Urteil des BGH vom 16.01.2007
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 248/05 Verkündet
am:
16. Januar 2007
Böhringer-Mangold,
Justizamtsinspektorin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: nein
BGB § 254 Abs. 1 Cb, StVG § 17 Abs. 1, StVO § 4 Abs. 1
Hat die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitver-
ursacht, ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der
beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich gegenüber jedem Mitverur-
sacher zu berücksichtigen.
BGH, Urteil vom 16. Januar 2007 - VI ZR 248/05 - LG Oldenburg
AG Vechta
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 16. Januar 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter
Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landge-
richts Oldenburg vom 3. November 2005 wird auf Kosten des Klä-
gers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger begehrt restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall
vom 28. Juni 2004 in S.. Der Kläger befuhr mit seinem PKW die D.-Straße aus
Richtung S. kommend. Vor ihm fuhr Frau H. mit ihrem PKW. Der Beklagte zu 1
kam mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten PKW aus einer
Grundstücksausfahrt. Er wollte vor dem herannahenden PKW von Frau H. nach
links in die D.-Straße in Richtung S. einbiegen. Frau H. leitete eine Vollbrem-
sung ein und lenkte ihr Fahrzeug nach links. Auf diese Weise gelang es ihr, ei-
nen Zusammenstoß mit dem PKW des Erstbeklagten zu vermeiden. Der Kläger
bremste ebenfalls und versuchte nach links auszuweichen. Dabei kollidierte
sein PKW mit dem von Frau H.. Den Schaden des Klägers hat die Zweitbeklag-
te in Höhe von 1.668,06 € ersetzt. Mit der Klage hat der Kläger Zahlung weite-
rer 1.668,04 € begehrt. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die
Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom
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Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegeh-
ren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
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Das Berufungsgericht ist der Auffassung, den Kläger treffe an dem Unfall
ein hälftiges Mitverschulden. Es spreche der Beweis des ersten Anscheins da-
für, dass er den erforderlichen Mindestabstand (§ 4 StVO) zu dem vorausfah-
renden Fahrzeug von Frau H. nicht eingehalten habe oder es an der gebotenen
Aufmerksamkeit habe fehlen lassen. Der Berücksichtigung eines Mitverschul-
dens stehe entgegen der Auffassung des Amtsgerichts nicht entgegen, dass
der Schutzbereich von § 4 StVO den verkehrswidrig auf eine Straße Auffahren-
den nicht umfasse. Ein Mitverschulden des Auffahrenden gegenüber dem Un-
fallverursacher komme vielmehr auch dann in Betracht, wenn der Vorausfah-
rende ohne eigenes Verschulden durch einen unter Missachtung der Vorfahrt
einbiegenden oder einen den Fahrstreifen wechselnden Unfallverursacher zum
Abbremsen veranlasst werde.
II.
Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision stand.
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1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Erstbeklag-
te den Verkehrsunfall verschuldet hat, als er aus einer Grundstücksausfahrt in
die D.-Straße einfuhr, ohne die herannahenden Fahrzeuge zu beachten. Diese
Vorfahrtsverletzung veranlasste Frau H. zu dem Brems- und Ausweichmanöver,
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das zu der Kollision mit dem PKW des Klägers führte. Der Erstbeklagte hat da-
mit gegen § 10 Satz 1 StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat sich derjeni-
ge, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, so zu verhalten,
dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
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2. Ohne Rechtsfehler nimmt das Berufungsgericht auch an, dass der
Verkehrsunfall von dem Kläger mitverursacht worden ist. Wer im Straßenver-
kehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder
zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins (Senatsurtei-
le vom 6. April 1982 - VI ZR 152/80 - VersR 1982, 672; vom 23. Juni 1987
- VI ZR 188/86 - VersR 1987, 1241 und vom 18. Oktober 1988 - VI ZR 223/87 -
VersR 1989, 54). Dieser wird nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch er-
schüttert, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem an-
deren Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen
wird (Senatsurteil vom 18. Oktober 1988 - VI ZR 223/87 - aaO). Dies kommt
nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats etwa dann in Betracht,
wenn der Nachweis erbracht wird, dass ein Fahrzeug vorausgefahren ist, wel-
ches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht
auf das Hindernis zu versperren, dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem
Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dem Nachfahrenden ein Auswei-
chen nicht mehr möglich oder erheblich erschwert war (Senatsurteil vom
9. Dezember 1986 - VI ZR 138/85 - VersR 1987, 358, 359 f.). Von einem ver-
gleichbaren Sachverhalt kann nach den vom Berufungsgericht getroffenen
Feststellungen vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden.
Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann auch
dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne
Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" - etwa infolge einer Kollision - zum
Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist (Senatsurteil
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vom 9. Dezember 1986 - VI ZR 138/85 - aaO; vgl. Lepa, NZV 1992, 129, 132).
Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug - wie hier der PKW
von Frau H. - durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand
kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein
Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGHSt 17, 223, 225; Senatsurteile vom
23. April 1968 - VI ZR 17/67 - VersR 1968, 670, 672 und vom 9. Dezember
1986 - VI ZR 138/85 - aaO, m.w.N.).
3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungs-
gericht das Mitverschulden des Klägers im Rahmen der Abwägung der beider-
seitigen Verursachungsanteile gemäß § 17 Abs. 1 StVG berücksichtigt hat.
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a) Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254
BGB oder des § 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revi-
sionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Um-
stände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zuläs-
sige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (vgl. Senatsurteile vom 12. Juli
1988 - VI ZR 283/87 - VersR 1988, 1238 f.; vom 5. März 2002 - VI ZR 398/00 -
VersR 2002, 613, 615 f.; vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02 - VersR 2003, 783,
785 und vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04 - VersR 2006, 369, 371, jeweils
m.w.N.; BGH, Urteile vom 20. Juli 1999 - X ZR 139/96 - NJW 2000, 217, 219
m.w.N. und vom 14. September 1999 - X ZR 89/97 - NJW 2000, 280, 281 f.).
Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vor-
zunehmen. In erster Linie ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Recht-
sprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur
Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur
ein Faktor der Abwägung (Senatsurteil vom 20. Januar 1998 - VI ZR 59/97 -
VersR 1998, 474, 475 m.w.N.).
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b) Diesen Grundsätzen wird die vom Berufungsgericht vorgenommene
Abwägung gerecht. Der Umstand, dass der Kläger nach den getroffenen Fest-
stellungen entweder den gemäß § 4 Abs. 1 StVO erforderlichen Abstand zum
vorausfahrenden PKW nicht eingehalten hat oder aber nicht aufmerksam genug
war (vgl. § 1 Abs. 1 und 2 StVO), hat maßgeblich zu dem Unfallgeschehen bei-
getragen und ist deshalb im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verur-
sachungsanteile zu berücksichtigen. Dem steht nicht entgegen, dass die Einhal-
tung des Sicherheitsabstands Auffahrunfälle vermeiden soll und der Schutz des
§ 4 StVO deshalb in erster Linie dem Vorausfahrenden zugute kommt. Die Ein-
haltung des Abstandes dient nämlich nicht allein dem Schutz des Vorausfah-
renden. Die Vorschriften der StVO haben den Zweck, die Gefahren des Stra-
ßenverkehrs abzuwehren und Verkehrsunfälle zu verhindern. Die hierfür aufge-
stellten Regeln beruhen auf der durch Erfahrung und Überlegung gewonnenen
Erkenntnis, welche typischen Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringt und
welches Verkehrsverhalten diesen Gefahren am besten begegnet. Damit besa-
gen die Verkehrsvorschriften zugleich, dass ihre Nichteinhaltung die Gefahr
eines Unfalles in den Bereich des Möglichen rückt (BGH, Urteil vom 19. Sep-
tember 1974 - III ZR 73/72 - VersR 1975, 37). Auch § 4 Abs. 1 StVO dient der
Sicherheit des Straßenverkehrs. Die Vorschrift soll nicht nur Auffahrunfälle ver-
meiden, sondern bezweckt auch, die Übersicht des Kraftfahrers über die Fahr-
bahn zu verbessern und ihm eine ausreichende Reaktionszeit zur Begegnung
von Gefahren zu ermöglichen (OLG München, VersR 1968, 480). Hat die
Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitverursacht,
ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der beider-
seitigen Verursachungsanteile grundsätzlich zu berücksichtigen. Dies gilt ent-
gegen der Auffassung der Revision unabhängig davon, ob der andere Unfall-
verursacher in den Schutzbereich dieser Vorschrift einbezogen ist.
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c) Die Beurteilung des Berufungsgerichts, vorliegend sei eine hälftige
Schadensteilung angemessen, weil die Verkehrsverstöße des Klägers und des
Erstbeklagten in gleichem Maße den Unfall verursacht hätten, beruht auf einer
tatrichterlichen Würdigung des konkreten Unfallgeschehens, die aus Rechts-
gründen nicht zu beanstanden ist und von der Revision auch nicht angegriffen
wird.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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Müller Greiner Diederichsen
Pauge Zoll
Vorinstanzen:
AG Vechta, Entscheidung vom 14.06.2005 - 11 C 193/05 -
LG Oldenburg, Entscheidung vom 03.11.2005 - 9 S 458/05 -