Urteil des BGH vom 16.12.2004

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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 387/04
vom
16. Dezember 2004
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern u. a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 16. Dezem-
ber 2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Winkler,
Pfister,
Becker,
Hubert
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revisionen des Angeklagten und der Nebenklägerin wird
das Urteil des Landgerichts Hannover vom 6. Mai 2004 aufgeho-
ben und das Verfahren eingestellt.
Die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des
Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von
Kindern in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen in zehn
Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit
Verwandtenbeischlaf in 16 Fällen und wegen Verwandtenbeischlafs unter Ein-
beziehung früherer Strafen zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren und zehn
Monaten verurteilt; im übrigen hat es ihn freigesprochen. Gegen die Verurtei-
lung richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der das Verfahren bean-
standet und die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird. Die Revision der
Nebenklägerin wendet sich mit verfahrens- und sachlichrechtlichen Angriffen
u. a. dagegen, daß der Angeklagte nicht wegen einer größeren Anzahl von (zur
Nebenklage berechtigenden) Taten verurteilt worden ist. Die Rechtsmittel füh-
ren zur Aufhebung des Urteils und Einstellung des Verfahrens.
1. Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung hat ergeben, daß es an
der Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung und demzu-
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folge auch an der eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses fehlt, weil die Tat-
vorwürfe in der Anklageschrift nicht ausreichend konkretisiert sind.
Dem Angeklagten wird in der Anklage zum Vorwurf gemacht,
"in Hameln, Hilligsfeld, Gellersen, Wolfshagen und anderen Orten
in der Zeit von August 1987 bis Juli 1999
durch 200 Taten
von August 1987 bis zum 16.10.1994
tateinheitlich handelnd
a) sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren (Kind)
vorgenommen und mit dem Kind den Beischlaf vollzogen zu ha-
ben,
b) sexuelle Handlungen an seinem noch nicht 18 Jahre alten leibli-
chen Kind vorgenommen zu haben,
vom 17.10.1994 bis zum 16.10.1998
sexuelle Handlungen an seinem noch nicht 18 Jahre alten leibli-
chen Kind vorgenommen zu haben,
seit dem 27.2.1998
tateinheitlich handelnd
mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzogen zu ha-
ben,
seit dem 17.10.1998 bis Juli 1999
mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzogen zu ha-
ben,
indem er
in dem genannten Zeitraum an nicht mehr feststellbaren Tagen in
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mindestens 200 Fällen mit seiner am 17.10.1980 geborenen Toch-
ter J. ohne Kondom Geschlechtsverkehr, Oral- und A-
nalverkehr durchführte und es bei ihm jeweils zum Samenerguß
kam."
Die Anklage läßt somit offen, welche Straftaten im einzelnen ihr Gegen-
stand sind. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, daß dem Angeklag-
ten 200 Taten des Verwandtenbeischlafs zur Last gelegt sind, da die Anklage
auch Sexualpraktiken bezeichnet, die nicht den Tatbestand des § 173 Abs. 1
StGB erfüllen. Da der in der Anklage genannte Zeitraum über den Zeitpunkt
hinausreicht, an dem das Opfer das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann auch
nicht angenommen werden, daß dem Angeklagten zumindest 200 Taten des
sexuellen Mißbrauchs Schutzbefohlener zur Last liegen.
Damit wird die Anklage der für ihre Wirksamkeit entscheidenden Funk-
tion der Begrenzung des Verfahrensgegenstandes nicht gerecht. Zwar kann an
die Konkretisierung der Taten durch die Anklage nach der Rechtsprechung
(BGHSt 40, 44) dann ein großzügigerer Maßstab angelegt werden, wenn dem
Verfahren eine Vielzahl sexueller Übergriffe gegen Kinder in einem lang ge-
streckten Tatzeitraum zugrunde liegt; indes sind auch die hierfür geltenden
Voraussetzungen nicht erfüllt. Wenn - wie hier - bei einem Tatzeitraum ver-
schiedene Tatmodalitäten mit rechtlich unterschiedlicher Wertung in Betracht
kommen, muß die Anklage zumindest erkennen lassen, wieviele Taten welcher
Tatmodalität welchen Altersstufen des Opfers zuzuordnen sind und damit wel-
cher strafrechtlichen Einordnung unterliegen (vgl. Rieß in Löwe/Rosenberg,
StPO 25. Aufl. § 200 Rdn. 14 c). Hierbei muß die Zahl der den Gegenstand des
jeweiligen Vorwurfs bildenden Straftaten mitgeteilt werden (vgl. BGHSt 40, 44,
46 f.; 48, 221).
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Da die Anklage infolge ihrer zur Unwirksamkeit führenden Mängel keine
Grundlage für eine Abgrenzung des Verfahrensstoffs bildet und damit eine
Trennung zwischen nachweisbaren und nicht nachweisbaren Taten unmöglich
ist, muß die Aufhebung des Urteils auch den deswegen unwirksamen Teilfrei-
spruch erfassen.
Die Verfahrenseinstellung steht einer neuen, den verfahrensrechtlichen
Anforderungen entsprechenden Anklage nicht entgegen (BGHR StPO § 200
Abs. 1 Satz 1 Tat 13). Wie das angefochtene Urteil zeigt, ist die erforderliche
Konkretisierung der Tatvorwürfe durchaus möglich.
2. Für die weitere Sachbehandlung verweist der Senat auf die Darle-
gungen des Generalbundesanwalts in dessen Zuschrift vom 19. Oktober 2004.
Tolksdorf Winkler Pfister
Becker Hubert