Urteil des BGH vom 12.12.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I ZR 65/13
Verkündet am:
12. Dezember 2013
Führinger
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
CIV Art. 36 §§ 1 und 3 Buchst. a
a) Ein Eisenbahnunternehmen haftet im grenzüberschreitenden Autoreisezug-
verkehr gemäß Art. 36 § 1 CIV grundsätzlich verschuldensunabhängig für
Schäden, die im Obhutszeitraum am Kraftfahrzeug eines Fahrgastes entste-
hen.
b) Der Haftungsausschlussgrund des Art. 36 § 3 Buchst. a CIV (Fehlen oder
Mängel der Verpackung) umfasst nicht die mit der Beförderung in offenen
Wagen verbundene besondere Gefahr.
BGH, Urteil vom 12. Dezember 2013 - I ZR 65/13 - LG Dortmund
AG Dortmund
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 12. Dezember 2013 durch die Richter Prof. Dr. Büscher, Pokrant,
Prof. Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff und Dr. Koch
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 1. Zivilkammer
des Landgerichts Dortmund vom 5. März 2013 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts
Dortmund vom 30. März 2011 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Rechtsmittel.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen Beschädigung seines Pkw wäh-
rend dessen Beförderung mit einem Auto-Zug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger buchte bei der Beklagten den Transport seines Kraftfahr-
zeugs am 26. Juni 2007 von Narbonne in Frankreich nach Kornwestheim in
Deutschland. Das Fahrzeug wurde in Frankreich für die Beförderung nach
Deutschland auf einen offenen Transportwaggon verladen. Bei der Abholung
am Zielort hatte das Fahrzeug ein Loch in der Windschutzscheibe, Kratzer im
Lack hinter der Fahrertür, eine zerkratzte Stoßstange und ein beschädigtes
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Rücklicht. Zwischen den Parteien ist streitig, wann und unter welchen Umstän-
den die Schäden verursacht wurden.
Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte hafte für die bei der Abholung
des Fahrzeugs am Ankunftsort festgestellten Schäden. Er hat die Beklagte
deshalb auf Zahlung von 1.511,01
€ nebst Zinsen und Erstattung vorgerichtlich
entstandener Rechtsanwaltskosten in Höhe von 261,21
€ in Anspruch genom-
men.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat geltend gemacht,
die behaupteten Schäden resultierten aus der besonderen Gefahr einer Beför-
derung mit offenen Wagen, für deren Folgen sie nicht einzustehen habe.
Das Berufungsgericht hat die in erster Instanz zum überwiegenden Teil
erfolgreiche Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt, erstrebt der Kläger die
Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat angenommen, dem Kläger stehe der geltend
gemachte Schadensersatzanspruch nicht zu. Dazu hat es ausgeführt:
Die Beklagte sei von ihrer grundsätzlich gemäß Art. 36 § 1 der Einheitli-
chen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbe-
förderung von Personen (BGBl. II 2002, 2140, 2190 ff. - CIV) bestehenden Haf-
tung nach Art. 36 § 3 Buchst. a und b CIV befreit. Die Formulierung "Fehlen
oder Mängel der Verpackung" in Art. 36 § 3 Buchst. a CIV umfasse auch den
Fall der "Offenen-Wagen-Gefahr". Die auf offenen Waggons verladenen Fahr-
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zeuge hätten - sofern es sich nicht um Neufahrzeuge ab Werk handele - übli-
cherweise keine Verpackung und müssten eine solche auch nicht haben. Der
Wortlaut des Art. 36 § 3 Buchst. a CIV erfasse gerade auch die mit einer Beför-
derung auf offenen Wagen einhergehenden Gefahren. Die zugunsten der Be-
klagten streitende Beweisvermutung des Art. 37 § 2 Satz 1 CIV habe der be-
weisbelastete Kläger nicht widerlegt.
II. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Revision des Klägers hat Er-
folg. Sie führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich die
Haftung der Beklagten für die vom Kläger geltend gemachten Schäden an sei-
nem Pkw nach den Vorschriften der CIV beurteilt. Gemäß Art. 1 § 1 CIV gelten
die Einheitlichen Rechtsvorschriften für jeden Vertrag über die entgeltliche oder
unentgeltliche Beförderung von Personen auf der Schiene, wenn der Abgangs-
und der Bestimmungsort in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten - im vorliegen-
den Fall Frankreich und Deutschland - liegen. Wird für die Beschädigung eines
mitbeförderten Fahrzeugs Schadensersatz geltend gemacht, kommen gemäß
Art. 47 CIV die Bestimmungen über die Haftung für Reisegepäck (Art. 36 bis
Art. 43 CIV) zur Anwendung.
2. Nach Art. 36 § 1 CIV haftet der Beförderer unabhängig davon, ob ihn
ein Verschulden trifft, unter anderem für den Schaden, der durch Beschädigung
des Reisegepäcks in der Zeit von der Übernahme durch den Beförderer bis zur
Auslieferung entsteht. Das Reisegepäck muss während der Beförderung auf
der Schiene beschädigt worden sein.
Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit dem Amtsgericht davon
ausgegangen, dass die bei der Abholung des Fahrzeugs am Zielort Kornwest-
heim festgestellten Schäden zum Zeitpunkt der Übernahme des Pkw durch die
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Beklagte noch nicht vorlagen. Sie konnten daher nur während der Haftungszeit
der Beklagten entstanden sein mit der Folge, dass die Voraussetzungen für
eine Haftung gemäß Art. 36 § 1 CIV erfüllt sind. Von der Revisionserwiderung
wird dagegen auch nichts erinnert.
3. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die Haftung der Be-
klagten für die streitgegenständlichen Schäden nicht ausgeschlossen.
a) Einen Haftungsausschluss gemäß Art. 36 § 2 CIV hat das Berufungs-
gericht im Ergebnis zutreffend verneint. Nach dieser Vorschrift ist der Beförde-
rer von der Haftung gemäß Art. 36 § 1 CIV befreit, soweit die Beschädigung
durch Umstände verursacht worden ist, die der Beförderer nicht vermeiden und
deren Folgen er nicht abwenden konnte. Der Beweis dafür, dass die Beschädi-
gung durch eine der in Art. 36 § 2 CIV erwähnten Tatsachen verursacht wurde,
obliegt gemäß Art. 37 § 1 CIV dem Beförderer. Demgemäß muss dieser im Ein-
zelnen darlegen, dass der eingetretene Schaden auch durch Anwendung äu-
ßerster wirtschaftlich zumutbarer Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (vgl.
zu der mit Art. 36 § 2 CIV inhaltsgleichen Bestimmung des Art. 23 § 2 CIM
MünchKomm.HGB/Freise, 2. Aufl., Art. 23 CIM Rn. 22).
Die Vorinstanzen haben angenommen, die Beklagte habe lediglich pau-
schal behauptet, die festgestellten Schäden könnten auch durch Steinschlag
oder Vandalismus entstanden sein, was für einen Haftungsausschluss nach
Art. 36 § 2 CIV nicht ausreiche. Das lässt keinen Rechtsfehler erkennen und
wird von der Revisionserwiderung auch nicht beanstandet.
b) Mit Erfolg wendet sich die Revision gegen die Ansicht des Berufungs-
gerichts, die Haftung der Beklagten für die streitgegenständlichen Schäden sei
gemäß Art. 36 § 3 Buchst. a und b CIV ausgeschlossen.
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aa) Nach Art. 36 § 3 Buchst. a CIV ist der Beförderer von der Haftung
gemäß Art. 36 § 1 CIV befreit, soweit die Beschädigung aus der besonderen
Gefahr entstanden ist, die mit dem Fehlen einer Verpackung verbunden ist.
Das Berufungsgericht hat angenommen, der Wortlaut des Art. 36 § 3
Buchst. a CIV umfasse auch den Fall einer "Offenen-Wagen-Gefahr". Die auf
einem Autoreisezug beförderten Fahrzeuge hätten üblicherweise keine Verpa-
ckung und müssten eine solche im Regelfall auch nicht haben, weil das Ge-
fährdungspotential beim Transport auf einem Autoreisezug nicht höher sei als
bei einer Nutzung des Fahrzeugs im normalen Straßenverkehr. Die Beförde-
rung auf der Schiene sei nur ein Ersatz für die Benutzung des Fahrzeugs auf
der Straße.
Dieser Beurteilung des Berufungsgerichts vermag der Senat nicht beizu-
treten. Die Revision rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Regelungen
zu Haftungsausschlüssen des Beförderers in anderen internationalen Trans-
portrechtsübereinkommen nicht genügend berücksichtigt hat. In Art. 23 § 3
CIM, der bei der internationalen Eisenbahnbeförderung von Gütern zur Anwen-
dung kommt, wird hinsichtlich eines Haftungsausschlusses des Beförderers
ausdrücklich zwischen der Beförderung des Gutes in offenen Wagen und dem
Fehlen einer Verpackung des Gutes unterschieden. Eine gleichartige Differen-
zierung findet sich auch in Art. 17 Abs. 4 Buchst. a und b CMR. Die Haftungs-
ausschlussgründe gemäß Art. 36 § 3 CIV sehen demgegenüber eine derartige
Unterscheidung nicht vor. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die
Differenzierung zwischen den besonderen Gefahren eines Gütertransports auf
offenen Wagen und dem Fehlen einer Verpackung des Gutes in den Einheitli-
chen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbe-
förderung von Personen versehentlich unterblieben ist.
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Die Vorschrift des Art. 36 § 3 Buchst. a CIV regelt den Fall, dass eine an
sich vorgesehene Verpackung des Gutes entweder vollständig fehlt oder diese
zwar vorhanden, aber mangelhaft ist. Die Fallgestaltung, dass das Gut übli-
cherweise nicht verpackt wird und von einer fehlenden Verpackung deshalb
keine besondere Gefahr ausgeht, fällt dagegen nicht in den Anwendungsbe-
reich des Art. 36 § 3 Buchst. a CIV. Wäre dies anders, würde über Art. 36 § 3
Buchst. a CIV der in Art. 23 § 3 Buchst. a CIM für den dortigen Anwendungsbe-
reich geregelte Haftungsausschluss der Beförderung des Gutes auf offenen
Wagen auch für den Anwendungsbereich der CIV eingeführt (vgl. LG Hildes-
heim, TranspR 2003, 196, 198; Grau, TranspR 2003, 198 f.). Für einen derarti-
gen Haftungsausschluss ergibt sich in den einschlägigen Bestimmungen der
CIV aber kein Anhalt. Die Revision weist mit Recht darauf hin, dass es mit dem
zwingenden und abschließenden (vgl. Art. 5 CIV) Charakter der Bestimmungen
der CIV unvereinbar ist, die in Art. 36 § 3 CIV geregelten Haftungsausschlüsse
um den Haftungsausschluss der Beförderung des Gutes auf offenen Wagen zu
erweitern.
bb) Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg auf den Haftungsaus-
schluss gemäß Art. 36 § 3 Buchst. b CIV berufen. Nach dieser Bestimmung ist
der Beförderer von seiner Haftung gemäß Art. 36 § 1 CIV befreit, soweit die
Beschädigung des Gutes aus seiner natürlichen Beschaffenheit entstanden ist.
Das Berufungsgericht hat sich mit diesem Haftungsausschlussgrund nicht nä-
her auseinandergesetzt. Es ist aber zutreffend davon ausgegangen, dass Kraft-
fahrzeuge, die auf einem Autoreisezug befördert werden, regelmäßig keine
Verpackung haben müssen, weil das Gefährdungspotential bei einem derarti-
gen Transport nicht höher ist als bei einer Benutzung des Fahrzeugs im Stra-
ßenverkehr. Die Revision weist mit Recht darauf hin, dass dann auch keine be-
sondere Gefahr aus der natürlichen Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs im Sin-
ne von Art. 36 § 3 Buchst. b CIV gegeben sein kann.
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4. Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäi-
schen Union nach Art. 267 AEUV ist im Streitfall nicht erforderlich, weil an der
Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der CIV keine vernünftigen Zwei-
fel bestehen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 9. Oktober 2013 - I ZR 115/12, Tran-
spR 2013, 433 Rn. 24 f. = RdTW 2013, 447).
5. Der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlich entstan-
denen Rechtsanwaltskosten ist gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1, § 280 Abs. 2 BGB
begründet, da der Kläger anwaltliche Hilfe erst nach Eintritt des Verzugs der
Beklagten mit der von ihr geschuldeten Leistung in Anspruch genommen hat
und die Inanspruchnahme dieser Hilfe zur Durchsetzung der berechtigten An-
sprüche erforderlich war.
III. Danach ist das Berufungsurteil auf die Revision des Klägers aufzuhe-
ben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurück-
zuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Büscher
Pokrant
Schaffert
Kirchhoff
Koch
Vorinstanzen:
AG Dortmund, Entscheidung vom 30.03.2011 - 427 C 9900/07 -
LG Dortmund, Entscheidung vom 05.03.2013 - 1 S 164/11 -
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