Urteil des BGH vom 22.01.2014

BGH: eintritt des versicherungsfalles, versicherung zugunsten dritter, allgemeine versicherungsbedingungen, bezugsrecht, beendigung, anwartschaft, avb, widerruf, versicherungsnehmer, versicherter

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 127/12
Verkündet am:
22. Januar 2014
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin Mayen, die Richter Wendt, Felsch, Lehmann und die Richterin
Dr. Brockmöller auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2014
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 7. Zi-
vilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 15. März
2012 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revision s-
verfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Bezugsberechtigung aus Rentenvers i-
cherungen, die die Fa. B. GmbH (im Folgenden: Versi-
cherungsnehmerin) bei der Beklagten im Rahmen eines Gruppenvers i-
cherungsvertrages mit Wirkung ab 1. Januar 2008 für neun ihrer Arbeit-
nehmer abgeschlossen hatte.
Zum Bezugsrecht heißt es in den der Versicherung zugrunde li e-
genden Allgemeinen Versicherungsbedingungen (im Folgenden kurz:
AVB) der Beklagten:
"Aus der Versicherung ist der Arbeitnehmer unter nachfo l-
gendem Vorbehalt hinsichtlich sämtlicher Leistungen unwi-
derruflich bezugsberechtigt. Wenn das Arbeitsverhältnis vor
Eintritt des Versicherungsfalles endet und der Arbeitnehmer
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zu diesem Zeitpunkt noch keine unverfallbare Anwartschaft
hat, hat der Arbeitgeber das Recht, alle künftig fällig wer-
denden Versicherungsleistungen für sich in Anspruch zu
nehmen. Unverfallbar ist die Anwartschaft dann, wenn der
Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Ausscheidens das 30. L e-
bensjahr vollendet hat und die Versicherung 5 Jahre mit
uns als Versicherungsnehmer bestanden hat."
Über das Vermögen der Versicherungsnehmerin wurde am 1. Juli
2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Aus diesem Grunde endeten die
Arbeitsverhältnisse der neun versicherten Arbeitnehmer noch im selben
Jahr. Der zum Insolvenzverwalter der Versicherungsnehmerin bestellte
Kläger begehrt in dieser Eigenschaft die Auszahlung der Rückkaufswerte
der neun
Versicherungen in Höhe von insgesamt 8.090,18 € sowie ferner
die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten.
Dabei ist unstreitig, dass noch keiner der betroffenen Arbeitnehmer
eine im Sinne der AVB unverfallbare Anwartschaft erworben hat. Streit
besteht darüber, ob die Klausel zum Bezugsrecht einschränkend dahin
auszulegen ist, dass der Vorbehalt nicht in den Fällen ins olvenzbeding-
ten Ausscheidens des Arbeitnehmers gilt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; das Oberlandesgericht
hat ihr stattgegeben. Dagegen wendet sich die Revision der Beklagten,
die die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache
an das Berufungsgericht.
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I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass dem Kläger das B e-
zugsrecht zustehe, nachdem er mit der Kündigung der Verträge auch die
ursprüngliche Bezugsberechtigung der jeweiligen Arbeitnehmer wirksam
widerrufen habe.
Im Verfahren 3 AZR 334/06 sei durch Vorlage an den Gemeins a-
men Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (im Folgenden kurz:
Gemeinsamer Senat) geklärt, dass die Vertragsklausel über die einge-
schränkt unwiderrufliche Bezugsberechtigung des Arbeitnehmers so
auszulegen sei, dass der Vorbehalt "ohne weiteres" auch die insolvenz-
bedingte Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfasse. Es komme des-
halb entscheidend darauf an, ob sich "außerhalb des Wortlautes" der
Klausel Umstände fänden, die ein anderes Verständnis des Vorbehalts
geböten. Das sei nicht der Fall. Die von der Beklagten dargelegten Int e-
ressen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern begründeten derartige Um-
stände nicht, sondern seien solche, die sich gerade "ohne weiteres" aus
dem Vorbehalt ergäben.
Das im Vorlageverfahren an den Gemeinsamen Senat herbeige-
führte Einvernehmen bedeute insofern eine Abkehr von der früheren
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in dessen Urteilen vom 8. Juni
2005 (IV ZR 30/04, NJW-RR 2005, 1412) und vom 3. Mai 2006 (IV ZR
134/05, NJW-RR 2006, 1258).
II. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsge-
richt hat bei seiner Auslegung des Bezugsrechtsvorbehalts die Interes-
sen der Beteiligten zu Unrecht nicht berücksichtigt.
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1. Im Ansatz zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon
ausgegangen, dass der Erfolg der Klage davon abhängt, ob die Rechte
aus den Versicherungsverträgen der Masse zustehen, weil bezügli ch des
Bezugsrechts noch eine Widerrufsmöglichkeit bestand, oder ob sie zum
Vermögen der Arbeitsnehmer gehören und ihnen ein Aussonderung s-
recht zusteht. Dabei steht das eingeschränkt unwiderrufliche Bezug s-
recht einem uneingeschränkt unwiderruflichen Bezugs recht in wirtschaft-
licher und rechtlicher Hinsicht gleich, solange die tatbestandlichen V o-
raussetzungen des vereinbarten Vorbehalts nicht erfüllt sind (Senatsu r-
teile vom 8. Juni 2005 - IV ZR 30/04, VersR 2005, 1134 unter II 2; vom
3. Mai 2006 - IV ZR 134/05, VersR 2006, 1059 Rn. 10; BAGE 134, 372
Rn. 23).
Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt - da die Arbeits-
verhältnisse hier beendet sind und Unverfallbarkeit der Anwartschaften
noch nicht gegeben war - allein davon ab, ob die Klausel einschränkend
dahin auszulegen ist, dass sie die Fälle insolvenzbedingter Kündigung
des Arbeitsverhältnisses nicht erfasst.
2. Bei der Klausel zur Bezugsberechtigung handelt es sich um e i-
nen Bestandteil der AVB der Beklagten. Nach gefestigter Rechtspr e-
chung des Senats sind Allgemeine Versicherungsbedingungen so auszu-
legen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständi-
ger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des e r-
kennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf
die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne vers i-
cherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch - auf seine Inte-
ressen an. Liegt - wie hier - ein Gruppenversicherungsvertrag und damit
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eine Versicherung zugunsten Dritter vor, so komm t es daneben auch auf
die Verständnismöglichkeiten durchschnittlicher Versicherter und ihre I n-
teressen an (Senatsurteil vom 8. Mai 2013 - IV ZR 233/11, VersR 2013,
853 Rn. 40 m.w.N.; st. Rspr.).
a) Dabei werden sowohl die Versicherungsnehmerin als auc h die
Versicherten zunächst vom Wortlaut der Bedingung ausgehen. Insoweit
schließt der Vorbehalt zum Widerruf der Bezugsberechtigung bei Bee n-
digung des Arbeitsverhältnisses vor eingetretener Unverfallbarkeit der
Anwartschaft die Fälle insolvenzbedingter Beendigung "ohne weiteres"
ein, weil der Wortlaut nicht auf den Beendigungsgrund abstellt (vgl. die
Stellungnahme des Senats im Verfahren GmS-OGB 2/07 vom 21. August
2009, wiedergegeben in BAGE 134, 372 Rn. 44).
b) Hierauf darf sich die Auslegung jedoch nicht beschränken. Auch
in Fällen insolvenzbedingter Beendigung ist zu fragen, ob der erkennb a-
re Sinnzusammenhang der Klausel unter Berücksichtigung der Intere s-
sen von Versicherungsnehmern und Versicherten eine von einem reinen
Wortlautverständnis abweichende Interpretation gebietet.
aa) Insoweit hat der Senat - wie das Berufungsgericht noch zutref-
fend erkennt - schon in seiner früheren Rechtsprechung entscheidend
darauf abgestellt, dass dem Arbeitnehmer bei einer nur am Wortlaut ori-
entierten Auslegung die erworbenen Versicherungsansprüche auch in
den Fällen entzogen würden, die sich seiner Einflussnahme entziehen
und auch sonst nicht seiner Sphäre zuzuordnen sind, sowie dass sich
der Arbeitgeber mit dem Vorbehalt auch der weiteren Betriebstreue des
Arbeitnehmers vergewissern wolle, wofür es aber genüge, dass der Vo r-
behalt solche Beendigungsgründe erfasst, die neben der freiwilligen Au f-
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gabe des Arbeitsplatzes auch sonst auf die Person und das betriebliche
Verhalten des Arbeitnehmers zurückzuführen sind (Urteile vom 8. Juni
2005 - IV ZR 30/04, VersR 2005, 1134 unter II 3 b; vom 3. Mai 2006 - IV
ZR 134/05, VersR 2005, 1059 Rn. 14 ff.). Bei dieser Interessenlage der
Arbeitnehmer einerseits und des Arbeitgebers andererseits, die dem
Vorbehalt regelmäßig zugrundeliegt, handelt es sich um einen außerhalb
des Wortlauts liegenden Umstand.
Maßgeblich für die Auslegung des Vorbehalts ist dabei allein die
Interessenlage, wie sie sich im Zeitpunkt der Begründung des Versich e-
rungsschutzes darstellt, so dass die Interessen von Insolvenzgläubigern
nach der erst später erfolgten Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine
Rolle spielen können.
bb) Die Berücksichtigung vorgenannter Gesichtspunkte bei der
Auslegung des Vorbehalts hat das Berufungsgericht indes abgeleh nt,
weil es zu Unrecht der Auffassung ist, der Senat habe die vorgenannte
Rechtsprechung aufgegeben.
Das ist weder im Vorlageverfahren vor dem Gemeinsamen Senat
noch danach geschehen. Der Senat hat in seiner Stellungnahme im Ver-
fahren GmS-OGB 2/07 (aaO) im Gegenteil ausdrücklich klargestellt, dass
Auslegungsgesichtspunkte außerhalb des Wortlauts, die ein anderes
Verständnis gebieten könnten, von seiner Bejahung der präzisierten Vor-
lagefrage nicht berührt würden, weil diese Frage ausschließlich aufgrund
des in der Frage gegebenen Wortlauts zu beantworten sei und beantwo r-
tet werde. Damit ist auch in diesem Vorlageverfahren das Primat der
Auslegung klargestellt worden, und der Senat hat danach weiter daran
festgehalten, dass es jeweils der Auslegung im Ein zelfall bedarf, wann
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die tatbestandlichen Voraussetzungen eines solchen Vorbehalts erfüllt
sind (Senatsurteil vom 2. Dezember 2009 - IV ZR 65/09, VersR 2010,
517 Rn. 10; Senatsbeschluss vom 6. Juni 2012 - IV ZA 23/11, NZI 2012,
762 Rn. 3).
cc) Dies steht nicht im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bun-
desarbeitsgerichts. Dieses hat vielmehr ebenfalls ausgeführt, dass Um-
stände außerhalb der Urkunde bei der Auslegung zu berücksichtigen
sind und daher eine Auslegung im Einzelfall geboten ist (BAGE 134, 372
Rn. 46 und 48). Zu diesen Umständen zählt die das Verständnis des
durchschnittlichen Versicherungsnehmers beeinflussende Interessenlage
der Vertragsparteien und der Versicherten bei Vertragsschluss. Dagegen
wird sein Verständnis vom Inhalt einer versicherun gsvertraglichen Be-
zugsrechtserklärung regelmäßig nicht entscheidend von der - ihm in der
Regel unbekannten - gesetzlichen Bestimmung des § 1b BetrAVG beein-
flusst, die dem Arbeitgeber einen Widerruf des Bezugsrechts erst ab Ei n-
tritt der Unverfallbarkeit verbietet.
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III. Das Berufungsgericht wird daher, ggf. nach ergänzendem Vor-
trag der Parteien, erneut zu prüfen haben, ob unter Berücksichtigung
dieser Interessen eine von einem reinen Wortlautverständnis abwe i-
chende Interpretation der Bezugsrechtsklausel geboten ist oder ob ande-
re Gesichtspunkte vorliegen, die auch unter Berücksichtigung dieser I n-
teressen ein Festhalten am Wortlaut gebieten.
Mayen Wendt Felsch
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
LG Stuttgart, Entscheidung vom 11.11.2011 - 22 O 393/11 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 15.03.2012 - 7 U 231/11 -
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