Urteil des BGH vom 14.05.2008
BGH (umfang, gesamtstrafe, stpo, stgb, anrechnung, anklage, aufhebung, treffen, dauer, bezifferung)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 75/08
vom
14. Mai 2008
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 14. Mai 2008 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Lübeck vom 29. Oktober 2007 im Strafausspruch mit
den Feststellungen zur Verfahrensverzögerung aufgehoben;
die übrigen Feststellungen bleiben aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwen-
digen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn
Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete, auf Verfahrensbeschwerden
und sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision führt zur Aufhebung
des Strafausspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2
StPO.
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1. Das Landgericht hat eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
von 18 Monaten angenommen, weil nach Eingang des aussagepsychologi-
schen Gutachtens bei der Staatsanwaltschaft am 8. August 2005 erst am
21. Juni 2007 Anklage erhoben worden war, ohne dass in der Zwischenzeit wei-
tere verfahrensfördernde Ermittlungen stattgefunden hatten. Nach Auffassung
des Landgerichts hätte spätestens zum Ende des Jahres 2005 Anklage erho-
ben werden können. Es hat diese Verzögerung dadurch kompensiert, dass es
zunächst die an sich verwirkten Einzelstrafen benannt, sodann niedrigere Ein-
zelstrafen festgesetzt und aus diesen eine verminderte Gesamtstrafe gebildet
hat.
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2. Der Strafausspruch kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil
das Landgericht, wie sich teilweise schon aus dem Urteil und im Übrigen aus
dem Revisionsvortrag ergibt, bei der Feststellung des Umfangs der Verfahrens-
verzögerung außer Betracht gelassen hat, dass die Beauftragung der Sachver-
ständigen bereits am 17. September 2004 erfolgt war und die Erstattung des
aussagepsychologischen Gutachtens somit nahezu elf Monate gedauert hatte.
Hieraus folgt eine weitere Verfahrensverzögerung, deren genauen Umfang der
neue Tatrichter feststellen muss.
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Die vom Landgericht bei der Kompensation gewählte Verfahrensweise
("Strafabschlagslösung") entspricht im Übrigen nicht der - nach dem Erlass der
angefochtenen Entscheidung - geänderten Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs zur Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
("Vollstreckungsmodell"; vgl. BGH - GS - NJW 2008, 860). Dadurch ist der An-
geklagte beschwert, weil sich durch das Vollstreckungsmodell der Zeitpunkt, zu
dem ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann, nach vorne verla-
gert. Der Angeklagte könnte deshalb - bei Vorliegen der übrigen, hier nicht von
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vornherein ausgeschlossenen Voraussetzungen des § 57 StGB - früher als
nach dem Strafabschlagsmodell aus dem Strafvollzug entlassen werden.
3. Bei der nunmehr gebotenen Durchführung der Kompensation im Wege
des Vollstreckungsmodells wird der neue Tatrichter Folgendes zu beachten ha-
ben (s. im Einzelnen BGH aaO S. 866 f.):
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a) Auch bei der jetzt gebotenen Anwendung des Vollstreckungsmodells
sind Art und Ausmaß der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung konkret
zu ermitteln und im Urteil darzustellen. Es wird deshalb festzustellen sein, wel-
cher Zeitraum zwischen Anzeigeerstattung und Urteil als bei zeitlich angemes-
sener Verfahrensgestaltung erforderlich anzusehen ist. Dieser ist bei der Be-
rechnung der Dauer der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht zu
berücksichtigen.
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b) Der neue Tatrichter wird sodann zunächst nach den Kriterien des § 46
StGB schuldangemessene, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung au-
ßer Acht lassende Einzelstrafen festzusetzen und aus diesen sowie den einzu-
beziehenden Vorstrafen eine Gesamtstrafe zu bilden haben. Dabei wird zu prü-
fen sein, inwieweit der zeitliche Abstand zwischen den begangenen Taten und
dem Urteil sowie die Verfahrensdauer als solche bei der Straffestsetzung mil-
dernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als be-
stimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen
(§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung
bedarf es nicht.
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c) Für den - hier zweifelsfrei gegebenen - Fall, dass allein die Feststellung
einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Kompensation nicht aus-
reichen wird (vgl. dazu BGH aaO S. 864, 866), ist daran anschließend im Ur-
teilstenor festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensa-
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tion der Verzögerung als vollstreckt gilt. Entscheidend für diese Festlegung sind
die Umstände des Einzelfalls wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden
Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie
die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Dabei muss im Auge behal-
ten werden, dass die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belas-
tungen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen
sind und es nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursa-
chung dieser Umstände geht. Dies schließt es regelmäßig aus, etwa den An-
rechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß
der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr
wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu
beschränken haben. Hinsichtlich der Möglichkeit, ohne Verstoß gegen § 358
Abs. 2 StPO höhere Einzelstrafen als die bisher erkannten zu verhängen und
auch eine höhere Gesamtstrafe auszusprechen, verweist der Senat auf seine
bisherige Rechtsprechung (vgl. zuletzt BGH, Beschl. vom 9. April 2008 - 3 StR
71/08).
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4. Die ungenügenden Feststellungen zur rechtsstaatswidrigen Verfahrens-
verzögerung waren aufzuheben, um dem neuen Tatrichter die Gelegenheit zu
geben, insoweit einheitlich neue, ausreichend konkrete Feststellungen zu tref-
fen. Die übrigen Strafzumessungstatsachen sind von dem Rechtsfehler nicht
betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben; der neue Tatrichter ist nicht
gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die indes zu den bisherigen
nicht in Widerspruch stehen dürfen.
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Sost-Scheible Miebach Pfister
Hubert Schäfer