Urteil des BGH vom 29.10.2003

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 16/03
Verkündet am:
29. Oktober 2003
Fritz
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
_____________________
BGB § 827; VVG § 61
Zur Beweislast im Rahmen des § 61 VVG, wenn sich der Versicherungsnehmer auf
Unzurechnungsfähigkeit im Sinne von § 827 Satz 1 BGB beruft.
BGH, Urteil vom 29. Oktober 2003 - IV ZR 16/03 - OLG Saarbrücken
LG Saarbrücken
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Terno, die Richter Dr. Schlichting, Seiffert, Wendt und
Felsch auf die mündliche Verhandlung vom 29. Oktober 2003
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des
Saarländischen Oberlandesgerichts vom 11. Dezember
2002 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten aus einer Fahrzeugvollver-
sicherung Entschädigung für den bei einem Verkehrsunfall entstandenen
Sachschaden an ihrem PKW Mitsubishi Pajero.
Am 6. Mai 1998 überquerte der Geschäftsführer der Klägerin in
T. mit dem Fahrzeug zwei aufeinander folgende Kreuzungen, obwohl
die jeweiligen Lichtzeichenanlagen für ihn Rotlicht zeigten. Beim Überque-
ren der zweiten Kreuzung kollidierte er mit einem von rechts kommenden
PKW , dessen Fahrer bei Grünlicht in den Kreuzungsbereich eingefahren
war. Durch den Unfall entstand am Fahrzeug der Klägerin unter Anrech-
nung einer Selbstbeteiligung von 1.000 DM ein verbleibender Sachscha-
den von 10.800 DM.
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Die Beklagte hat die Erstattung dieses Betrages verweigert, weil der
Geschäftsführer der Klägerin den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt ha-
be.
Die Klägerin behauptet, ihr Geschäftsführer sei zur Zeit des Unfalls
schuldunfähig gewesen. Er habe seinerzeit unter einer vor dem Unfall
noch unerkannten Schlafapnoe (Atemstörung während des Schlafes) ge-
litten, in deren Folge er bei der Unglücksfahrt kurzzeitig das Bewußtsein
verloren habe.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Berufungsgericht
hat sie abgewiesen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Wieder-
herstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat keinen Erfolg.
I. Das Berufungsgericht hat Leistungsfreiheit der Beklagten nach
§ 61 VVG angenommen, weil der Versicherungsfall vom Geschäftsführer
der Klägerin grob fahrlässig verursacht worden sei.
Es hat sich zunächst in tatrichterlicher Würdigung nicht davon zu
überzeugen vermocht, daß der Geschäftsführer der Klägerin zum Unfall-
zeitpunkt sein Kraftfahrzeug im Zustand der Bewußtlosigkeit - also in ei-
nem durch Schlafapnoe verursachten "Sekundenschlaf" - geführt hat.
Zweifel daran hat vor allem der Umstand geweckt, daß er sich gegenüber
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einem Polizeibeamten am Unfallort nicht auf eine solche Bewußtseinsstö-
rung berufen hatte, sondern lediglich darauf, von der Sonne geblendet
worden zu sein.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts wirkt sich diese Beweislage
zu Lasten der Klägerin aus, denn sie trage in entsprechender Anwendung
des § 827 Satz 1 BGB und der dieser Vorschrift innewohnenden Beweis-
lastregelung die Beweislast dafür, daß die Verantwortlichkeit ihres Ge-
schäftsführers durch die behauptete Bewußtseinsstörung ausgeschlossen
gewesen sei. Das gelte unbeschadet dessen, daß der Versicherer bei An-
wendung des § 61 VVG andererseits grundsätzlich auch die Beweislast
für die subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit trage. Zwar sei
im Rahmen der dafür erforderlichen Würdigung aller Umstände des Ein-
zelfalls auch eine erhebliche Verminderung der Einsichts- oder Hem-
mungsfähigkeit zu berücksichtigen. Um eine solche Einschränkung der
Schuldfähigkeit gehe es hier aber nicht. Da sich der Sekundenschlaf nach
Vortrag der Klägerin bei ihrem Geschäftsführer ohne jede Vorankündigung
(Erscheinungen starker Übermüdung oder sonstige bemerkbare Beein-
trächtigungen des Leistungsvermögens) eingestellt habe und Zwischen-
stadien der geistigen Beeinträchtigung mithin nicht behauptet seien, sei
allein entscheidend, ob er bei dem Unfall bewußtlos gewesen sei oder
nicht.
Daß ein solches atypisches Risiko des Ausschlusses der Verant-
wortlichkeit eingetreten sei, habe entsprechend § 827 BGB allein der Ver-
sicherungsnehmer zu beweisen. Nur so würden die berechtigten Interes-
sen des Versicherers gewahrt, der regelmäßig kaum in der Lage sei, eine
plötzlich eintretende Bewußtseinsstörung des Fahrers zu widerlegen.
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Im weiteren hat das Berufungsgericht dargelegt, daß der Ge-
schäftsführer der Klägerin die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt
objektiv grob fahrlässig mißachtet habe und daß für den subjektiven
Schuldvorwurf keine Gründe ersichtlich seien, die das Verhalten im Rah-
men der gebotenen umfassenden Würdigung der Fallumstände in einem
milderen Licht erscheinen ließen.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung in allen Punkten stand.
1. Die Ausführungen des Berufungsgerichts dazu, daß sich eine
Bewußtseinsstörung des Geschäftsführers der Klägerin für den Unfallzeit-
punkt nicht sicher nachweisen lasse, werden von der Revision nicht ange-
griffen. Sie enthalten auch keinen Rechtsfehler.
2. Die Revision meint, entgegen der Auffassung des Berufungsge-
richts müsse der Versicherer - beweise der Versicherungsnehmer seine
oder seines Repräsentanten Schuldunfähigkeit nicht - den möglichen Aus-
schluß der Schuldunfähigkeit zum Nachweis der groben Fahrlässigkeit wi-
derlegen. Das ist nicht richtig.
a) Der Bundesgerichtshof hat schon mehrfach ausgesprochen, daß
die Beweislastregelung aus § 827 Satz 1 BGB, wonach die Beweislast für
behauptete Unzurechnungsfähigkeit den Täter trifft (BGHZ 98, 135,
136 ff.; 102, 227, 230), auch im Rahmen von § 61 VVG zu Lasten des
Versicherungsnehmers Anwendung findet (BGHZ 111, 372, 374; BGH,
Urteil vom 23. Januar 1985 - IVa ZR 128/83 - NJW 1985, 2648 = VersR
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1985, 440 und Urteil vom 22. Februar 1989 - IVa ZR 274/87 - NJW 1989,
1612 = VersR 1989, 469 unter 4; vgl. auch Knappmann, NVersZ 1998, 13,
14). Gelingt es - wie hier - dem Versicherungsnehmer nicht, den völligen
Ausschluß der Verantwortlichkeit für den Zeitpunkt der Herbeiführung des
Versicherungsfalls zu beweisen, so hat das Gericht im weiteren davon
auszugehen, daß eine solche Unzurechnungsfähigkeit nicht vorlag.
b) Das steht nicht im Widerspruch dazu, daß der Versicherer im
Rahmen des § 61 VVG dennoch auch die subjektiven Voraussetzungen
der groben Fahrlässigkeit darlegen und beweisen muß (BGH, Urteile vom
23. Januar 1985 und 22. Februar 1989 aaO; Urteil vom 17. Juni 1998 - IV
ZR 163/97 - VersR 1998, 1011 unter I 2 b; Urteil vom 29. April 1998 - IV
ZR 118/97 - VersR 1998, 1231 unter II 2 a). Denn die Annahme grober
Fahrlässigkeit setzt auf der subjektiven Seite voraus, daß die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt durch ein auch subjektiv unentschuldbares Verhal-
ten in hohem Maße außer Acht gelassen worden ist, weshalb ein in sub-
jektiver Hinsicht gesteigertes Fehlverhalten aufgrund der Würdigung aller
Tatumstände festgestellt werden muß (BGH, Urteil vom 23. Januar 1985
aaO m.w.N.; Knappmann, aaO S. 16, 17).
c) Hat - wie hier - der Versicherungsnehmer eine völlige Unzurech-
nungsfähigkeit nicht bewiesen, so kann der Tatrichter - wie es das Beru-
fungsgericht getan hat - grundsätzlich aus dem Grad der objektiven
Pflichtverletzung Rückschlüsse auf die innere Tatseite ziehen (BGHZ 119,
147, 151 m.w.N.; Römer, VersR 1992, 1187, 1191). Er muß allerdings im
Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung (BGH, Urteil vom 22. Februar
1989 aaO; Urteil vom 29. Januar 2003 - IV ZR 173/01 - VersR 2003, 364
unter II 3 c m.w.N.) danach fragen, ob die Gründe, auf die der Versiche-
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rungsnehmer die (unbewiesene) Behauptung der völligen Unzurech-
nungsfähigkeit gestützt hat, Anhaltspunkte dafür geben, daß zumindest
eine erhebliche Beeinträchtigung des Bewußtseins (unterhalb der
Schwelle völliger Unzurechnungsfähigkeit) im Sinne einer erheblichen
Verminderung der Einsichts- oder Hemmungsfähigkeit vorgelegen haben
kann, die den Vorwurf grober Fahrlässigkeit gegebenenfalls abmildert
(vgl. dazu Knappmann, aaO; Lang, NZV 1990, 169, 173). Beruft sich ein
Versicherungsnehmer beispielsweise auf eine Krankheit, die das Ge-
dächtnis- und Konzentrationsvermögen im allgemeinen beeinträchtigt, so
ist dies im Rahmen der Prüfung grober Fahrlässigkeit im Sinne von § 61
VVG gerade dann zu berücksichtigen, wenn nicht erwiesen ist, daß die
Krankheit im Zeitpunkt der Herbeiführung des Versicherungsfalls zur völli-
gen Unzurechnungsfähigkeit geführt hatte, weil daneben auch eine einge-
schränkte Verantwortlichkeit des Versicherungsnehmers in Betracht kom-
men kann (vgl. dazu BGH, Urteil vom 5. April 1989 - IVa ZR 39/88 - VersR
1989, 840 unter 2). Liegen solche Anhaltspunkte vor, trifft den Versicherer
die volle Beweislast dafür, daß der Versicherungsfall dennoch grob fahr-
lässig herbeigeführt worden ist, die genannten, Zweifel begründenden
Umstände also nicht wirksam geworden sind (BGH, Urteile vom
23. Januar 1985 und vom 22. Februar 1989 aaO).
d) So liegen die Dinge hier aber nicht. Das Berufungsgericht hat
vielmehr zutreffend dargelegt, weshalb die von der Klägerin geltend ge-
machten Ausfallerscheinungen ihres Geschäftsführers aufgrund ihrer Be-
sonderheit keinen weiteren Anlaß gegeben haben, nach einer nur einge-
schränkten Verantwortlichkeit für den Unfallzeitpunkt zu fragen. Da der
Sekundenschlaf nach dem Klägervortrag als Folge der seinerzeit noch
unentdeckten Schlafapnoe plötzlich und ohne jede Vorankündigung, ins-
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besondere ohne jede sonstige Beeinträchtigung des Leistungsvermögens,
eingetreten sein soll, bestand - nachdem sich dies für den Unfallzeitpunkt
nicht hat beweisen lassen - kein Anlaß zur Prüfung, ob sich die Schlafap-
noe-Erkrankung anderweitig schuldmindernd auf den Unfall ausgewirkt
hat. Insoweit unterscheidet sich der Fall von sonstigen Fällen des Einnik-
kens von Kraftfahrern infolge von Übermüdung (vgl. z.B. BGH, Urteil vom
5. Februar 1974 - VI ZR 52/72 - VersR 1974, 593 und BGHSt 23, 156).
Terno Dr. Schlichting Seiffert
Wendt Felsch