Urteil des BGH vom 16.01.2006
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 16/06
vom
27. September 2007
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
InsO § 89 Abs. 2 Satz 2
Die Vollstreckung in die erweitert pfändbaren Bezüge des Schuldners ist nur Neu-
gläubigern von Unterhalts- und Deliktsansprüchen, nicht aber Unterhalts- und De-
liktsgläubigern gestattet, die an dem Insolvenzverfahren teilnehmen.
InsO § 89 Abs. 3; ZPO § 576 Abs. 2
Das Insolvenzgericht ist gemäß § 89 Abs. 3 InsO zur Entscheidung über Einwendun-
gen gegen die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung berufen, gleich ob die beantrag-
te Maßnahme angeordnet oder ihr Erlass abgelehnt wurde. Auf eine Verletzung der
Zuständigkeitsregelung kann die Rechtsbeschwerde nicht gestützt werden.
BGH, Beschluss vom 27. September 2007 - IX ZB 16/06 - LG Heilbronn
AG Schwäbisch Hall
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter Dr. Ganter,
Dr. Kayser, Prof. Dr. Gehrlein, Cierniak und Dr. Fischer
am 27. September 2007
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer
des Landgerichts Heilbronn vom 16. Januar 2006 wird auf Kosten
der Gläubigerin zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für die Rechtsbeschwerdeinstanz wird auf
500 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Heilbronn vom 11. Oktober 2002 wurde
das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. Die Gläu-
bigerin ist Inhaberin eines vor Insolvenzeröffnung gegen den Schuldner erwirk-
ten Zahlungstitels. Nach ihrer Darstellung liegt der Forderung eine vorsätzlich
unerlaubte Handlung des Schuldners zugrunde. Die Gläubigerin erteilte der zu-
ständigen Gerichtsvollzieherin einen Auftrag zur Zwangsvollstreckung, Abnah-
me der eidesstattlichen Versicherung und Verhaftung. Durch Schreiben vom
2. Juli 2005 teilte die Gerichtsvollzieherin der Gläubigerin mit, dass das Voll-
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streckungsverfahren wegen des laufenden Insolvenzverfahrens eingestellt wer-
de.
Die von der Gläubigerin gegen die Weigerung der Gerichtsvollzieherin,
den Vollstreckungsauftrag zu erledigen, eingelegte Erinnerung hat das Amtsge-
richt – Vollstreckungsgericht – Schwäbisch-Hall zurückgewiesen. Die dagegen
von der Gläubigerin erhobene sofortige Beschwerde hat das Landgericht Heil-
bronn zurückgewiesen. Mit der von dem Beschwerdegericht zugelassenen
Rechtsbeschwerde verfolgt die Gläubigerin ihr Begehren weiter.
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II.
Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige
(§ 574 Abs. 2 ZPO) Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Zwar war in vorliegender Sache anstelle des Vollstreckungsgerichts
das Insolvenzgericht zur Entscheidung berufen (§ 89 Abs. 3 InsO). Sofern die
Vollstreckungsverbote des § 89 Abs. 1 und 2 InsO nicht beachtet werden, hat
über die dagegen nach allgemeinem Vollstreckungsrecht statthafte Erinnerung
(§ 766 ZPO) anstelle des Vollstreckungsgerichts auf Grund seiner größeren
Sachnähe gemäß § 89 Abs. 3 S. 1 InsO das Insolvenzgericht zu befinden (BT-
Drucks. 12/2443 S. 137 f. zu § 100 RegE zur InsO). Die Zuständigkeit des In-
solvenzgerichts ist nicht nur begründet, falls nach einer tatsächlich durchgeführ-
ten Zwangsvollstreckung mit einem Rechtsbehelf Verstöße gegen § 89 Abs. 1
und 2 InsO gerügt werden (MünchKomm-InsO/Breuer, 2. Aufl. § 89 Rn. 38; Ner-
lich/Römermann/Wittkowski, InsO § 89 Rn. 30; App NZI 1999, 138, 140). Viel-
mehr ist sie auch dann gegeben, wenn die Vollstreckungsorgane - wie hier -
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unter Berufung auf § 89 Abs. 1 und 2 InsO den Erlaß der beantragten Vollstre-
ckungsmaßnahme ablehnen. Die Verweigerung einer Vollstreckungsmaßnahme
kann als actus contrarius nicht anders als ihre Anordnung behandelt werden
(vgl. Kübler/Prütting/Lüke, InsO § 89 Rn. 34). Auf die Unzuständigkeit des erst-
instanzlichen Gerichts kann jedoch die Rechtsbeschwerde nicht gestützt wer-
den (§ 576 Abs. 2 ZPO). Dem Rechtsbeschwerdegericht ist auch die Prüfung
entzogen, ob das erstinstanzliche Gericht funktionell zuständig war (BGH,
Beschl. v. 26. Juni 2003 - III ZR 91/03, FamRZ 2003, 1273 f; v. 4. Juli 2007 - VII
ZB 6/05, Tz. 7 zur Veröffentlichung bestimmt).
2. Das Landgericht hat zur Begründetheit der sofortigen Beschwerde
ausgeführt, die Gläubigerin sei Insolvenzgläubigerin im Sinne des § 38 InsO,
weil sie aus einer vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens titulierten Forderung
vollstrecke. Das Vollstreckungsprivileg des § 89 Abs. 2 S. 2 InsO gelte aufgrund
seiner systematischen Stellung und seines Wortlauts nur zugunsten sogenann-
ter Neugläubiger, die ihre Ansprüche gegen den Schuldner erst nach Eröffnung
des Insolvenzverfahrens erworben hätten. Obwohl Neugläubiger am Insolvenz-
verfahren nicht teilnähmen, erstrecke § 89 Abs. 2 S. 1 InsO das Vollstreckungs-
verbot für künftige Forderungen aus einem Dienstverhältnis auf sie. Zur Abmil-
derung dieser Vollstreckungssperre sehe § 89 Abs. 2 S. 2 InsO eine Ausnahme
zugunsten der privilegierten Neugläubiger vor, denen als Unterhalts- oder De-
liktsgläubiger wegen ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit die Vollstreckung in
den nicht allgemein pfändbaren Teil der künftigen Bezüge gestattet werde. Die
von der Gläubigerin geforderte Anwendung der Bestimmung auch auf Insol-
venzgläubiger, die zugleich Deliktsgläubiger seien, führe zu einer nicht hin-
nehmbaren Benachteiligung der Neugläubiger. Eine die analoge Anwendung
des § 89 Abs. 2 S. 2 InsO zugunsten aller Deliktsgläubiger rechtfertigende Re-
gelungslücke sei nicht erkennbar.
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3. Diese Würdigung hält rechtlicher Prüfung stand.
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a) Die Gläubigerin gehört als Insolvenzgläubigerin, selbst wenn ihre For-
derung aus einer vorsätzlich unerlaubten Handlung des Schuldners herrührt,
nicht zu dem durch § 89 Abs. 2 S. 2 InsO privilegierten Kreis von Neugläubi-
gern, denen die Vollstreckung in erweitert pfändbare künftige Bezüge des
Schuldners gestattet ist.
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aa) § 89 Abs. 1 InsO schließt zur Sicherstellung der gleichmäßigen Be-
friedigung aller Gläubiger während der Dauer des Insolvenzverfahrens jede
Einzelvollstreckung der Insolvenzgläubiger sowohl in die Insolvenzmasse als
auch in das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners aus. Während der Dauer
des Insolvenzverfahrens entstehende Bezüge fallen wegen der Einbeziehung
des Neuerwerbs durch § 35 InsO in die Insolvenzmasse. Da Insolvenzgläubi-
gern durch § 89 Abs. 1 InsO die Vollstreckung in das insolvenzfreie Vermögen
des Schuldners verwehrt ist, umfasst das Verbot auch die Vollstreckung in künf-
tige, nach Verfahrensbeendigung fällig werdende Bezüge des Schuldners aus
einem Dienstverhältnis (MünchKomm-InsO/Breuer, aaO § 89 Rn. 35; HK-
Eickmann, InsO 4. Aufl. § 89 Rn. 3).
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bb) § 89 Abs. 2 S. 1 InsO erstreckt das für Insolvenzgläubiger geltende
Verbot der Vollstreckung in künftige Forderungen aus Dienstverhältnissen auf
alle nach Verfahrenseröffnung hinzukommenden Neugläubiger des Schuldners
und auf Gläubiger der Unterhaltsansprüche, die gemäß § 40 InsO im Verfahren
nicht geltend gemacht werden können, (Nerlich/Römermann/Wittkowski, aaO
§ 89 Rn. 28). Mit Hilfe dieser Regelung soll der Schuldner in den Stand gesetzt
werden, nach Verfahrensbeendigung seine pfändbaren Forderungen auf Bezü-
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ge aus einem Dienstverhältnis zum Zwecke der Restschuldbefreiung an einen
Treuhänder abzutreten (§ 287 Abs. 2 InsO; FK-InsO/App, 4. Aufl. § 89 Rn. 13;
MünchKomm-InsO/Breuer, aaO § 89 Rn. 35).
cc) Das danach grundsätzlich auf Neugläubiger erstreckte Vollstre-
ckungsverbot des § 89 Abs. 2 S. 1 InsO findet in § 89 Abs. 2 S. 2 InsO zuguns-
ten solcher Neugläubiger eine Ausnahme, die aus Unterhalts- oder Deliktsan-
sprüchen in den Teil der Bezüge vollstrecken, der für sie erweitert pfändbar ist
(§§ 850d, 850f Abs. 2 ZPO). Dieser nicht zur Insolvenzmasse gehörende Teil
der Bezüge wird von der die Restschuldbefreiung bezweckenden Abtretung der
(pfändbaren) Bezüge an den Treuhänder nicht erfasst und unterliegt darum
dem Zugriff der privilegierten Neugläubiger (BT-Drucks. 12/2443 S. 137 f zu
§ 100 RegE zur InsO). Die Besserstellung durch § 89 Abs. 2 S. 2 InsO gilt - wie
die tatbestandliche Anknüpfung an § 89 Abs. 2 S. 1 InsO unzweideutig zum
Ausdruck bringt - nur für Neugläubiger von Unterhalts- und Deliktsansprüchen,
aber nicht auch für Unterhalts- und Deliktsgläubiger, die an dem Insolvenzver-
fahren teilnehmen (BGH, Beschl. v. 28. Juni 2006 - VII ZB 161/05, ZinsO 2006,
1166; OLG Zweibrücken ZInsO 2001, 625; MünchKomm-InsO/Breuer, aaO § 89
Rn. 36; HK-Eickmann, aaO § 89 Rn. 3, 14; HambKomm-InsO/Kuleisa, 2. Aufl.
§ 89 Rn. 16; Uhlenbruck, InsO 12. Aufl. § 89 Rn. 22; Steder ZIP 1999, 1874,
1881; BT-Drucks. 12/2443 aaO). Wegen ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit
wird das Vollstreckungsverbot zugunsten der Neugläubiger, die im Insolvenz-
verfahren nicht berücksichtigt werden und infolge der Einbeziehung des Neuer-
werbs in die Insolvenzmasse (§ 35 InsO) keinen realistischen Vollstreckungs-
zugriff auf das insolvenzfreie Vermögen haben, im Umfang der erweitert pfänd-
baren Beträge gelockert (OLG Zweibrücken aaO S.
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f; Kübler/
Prütting/Lüke, aaO § 89 Rn. 29). Hingegen soll Unterhalts- und Deliktsgläubi-
gern, die ohnehin an der gemeinschaftlichen Befriedigung im Insolvenzverfah-
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ren beteiligt sind, nicht ein zusätzlicher Vollstreckungszugriff gestattet werden
(MünchKomm-InsO/Breuer, aaO § 89 Rn. 36). Da die Gläubigerin zu den im
Verfahren zu berücksichtigenden Insolvenzgläubigern gehört, kann sie sich
nicht auf den Ausnahmetatbestand des § 89 Abs. 2 S. 2 InsO berufen.
b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kann den Vorschrif-
ten des § 302 Nr. 1, § 114 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 3 InsO nicht die Wertentschei-
dung entnommen werden, das Vollstreckungsprivileg des § 89 Abs. 2 Satz 2
InsO über die Neugläubiger hinaus sämtlichen Unterhalts- und Deliktsgläubi-
gern zugute kommen zu lassen.
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aa) § 302 Nr. 1 InsO schließt die schuldbefreiende Wirkung der Rest-
schuldbefreiung für Verbindlichkeiten aus einer vorsätzlich begangenen uner-
laubten Handlung aus, sofern der Gläubiger die Forderung unter Angabe dieses
Rechtsgrundes angemeldet hat. Diese Bestimmung bezieht sich lediglich auf
die insolvenzrechtliche Nachhaftung, ohne dem Gläubiger innerhalb des Insol-
venzverfahrens eine bevorzugte Befriedigungsmöglichkeit zuzuweisen (vgl.
BGHZ 149, 100, 106 f; BGH Urt. v. 21. Juni 2007 - IX ZR 29/06, WM 2007,
1620 zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
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bb) Gemäß § 114 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 3, § 89 Abs. 2 S. 2 InsO bleiben
vor Insolvenzeröffnung erwirkte Vollstreckungsmaßnahmen von Unterhalts- und
Deliktsgläubigern in den erweitert pfändbaren Teil der Bezüge wirksam. Diese
Regelung beschränkt sich - wie das Beschwerdegericht zutreffend dargelegt
hat - auf eine vor Insolvenzeröffnung bewirkte Vollstreckung. Davon abwei-
chend verbietet hingegen § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO aus Gründen der Gleichbe-
handlung aller Gläubiger eine Einzelvollstreckung durch Unterhalts- und De-
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liktsgläubiger, die Insolvenzgläubiger sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfah-
rens.
Ganter Kayser Gehrlein
Cierniak Fischer
Vorinstanzen:
AG Schwäbisch Hall, Entscheidung vom 21.11.2005 - 1 M 1876/05 -
LG Heilbronn, Entscheidung vom 16.01.2006 - 1 T 530/05 -