ist unterblieben.
Wäre sie erfolgt, hätte die Zahlung möglicherweise – zum Beispiel durch ”Blitz-
Giro” – beschleunigt werden können. Wäre sie spätestens am 30. Dezember
1994 bei der Grundpfandgläubigerin eingegangen und hätte der Beklagte dar-
aufhin der LVG noch an diesem Tage - vor Absendung des Telefax - bestätigt,
daß ihm die Löschungsbewilligung ”verfügungsfrei” vorliege, wäre die Aus-
übung des Rücktrittsrechts bereits ausgeschlossen gewesen (§ 3 C Abs. 1
Satz 3 der Kaufverträge).
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IV.
Das Berufungsurteil ist somit aufzuheben (§ 564 Abs. 1 ZPO). Die Sa-
che ist, weil noch nicht entscheidungsreif, an das Berufungsgericht zurückzu-
verweisen (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dieses wird nunmehr zu prüfen haben,
ob die Einwendungen des Beklagten (oben III 2 c und f) begründet sind.
Kreft
Stodolkowitz
Zugehör
Ganter
Raebel