Urteil des BGH vom 10.05.2000
BGH (in dubio pro reo, beginn der frist, stpo, verkündung, rechtliches gehör, opfer, aufhebung, straftat, kenntnis, frist)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 617/99
vom
10. Mai 2000
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Mai 2000 gemäß § 349
Abs. 2 und 4, § 33a StPO beschlossen:
1. Der Beschluß des Senats vom 12. Januar 2000, mit dem die
Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Baden-Baden vom 25. Juni 1999 als unzulässig verworfen
wurde, wird aufgehoben.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Ur-
teil
a) im Schuldspruch dahin geändert, daß der Angeklagte im
Falle II. 2. der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil
G. ) des Totschlags schuldig ist;
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe und die im Fall II. 2. in
Ansatz gebrachte Einzelstrafe aufgehoben.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbe-
gründet verworfen.
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Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit
mit versuchtem Mord und wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs einer
Schußwaffe und von Munition in Tateinheit mit vorsätzlicher unerlaubter Aus-
übung der tatsächlichen Gewalt über eine Schußwaffe sowie mit vorsätzlichem
unerlaubten Überlassen einer Schußwaffe und von Munition an einen Nichtbe-
rechtigten zur Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verur-
teilt. Darüber hinaus hat es ein Gewehr sowie Patronen eingezogen. Die hier-
gegen gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluß vom
12. Januar 2000 als unzulässig verworfen, weil sie nicht fristgerecht begründet
worden sei. Dieser Beschluß ist im Verfahren zur Nachholung des rechtlichen
Gehörs (§ 33a StPO) aufzuheben. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils
auf Grund der Revisionsrechtfertigung führt zur Änderung des Schuldspruchs
sowie zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe und der Einzel-
strafe im Falle II. 2. der Urteilsgründe; im übrigen deckt sie einen den Ange-
klagten beschwerenden Rechtsfehler nicht auf.
1. Die Revision des Angeklagten ist zulässig; sie ist insbesondere frist-
gerecht begründet worden.
a) Die vom Angeklagten selbst am 1. Oktober 1999 zu Protokoll der Ge-
schäftsstelle des Amtsgerichts Karlsruhe - als für den Haftort des Angeklagten
zuständig - erklärte Revisionsbegründung war rechtzeitig (§ 341 Abs. 2, § 345
Abs. 1, § 299 Abs. 2 StPO); denn die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels
wurde nicht schon mit der Verkündung des angefochtenen Urteils in der Haupt-
verhandlung, sondern erst mit der Zustellung des schriftlichen Urteils am
26. August 1999 in Gang gesetzt. Die Revisionsbegründungsfrist begann des-
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halb erst am 2. September 1999 zu laufen; sie endete am 4. Oktober 1999, ei-
nem Montag.
Der Senat ist indessen bei der Verwerfung der Revision als unzulässig
in seinem Beschluß vom 12. Januar 2000 von einer nicht fristgerechten Be-
gründung des Rechtsmittels ausgegangen. Das beruhte auf einer Berechnung
der Begründungsfrist, die sich darauf stützte, daß der Angeklagte bei der Ver-
kündung des angefochtenen Urteils anwesend war (vgl. zum Fristbeginn § 341
StPO). Tatsächlich war - wie die nochmalige Durchsicht des Protokolls der
tatrichterlichen Hauptverhandlung ergeben hat - der Angeklagte zwar bei Ver-
lesung der Urteilsformel zugegen. Im weiteren Verlauf der mündlichen Mittei-
lung der wesentlichen Urteilsgründe war er indessen aus dem Sitzungssaal
entfernt worden, weil er diese gestört hatte.
Der Senat folgt der Rechtsansicht, daß ein Angeklagter, der sich vor
dem Ende der Urteilsverkündung aus dem Saal entfernt oder der entfernt wird,
als bei der Verkündung nicht anwesend zu gelten hat. Infolgedessen beginnt
die Revisionseinlegungsfrist erst mit der Zustellung des Urteils zu laufen (§ 341
Abs. 2 StPO). Zwar wird in der Literatur zum Teil mit beachtlichen Erwägungen
die Auffassung vertreten, die Anwesenheit des Angeklagten bei der Verkün-
dung der Urteilsformel genüge im Blick auf den Zweck der Vorschrift über das
Ingangsetzen der Rechtsmitteleinlegungsfrist; denn der Angeklagte erhalte so
Kenntnis davon, weswegen er zu welcher Strafe verurteilt werde. Wenn er sich
vorzeitig entferne oder seinen Ausschluß herbeiführe, dürfe er nicht deswegen
hinsichtlich des Fristablaufs im Ergebnis günstiger gestellt werden (vgl. KMR-
Paulus § 314 Rdn. 7; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 314
Rdn. 27, 28; Paulus NStZ 1986, 521). Dem steht jedoch der Wortlaut der ein-
schlägigen strafprozeßrechtlichen Bestimmungen entgegen: Nach § 341 Abs. 2
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StPO kommt es für den Beginn der Frist zur Einlegung der Revision darauf an,
ob die Verkündung des Urteils in Anwesenheit des Angeklagten stattgefunden
hat. Der Begriff der Verkündung des Urteils ist in der Vorschrift des § 268
Abs. 2 StPO definiert. Danach zählt zur Verkündung neben dem Verlesen der
Urteilsformel die Eröffnung der Urteilsgründe. Entsprechend dieser Systematik
ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß die Verkündung eine Einheit bildet;
sie vermittelt den Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit die Kenntnis, wie
das Gericht entschieden und aus welchen Gründen es so erkannt hat; erst mit
der abschließenden Mitteilung der Urteilsgründe ist die Verkündung beendet
(vgl. BGHSt 5, 5, 9; 15, 263, 265; siehe auch OLG Stuttgart NStZ 1986, 520;
KG JR 1992, 304; BayObLG MDR 1993, 892 f.).
b) Das angefochtene Urteil ist danach unter Aufhebung des Verwer-
fungsbeschlusses vom 12. Januar 2000 im Wege der Nachholung des rechtli-
chen Gehörs auf Grund der Revisionsrechtfertigung gemäß § 33a StPO zu
überprüfen. Diese Vorschrift gewährleistet den verfassungsrechtlichen An-
spruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und verbürgt damit auch das
Recht des Angeklagten und die Pflicht des Gerichts, das Sachvorbringen - auf
der Grundlage der jeweiligen Verfahrensordnung - zur Kenntnis zu nehmen
und in Erwägung zu ziehen (vgl. nur BVerfGE 11, 218, 220; 59, 330, 333).
2. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils führt zu einem Teilerfolg
der Revision.
a) Die nach Ablauf der Begründungsfrist erhobenen Verfahrensrügen
(Schriftsatz des Verteidigers vom 1. März 2000) sind allerdings nicht zulässig
(§ 345 StPO). Die innerhalb dieser Frist angebrachte Beanstandung des Ver-
fahrens (Revisionsbegründung des Angeklagten zu Protokoll der Geschäfts-
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stelle) bleibt aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom
8. Februar 2000 angeführten Gründen ohne Erfolg.
b) Der Schuldspruch kann indessen keinen Bestand haben, soweit das
Landgericht den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem
Mord zum Nachteil des G. verurteilt hat. Auf der Grundlage
der getroffenen Feststellungen ist der Angeklagte insoweit allein des Tot-
schlags schuldig.
aa) Der Angeklagte, der in einer Hütte in der Gemarkung M.
lebte, lag mit dem späteren Tatopfer im Streit. Er wollte G. , der ihn
aufgesucht und zur Rede gestellt hatte, vertreiben. Mit einem Kleinkaliberge-
wehr schoß er deshalb zweimal in den Boden und schließlich aus einer Entfer-
nung von höchstens 150 cm auf das Opfer. Der Schuß traf dieses unterhalb
des linken Schlüsselbeins in die Brust und führte im weiteren Verlauf zum To-
de. Das Landgericht geht davon aus, der Angeklagte habe nun befürchtet, sein
Opfer könne die Tat überleben und er wegen des Vorfalls bestraft werden. Um
dies zu verhindern, habe er dem Opfer mit einem stumpfen, nicht ermittelbaren
Werkzeug vier wuchtige Schläge auf den Kopf versetzt, die zu einer Impressi-
onsfraktur des Schädeldaches führten.
Das Landgericht nimmt an, der Angeklagte habe bei dem dritten Schuß
auf das Opfer "jedenfalls" mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Die Schlä-
ge gegen den Kopf habe er sodann mit unbedingtem Tötungsvorsatz und in
Verdeckungsabsicht geführt (UA S. 49). Die zugrundeliegende Würdigung des
Landgerichts ist auf mehrere Beweiserwägungen gestützt; unmittelbare Tat-
zeugen waren nicht vorhanden.
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bb) Die Würdigung zur subjektiven Tatseite vernachlässigt den Zwei-
felssatz.
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist anerkannt, daß es
der Annahme eines Verdeckungsmordes nicht entgegensteht, wenn sich be-
reits die zu verdeckende Vortat gegen Leib und Leben des Opfers richtet und
unmittelbar in die Tötung zur Verdeckung des vorausgegangenen Geschehens
übergeht. Um eine andere - zu verdeckende - Straftat im Sinne des § 211
Abs. 2 StGB handelt es sich jedoch dann nicht, wenn der Täter nur diejenige
Tat verdecken will, die er gerade begeht. Das ist dann der Fall, wenn während
einer einheitlichen Tötungshandlung die Verdeckungsabsicht nur noch als
weiteres Motiv für die Tötung hinzutritt. Handelt der Angeklagte von vornherein
mit direktem Tötungsvorsatz, so will er keine andere Straftat verdecken, son-
dern nur die begonnene Tötung vollenden. Auch ein zäsurloser Übergang vom
bedingten zum unbedingten Tötungsvorsatz würde dann die zeitlich davorlie-
genden Teile einer einheitlichen Tötungshandlung nicht als eine andere Straf-
tat erscheinen lassen (vgl. BGH NStZ 1990, 385; 1992, 127, 128; siehe auch
BGHSt 35, 116).
Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung wird die Würdigung des
Landgerichts dem Grundsatz "in dubio pro reo" nicht gerecht. Hätte nämlich der
Angeklagte den dritten Schuß auf das Opfer nicht nur ("jedenfalls") mit be-
dingtem, sondern bereits mit direktem Tötungsvorsatz abgefeuert, könnten sich
die anschließenden, mit - auch nach der Überzeugung des Landgerichts - di-
rektem Tötungsvorsatz geführten Schläge auf den Kopf des Opfers als Fortfüh-
rung einer einheitlichen Tötungshandlung erweisen. Das Landgericht geht in-
dessen von der Vorstellung des Angeklagten aus, er habe das Opfer mit den
Schüssen aus der Nähe seiner Hütte vertreiben wollen; der direkte Tötungs-
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vorsatz setze erst nach dem dritten, tödlichen Schuß ein. Soweit der Ablauf des
engeren Tatgeschehens feststellbar war, mußte jedoch letztlich offenbleiben,
ob nicht schon dem dritten, auf den Oberkörper des Opfers aus 150 cm Entfer-
nung abgegebenen Schuß direkter Tötungsvorsatz zugrundelag und der Ange-
klagte sodann diesen Vorsatz mittels eines Schlagwerkzeuges weiter umsetzte.
Der Wechsel des Tatmittels (Kleinkaliberwaffe/Schlaginstrument) kann zwar
auf eine Zäsur hindeuten. Er kann jedoch auch andere Gründe haben. Da die
Tatmittel nicht aufgefunden wurden und kriminaltechnisch nicht untersucht
werden konnten, ließ sich dazu weiteres nicht feststellen. Ersichtlich schließt
deshalb auch das Landgericht nicht mit hinreichender Sicherheit aus, daß be-
reits der dritte, aus kurzer Distanz abgegebene Schuß auf den Oberkörper des
Opfers von direktem Tötungsvorsatz bestimmt war. Es gibt das dadurch zu er-
kennen, daß es in seiner Beweiswürdigung hervorhebt, der Angeklagte habe
diesen Schuß "jedenfalls" mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegeben (UA S.
49). Damit hält es für möglich, daß der Angeklagte auch mit direktem Tötungs-
vorsatz geschossen haben kann. Wäre das aber der Fall gewesen, könnte
mangels weiterer Erkenntnis zum engeren Tatablauf nicht ausgeschlossen
werden, daß der Angeklagte mit den folgenden Schlägen gegen den Kopf des
Opfers in unmittelbarem Fortgang des Geschehens die begonnene Tötung
vollenden wollte und sich sein Vorgehen als einheitliche Tötungshandlung dar-
stellt. Eine etwa hinzutretende Verdeckungsabsicht hätte dann nicht die Ver-
deckung Straftat bezweckt.
Der Zweifelssatz gilt auch für die tatsächlichen Voraussetzungen des in-
neren Tatbestandes (Pfeiffer in KK 4. Aufl. Einl. Rdn. 19). Läßt sich ein - hier
subjektives - Tatgeschehen nicht klären, muß der Tatrichter die von ihm für
möglich gehaltenen, nicht fernliegenden Alternativen in seine Würdigung ein-
beziehen und dann seiner Urteilsfindung diejenige zugrundelegen, die dem
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Angeklagten am günstigsten ist (vgl. Engelhardt in KK aaO § 261 Rdn. 56 m.w.
Nachw.). Diese Würdigung hat die Strafkammer zu dem in Rede stehenden
subjektiven Tatumstand nicht vorgenommen. Es ist zu besorgen, daß sie der
Auffassung war, die Annahme nur bedingten Vorsatzes bei Abgabe des tödli-
chen Schusses sei dem Angeklagten günstiger, obgleich dieser selbst nach der
Tat gegenüber Zeugen erklärt hatte, er habe beim dritten Mal "gezielt" auf
G. geschossen (UA S. 22, 23). Die Folgen eines möglichen direkten
Tötungsvorsatzes schon zu diesem Zeitpunkt für die Annahme eines einheitli-
chen Tötungsgeschehens sind ihr so aus dem Blick geraten.
cc) Der Senat kann den Schuldspruch dahin ändern, daß der Angeklagte
lediglich des Totschlags schuldig ist (§ 212 StGB). Er schließt aus, daß sich
ein neuer Tatrichter angesichts des aus kurzer Distanz auf den Oberkörper des
Opfers abgegebenen tödlichen Schusses und der Erklärung des Angeklagten,
gezielt geschossen zu haben, die tragfähige Überzeugung bilden könnte, der
Angeklagte habe dabei mit lediglich bedingtem, keinesfalls aber mit direktem
Tötungsvorsatz gehandelt. Der Angeklagte hätte sich überdies nicht anders als
geschehen verteidigen können, weil die Tat unter Zugrundelegung eines ein-
heitlichen Geschehens bereits als Totschlag angeklagt war.
c) Die Schuldspruchänderung im Falle II. 2. der Urteilsgründe führt zur
Aufhebung der Gesamtstrafe und der Einzelstrafe; es ist nicht auszuschließen,
daß der Tatrichter eine andere Einzelstrafe in Ansatz gebracht hätte, wenn er
nicht von einem tateinheitlich begangenen versuchten Verdeckungsmord aus-
gegangen wäre. Die Einzelstrafe wegen des Waffendelikts kann bestehen blei-
ben. Auswirkungen sind auszuschließen, weil der insoweit zugrundeliegende
Sachverhalt gegen das Tötungsdelikt abgrenzbar ist und der Unrechtsgehalt
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der Tat zum Nachteil des G. durch die Schuldspruchände-
rung ersichtlich nicht wesentlich geringer erscheint.
Die getroffenen Feststellungen können in vollem Umfang bestehen blei-
ben, weil allein ein Wertungsfehler bei der Rechtsanwendung in Rede steht.
Ergänzende Feststellungen, die den getroffenen nicht widersprechen, sind zu-
lässig.
d) Im übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2
StGB.
Schäfer Maul Wahl
Boetticher Schluckebier