Urteil des BGH vom 19.05.2004
BGH (zpo, schuldner, person, berechtigte person, höhe, freibetrag, kind, antrag, gesetz, rechnung)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IXa ZB 6/04
vom
19. Mai 2004
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
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Der IXa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Dr. Kreft, den Richter Raebel, die Richterinnen
Dr. Kessal-Wulf, Roggenbuck und den Richter Zoll
am 19. Mai 2004
beschlossen:
Die
Rechtsbeschwerde
gegen
den
Beschluß
der
1. Zivilkammer
des
Landgerichts
Heilbronn
vom
17. Dezember 2003 wird auf Kosten des Gläubigers zu-
rückgewiesen.
Wert: 1.860 €
Gründe:
I. Der Gläubiger vollstreckt gegen den Schuldner wegen einer
Hauptforderung in Höhe von 570,49 € nebst Zinsen und Kosten. Er er-
wirkte einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluß, der die Ansprüche
des Schuldners gegen die Drittschuldnerin auf Arbeitseinkommen zum
Gegenstand hat. Zugleich ordnete das Vollstreckungsgericht an, die Ehe-
frau des Schuldners wegen eigenen Einkommens bei der Bemessung
des pfändungsfreien Teils des Einkommens des Schuldners unberück-
sichtigt zu lassen. Das weitergehende Begehren des Gläubigers hat es
zurückgewiesen, u.a. seinen Antrag, für das Kind, das erste unterhalts-
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berechtigte Person gemäß § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO sei, nur den pfänd-
baren Betrag der zweiten Stufe in Ansatz zu bringen. Die gegen die Zu-
rückweisung dieses Antrags gerichtete sofortige Beschwerde ist vor dem
Landgericht ohne Erfolg geblieben. Dagegen wendet der Gläubiger sich
mit der - zugelassenen - Rechtsbeschwerde.
II. Das gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 statthafte und
auch im übrigen zulässige Rechtsmittel ist unbegründet.
1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts läßt der Wortlaut des
§ 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO, der nicht nach der konkreten Person des Un-
terhaltsberechtigten differenziere, die von dem Gläubiger verlangte Ent-
scheidung nicht zu. Die gesetzliche Regelung habe den Vorteil einer
vereinfachten Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkom-
mens; Grundrechte des Gläubigers würden dadurch nicht berührt.
Die Rechtsbeschwerde hält dem entgegen, der Freibetrag für die
erste unterhaltsberechtigte Person solle den besonderen Aufwand einen
Mehrpersonenhaushaltes einmalig und pauschal abgelten. Hier bringe
aber die Ehefrau die Kosten durch eigenes Einkommen auf. Ein Nach-
rücken der Kinder sei sachlich nur gerechtfertigt, wenn die Eheleute ge-
trennt lebten und erst aufgrund des Kindes beim Schuldner ein Mehrper-
sonenhaushalt entstehe. Dem Gläubiger, dessen titulierte Forderung von
der Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG erfaßt sei, dürfe eine Vereinfa-
chung des Vollstreckungsverfahrens nicht aufgedrängt werden. Vielmehr
müsse er selbst entscheiden, ob er durch einen Antrag entsprechend
§ 850c Abs. 4 ZPO erreichen wolle, daß die Ehefrau nicht berücksichtigt
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und das Nachrücken eines Kindes auf die erste Stufe verhindert werde.
Den Schuldnerbelangen könne gemäß § 850f Abs. 1 ZPO Rechnung ge-
tragen werden. Bei anderer Sichtweise verstoße § 850c Abs. 1 Satz 2
ZPO gegen das Willkürverbot (Art. 3 I GG). Eine systematische und te-
leologische Gesetzesauslegung sei geboten, wenn sich der Gesetzes-
zweck auf andere Weise - durch eigenes Einkommen der unterhaltsbe-
rechtigten Person - erfülle.
2. Der Standpunkt des Beschwerdegerichts ist richtig.
a) Ist die erste unterhaltsberechtigte Person im Sinne des § 850c
Abs. 1 Satz 2 ZPO ein Kind, so ist für dieses der erhöhte Freibetrag der
ersten Stufe von 350 € monatlich und nicht lediglich der verminderte
Freibetrag der zweiten Stufe von 195 € monatlich maßgeblich (ebenso
Zöller/Stöber, ZPO 24. Aufl. § 850c Rdn. 4a; Baumbach/Lauterbach/Al-
bers/Hartmann, ZPO 62. Aufl. § 850c Rdn. 6; MünchKomm-ZPO/Smid,
2. Aufl. § 850c Rdn. 11; a.A. LG Verden JurBüro 2002, 660 = InVO 2003,
245; LG Bremen JurBüro 2003, 378; AG Traunstein JurBüro 2003, 146;
AG Ibbenbühren JurBüro 2003, 155). Die Vorschrift des § 850c Abs. 1
bis 3 ZPO regelt in Verbindung mit der dem Gesetz als Anlage beigefüg-
ten Tabelle die Pfändungsfreigrenzen für Arbeitseinkommen. Sie setzt in
ihrem Abs. 1 Satz 1 pfändungsfreie Grundbeträge für den Schuldner fest.
Gewährt der Schuldner aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung einem
(früheren) Ehegatten, einem (früheren) Lebenspartner, einem Verwand-
ten oder nach §§ 1615l, 1615n BGB einem Elternteil Unterhalt, sieht
Abs. 1 Satz 2 zusätzliche Freibeträge vor, die es dem Schuldner ermög-
lichen sollen, diesen Unterhaltsverpflichtungen ordnungsgemäß nachzu-
kommen. Für die Höhe der in Betracht kommenden Freibeträge unter-
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scheidet das Gesetz lediglich zwischen der ersten und den weiteren - bis
zu fünf - unterhaltsberechtigten Personen; eine darüber hinausgehende
Staffelung der Freibeträge ist nicht vorgesehen. Es kommt für Abs. 1
Satz 2 allein auf die Anzahl der Personen an, die vom Schuldner Unter-
haltsleistungen erhalten, ohne daß deren konkrete Lebensumstände zu
berücksichtigen wären. Von einer einzelfallabhängigen Entscheidung hat
der Gesetzgeber bewußt abgesehen. Hinter dieser Pauschalierung der
pfändungsfreien Beträge steht sein Bestreben, die Zwangsvollstreckung
praktikabel zu gestalten und die Durchsetzung der Rechte des Gläubi-
gers - in dessen wohlverstandenem Interesse - nicht unzumutbar zu er-
schweren. Denn ebenso wie dem Gläubiger nach Abs. 1 Satz 2 der Ein-
wand verwehrt ist, der Schuldner sei auf den pfändungsfreien Betrag
nicht in voller Höhe angewiesen, kann der Schuldner keine Heraufset-
zung der Pauschale mit der Begründung verlangen, der gesetzliche Frei-
betrag sei für ihn nicht auskömmlich. Zusätzlich wird dem Interesse des
Drittschuldners Rechnung getragen, dem bei der Berechnung des pfän-
dungsfreien Teils des Arbeitseinkommens eine einfache Handhabung der
in § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO vorgesehenen Freibeträge und der gemäß
§ 850c Abs. 3 ZPO ergangenen Pfändungstabelle ermöglicht werden
soll.
b) Die Auffassung der Rechtsbeschwerde findet auch keine Stütze
in den Gesetzgebungsmaterialien (vgl. den Entwurf eines Vierten und ei-
nes Fünften Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen; BT-
Drucks. 8/693, 48 und BT-Drucks. 10/229, 41). Darin hat der Gesetzge-
ber zwar offen gelegt, von welchen Erwägungen er sich bei Ermittlung
der für Arbeitseinkommen geltenden Pfändungsfreigrenzen hat leiten
lassen. Diese Erwägungen stellen indes nur Kalkulationsgrundlagen dar,
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die im Gesetz selbst keinen Niederschlag gefunden haben (vgl. Senats-
beschluß vom 12. Dezember 2003 - IXa ZB 207/03, W M 2004, 398).
Schon deshalb verbietet es sich, von den in § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO
vorgegebenen Freibeträgen abzuweichen und dem Schuldner den erhöh-
ten Freibetrag für die erste unterhaltsberechtigte Person deshalb zu ver-
wehren, weil es sich bei dieser statt eines Ehegatten um ein Kind han-
delt, das nicht mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt lebt oder das aus
sonstigen Gründen keinen Mehraufwand für eine gemeinsame Haus-
haltsführung veranlaßt.
Davon abgesehen, ist der Gesetzgeber bei Festlegung der pfän-
dungsfreien Beträge in § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO nur davon ausgegan-
gen, daß im allgemeinen die Kosten für die Wohnung höher liegen, wenn
im – eigenen - Haushalt des Schuldners weitere unterhaltsberechtigte
Personen leben, wobei diesem Haushalt neben dem Ehegatten regelmä-
ßig Kinder angehören, für die dem Haushaltsvorstand Anspruch auf Kin-
dergeld in unterschiedlicher Höhe zusteht. Damit wird nicht zugleich zum
Ausdruck gebracht, daß davon abweichende Lebensumstände des
Schuldners oder des betreffenden Unterhaltsberechtigten – über die
Voraussetzungen des § 850c Abs. 4 ZPO hinaus - eine anderweitige
Festsetzung des Freibetrages rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat den
verheirateten Schuldner, der eine Familie gegründet hat, für die Bemes-
sung der ersten und zweiten Stufe des Pfändungsfreibetrages zum Aus-
gangspunkt genommen. Damit wollte er der als typisch erachteten Le-
benssituation eines erwachsenen Schuldners Rechnung tragen, die in
einer Vielzahl von Vollstreckungsfällen anzutreffen ist und sich daher als
geeignete Kalkulationsgrundlage erweist. Mit Blick auf eine möglichst
zügige und vereinfachte Durchführung des Vollstreckungsverfahrens hat
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er bereits in den Gesetzgebungsmaterialien von weiteren Differenzierun-
gen abgesehen. So wird nicht gesondert auf den geschiedenen Ehegat-
ten abgehoben, der nicht mehr in dem - in den Materialien allein gespro-
chenen - Hausstand des Schuldners lebt, sondern einen eigenen be-
gründet hat, wodurch ebenfalls Mehraufwendungen für die Kosten einer
Wohnung entstehen. Schließlich wird bei den Kindern des Schuldners
nicht unterschieden, in welcher Höhe Kindergeld gezahlt wird; der Frei-
betrag der zweiten Stufe ist für jedes Kind in gleicher Höhe festgesetzt.
Auch ist die Höhe des Freibetrages nicht davon abhängig, ob der
Schuldner als Haushaltsvorstand tatsächlich Kindergeldzahlungen erhält
oder ob diese seinem getrennt lebenden, das Kind betreuenden Ehegat-
ten zufließen. Daraus wird deutlich, daß der Gesetzgeber das Leitbild ei-
nes verheirateten Schuldners mit Kindern lediglich als Orientierungshilfe
für die Festsetzung der Freibeträge betrachtet hat. Daß § 850c Abs. 1
Satz 2 ZPO nicht nur diese Konstellation erfaßt, liegt angesichts der in
der Vorschrift erfolgten Aufzählung unterhaltsberechtigter Personen –
neben Ehegatten, Lebenspartnern und Kindern auch Eltern und sonstige
Verwandte – auf der Hand. Die von der Rechtsbeschwerde gesehene
Ungleichbehandlung ist zudem im W esen jeder Pauschale begründet und
wird durch die damit verbundene Vereinfachung und Beschleunigung des
Vollstreckungsverfahrens ausgeglichen. Sie ist auch deshalb sachlich
gerechtfertigt, weil daraus folgende Nachteile - wie dargelegt - nicht nur
den Gläubiger, sondern in gleicher Weise den Schuldner treffen können.
c) An die vom Gesetz bestimmten pfändungsfreien Beträge ist das
Vollstreckungsgericht gebunden. Soll von ihnen abgewichen werden, be-
darf es nach den §§ 850 ff ZPO besonderer Voraussetzungen, die hier
- über die vom Vollstreckungsgericht bereits getroffene Anordnung hin-
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aus - nicht gegeben sind. So kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag
des Gläubigers nach billigem Ermessen bestimmen, daß eine Person,
welcher der Schuldner aufgrund gesetzlicher Verpflichtung Unterhalt ge-
währt, bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkom-
mens ganz oder teilweise unberücksichtigt bleibt, wenn sie über eigene
Einkünfte verfügt (§ 850c Abs. 4 ZPO). Ferner ermöglicht § 850f Abs. 2
ZPO auf Antrag des Gläubigers dem Vollstreckungsgericht, bei der
Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung aus einer vorsätzlich be-
gangenen unerlaubten Handlung, den pfändbaren Teil des Arbeitsein-
kommens ohne Rücksicht auf die in § 850c ZPO vorgesehene Beschrän-
kung zu bestimmen, wenn dem Schuldner soviel belassen wird, wie er für
seinen notwendigen Unterhalt und zur Erfüllung seiner laufenden gesetz-
lichen Unterhaltspflichten bedarf. Nach § 850f Abs. 3 ZPO kann im Falle
einer Zwangsvollstreckung wegen anderer als der in Absatz 2 der Vor-
schrift bezeichneten Forderungen und der in § 850d ZPO aufgeführten
Unterhaltsansprüche die Pfändbarkeit unter Berücksichtigung der Belan-
ge des Gläubigers und des Schuldners vom Vollstreckungsgericht nach
freiem Ermessen festgesetzt werden, wenn sich das Arbeitseinkommen
des Schuldners auf mehr als monatlich 2.815 € beläuft, solange dem
Schuldner soviel belassen wird, wie sich bei einem Arbeitseinkommen
von 2.815 € aus § 850c ZPO ergeben würde. Diese Vorschriften tragen
den Belangen der am Vollstreckungsverfahren Beteiligten abschließend
Rechnung. Kann sich ein Gläubiger auf sie nicht berufen, ist er weder bei
Erlaß des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses noch zu einem
späteren Zeitpunkt (§ 850g ZPO) berechtigt, eine erweiterte Pfändung
der Einkünfte des Schuldners zu beantragen (vgl. Senatsbeschluß vom
12. Dezember 2003 aaO). Es besteht aus den genannten Gründen auch
keine Veranlassung, dem Gläubiger in entsprechender Anwendung des
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§ 850c Abs. 4 ZPO das Recht zuzubilligen, beim Vollstreckungsgericht
zu beantragen, den Schuldner für die erste unterhaltsberechtigte Person
auf den verminderten Freibetrag der zweiten Stufe zu verweisen.
Kreft Raebel Dr. Kessal-Wulf
Roggenbuck Zoll