Urteil des BGH vom 14.07.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VIII ZR 3/09
vom
14. Juli 2009
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1; § 398, § 544 Abs. 7
Würdigt das Berufungsgericht eine Zeugenaussage anders als das erstinstanz-
liche Gericht, ohne den Zeugen selbst zu vernehmen, liegt darin ein Verstoß
gegen das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (im Anschluss an
BVerfG, NJW 2005, 1487 und BGH, Beschluss vom 5. April 2006 - IV ZR
253/05, FamRZ 2006, 946).
BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09 - OLG Hamm
LG Essen
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Juli 2009 durch den
Vorsitzenden Richter Ball, den Richter Dr. Frellesen, die Richterinnen Dr. Milger
und Dr. Hessel sowie den Richter Dr. Schneider
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil
des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 5. Novem-
ber 2008 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbe-
schwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 42.000 € fest-
gesetzt.
Gründe:
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht ihres Ge-
schäftsführers auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 42.000 € nebst Zinsen
für die Übertragung eines GmbH-Geschäftsanteils in Anspruch. Die Beklagte
behauptet, bei Abschluss des Kaufvertrages sei vereinbart worden, dass der
Kaufpreis mit einer persönlichen Darlehensschuld des Verkäufers gegenüber
der "W. -Gruppe" (hier: der S. -GmbH) verrechnet werde; da-
durch sei die Forderung erloschen.
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Durch Vorbehaltsurteil vom 29. Januar 2007 ist die Beklagte im Ur-
kundsprozess entsprechend den Anträgen der Klägerin verurteilt worden. Im
Nachverfahren hat das Landgericht die Verrechnungsvereinbarung aufgrund
der Aussagen der von der Beklagten benannten Zeugen R. , P. ,
B. und W. für bewiesen erachtet und deshalb die Klage unter Aufhe-
bung des Vorbehaltsurteils abgewiesen.
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Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das Urteil des
Landgerichts abgeändert und das Vorbehaltsurteil unter Wegfall des Vorbehalts
mit der Begründung aufrechterhalten, die Beklagte habe den Beweis für die be-
hauptete Verrechnungsvereinbarung nicht erbracht. Gegen dieses Urteil richtet
sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten.
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II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zuläs-
sig (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 544 ZPO; § 26 Nr. 8 EGZPO). Sie ist auch be-
gründet und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Be-
rufungsgericht hat die erstinstanzlich vernommenen Zeugen entgegen § 529
Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO nicht erneut vernommen, obwohl es deren Aus-
sagen anders gewürdigt hat als das Landgericht. Diese rechtsfehlerhafte An-
wendung des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO verletzt den Anspruch der Beklagten auf
rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, NJW 2005, 1487;
BGH, Beschluss vom 5. April 2006 - IV ZR 253/05, FamRZ 2006, 946).
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Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an
die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln
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an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststel-
lungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten. Insbesondere
muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen
nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen an-
ders würdigen will als die Vorinstanz (BGH, Urteil vom 28. November 1995
- XI ZR 37/97, NJW 1996, 663, unter III 3; Senatsurteil vom 8. Dezember 1999
- VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199, unter II 2 a, st. Rspr.). Die nochmalige Ver-
nehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das
Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit,
das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Voll-
ständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (Senatsurteil
vom 19. Juni 1991 - VIII ZR 116/90, NJW 1991, 3285, unter II 2 b aa; BGH, Ur-
teil vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, unter II 1 b). Ein sol-
cher Ausnahmefall liegt hier entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwide-
rung nicht vor.
Das Landgericht hat die Aussagen der von ihm vernommenen Zeugen
dahin gewürdigt, dass die in der Besprechung vom 31. Januar 2005 im Rahmen
der beabsichtigten Auseinandersetzung nur skizzierte, aber noch nicht verbind-
lich vereinbarte Verrechnungsabrede bei dem späteren Abschluss des Anteils-
übertragungsvertrages am 8. August 2005 (konkludent) vereinbart worden sei.
Es hat dabei maßgeblich auf die Angaben der Zeugen zu den Hintergründen
des Geschäftsanteilskaufs abgestellt. Danach sei der Anteilskauf von vornher-
ein nur im Hinblick auf die von allen Beteiligten erstrebte gesellschaftsrechtliche
Auseinandersetzung zwischen der W. -Gruppe und dem Geschäftsführer
der Klägerin erfolgt, dem auf diese Weise die Möglichkeit habe eröffnet werden
sollen, seine hohen Darlehensverbindlichkeiten gegenüber der W. -Gruppe
abzutragen. Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht die vom Zeugen
R. geschilderte Einschätzung, die Verrechnung sei für die Parteien bei Ab-
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schluss des Geschäftanteilskaufs selbstverständlich gewesen, für zutreffend
erachtet. Das Berufungsgericht hat demgegenüber gemeint, dass sich der Aus-
sage des Zeugen R. , der als einziger der vernommenen Zeugen bei dem
Vertragsschluss am 8. August 2005 zugegen gewesen sei, ein übereinstim-
mender Wille der Vertragsparteien im Hinblick auf eine Verrechnungsabrede
nicht entnehmen lasse. Somit hat das Berufungsgericht die Zeugenaussagen
für unergiebig erachtet und abweichend gewürdigt, ohne sich durch erneute
Vernehmung des Zeugen einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Das ange-
fochtene Urteil beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es ist nicht
auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer abweichenden Entschei-
dung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte.
Ball
Dr. Frellesen
Dr. Milger
Dr. Hessel
Dr. Schneider
Vorinstanzen:
LG Essen, Entscheidung vom 15.10.2007 - 3 O 382/06 -
OLG Hamm, Entscheidung vom 05.11.2008 - I-8 U 5/08 -