Urteil des BGH vom 03.04.2006

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 332/05 Verkündet
am:
3. April 2006
Boppel
Justizamtsinspektor
als
Urkundsbeamter
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
GmbHG § 32 a
Insolvenzreife einerseits und Kredit- bzw. Überlassungsunwürdigkeit anderer-
seits sind eigenständige, in ihren Anwendungsvoraussetzungen voneinander
unabhängige Tatbestände der Krise im Sinne des Eigenkapitalersatzrechts.
BGH, Urteil vom 3. April 2006 - II ZR 332/05 - OLG Hamm
LG
Bochum
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Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Ver-
handlung vom 3. April 2006 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Goette
und die Richter Dr. Kurzwelly, Kraemer, Prof. Dr. Gehrlein und Caliebe
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 27. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Juni 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an den 8. Zivilsenat des
Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der S. GmbH
(nachfolgend: Schuldnerin). Die Schuldnerin, deren Alleingesellschafter seit
dem 1. Februar 2000 F. S. ist, entrichtete für die Nutzung ihres Be-
triebsgrundstücks im Zeitraum von April 2000 bis April 2001 Pachtzahlungen in
Höhe von 83.954,13 € an die Beklagte. Deren alleiniger Kommanditist ist eben-
falls F. S. ; Komplementär war bis zum 5. November 2001 sein Vater
W. S. ; seitdem ist Komplementärin die S. Fleischwarenfabrik
GmbH; ihr Gesellschafter ist ebenfalls F. S. .
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Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eigenkapitalersetzender Nut-
zungsüberlassung auf Rückzahlung von 83.954,13 € in Anspruch. Das Landge-
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richt hat der Klage uneingeschränkt, das Oberlandesgericht - unter dem Ge-
sichtspunkt des § 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO - lediglich in Höhe von 6.646,79 €
stattgegeben. Mit der von dem Senat zugelassenen Revision begehrt der Klä-
ger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung des Differenzbetrages in Höhe
von 77.307,34 €.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.
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I. Das Oberlandesgericht meint, die Nutzungsüberlassung an die Schuld-
nerin falle nicht in den Anwendungsbereich des Kapitalersatzrechts. Zwar seien
die Regeln des Kapitalersatzrechts grundsätzlich anwendbar, wenn die
Gesellschaft überschuldet oder zahlungsunfähig sei. Bei der eigenkapitaler-
setzenden Gebrauchsüberlassung müsse jedoch das weitere Merkmal der Ü-
berlassungsunwürdigkeit hinzutreten. Da es sich bei dem gepachteten Be-
triebsgrundstück um ein Standardwirtschaftsgut handele und die Schuldnerin in
der Lage gewesen sei, das laufende Nutzungsentgelt zu bezahlen, könne nicht
von ihrer Überlassungsunwürdigkeit ausgegangen werden.
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II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Für das
Revisionsverfahren ist, da das Berufungsgericht entsprechende Feststellungen
zu dem Vorbringen des Klägers nicht getroffen hat, zu unterstellen, dass die
Schuldnerin im Zahlungszeitraum überschuldet war und dass die Beklagte
Normadressatin der Eigenkapitalersatzregeln ist.
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1. Zu Unrecht nimmt das Oberlandesgericht an, eine eigenkapitalerset-
zende Gebrauchsüberlassung setze neben der Überschuldung oder Zahlungs-
unfähigkeit voraus, daß die Gesellschaft überlassungsunwürdig sei.
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a) Die Eigenkapitalersatzregeln greifen stets ein, wenn der Gesellschaf-
ter der GmbH in der Krise (§ 32 a Abs. 1 Satz 1 GmbHG) eine Gesellschafter-
hilfe erstmals gewährt oder die früher gegebene Hilfe belässt. Eine Krise ist
außer bei Insolvenzreife der Gesellschaft in Vorverlagerung (Sen.Urt. v.
23. Februar 2004 - II ZR 207/01, ZIP 2004, 1049, 1052; BGH, Urt. v.
22. Dezember 2005 - IX ZR 190/02, ZIP 2006, 243 Rdn. 15) der den Gesell-
schaftern abverlangten Entscheidung auch dann gegeben, wenn die Gesell-
schaft kreditunwürdig bzw. überlassungsunwürdig ist. Nach dieser Rechtspre-
chung sind, was das Berufungsgericht verkannt hat, Insolvenzreife und Kredit-
bzw. Überlassungsunwürdigkeit eigenständige, in ihren Anwendungsvorausset-
zungen voneinander unabhängige Tatbestände des Eigenkapitalersatzrechts
(BGHZ 109, 55, 60, 62; Sen.Urt. v. 23. Februar 2004 aaO; Sen.Urt. v. 14. Juni
1993 - II ZR 252/92, NJW 1993, 2179 f.).
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b) Da - wie ausgeführt - die Überschuldung der Schuldnerin revisions-
rechtlich zu unterstellen ist, kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben.
Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt, weil nicht nur die Frage
der Überschuldung, sondern auch die der Normadressateneigenschaft der Be-
klagten (vgl. Sen.Urt. v. 27. November 2000 - II ZR 179/99, ZIP 2001, 115) zu
klären ist.
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2. Die Zurückverweisung der Sache gibt dem Berufungsgericht Gelegen-
heit, nach ergänzendem Sachvortrag der Parteien zu der geltend gemachten
Überschuldung - gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe und, soweit Gesell-
schafterdarlehen mit Rangrücktrittserklärungen versehen sind, unter Berück-
sichtigung der in BGHZ 146, 264 aufgestellten Grundsätze - die erforderlichen
Feststellungen zu treffen.
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Falls das Berufungsgericht eine Überschuldung der Schuldnerin nicht
feststellen sollte, wird es im Blick auf eine etwaige Überlassungsunwürdigkeit
ihrem durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens unter Beweis
gestellten Vorbringen, dass das Pachtgrundstück in seiner Gesamtheit als ein
spezielles Wirtschaftsgut einzustufen ist, nachzugehen haben; dass diese Fra-
ge, die nur auf Grund eingehender Marktkenntnisse in dem Gebiet der Schuld-
nerin beantwortet werden kann, von dem Berufungsgericht auf Grund dessen
eigener Sachkunde geklärt werden kann, ist derzeit nicht ersichtlich.
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Goette
RiBGH Dr. Kurzwelly hat nach
Beratung seinen Urlaub ange-
treten und kann deswegen
nicht unterschreiben
Goette
Kraemer
Gehrlein
Caliebe
Vorinstanzen:
LG Bochum, Entscheidung vom 23.11.2004 - 12 O 159/03 -
OLG Hamm, Entscheidung vom 21.06.2005 - 27 U 23/05 -