Urteil des BGH vom 14.01.2010

BGH (schuldner, zpo, staatliche aufgabe, psychisch kranker, einstellung, behandlung, zwangsvollstreckung, beschwerde, leben, gesundheit)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZB 34/09
vom
14. Januar 2010
in der Zwangsvollstreckungssache
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Januar 2010 durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Pokrant, Prof.
Dr. Büscher, Dr. Bergmann und Dr. Kirchhoff
beschlossen:
Der Gläubiger trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf
3.000 € festgesetzt.
Gründe:
I. Der Gläubiger betreibt aus einem Zuschlagsbeschluss des Amtsge-
richts Göppingen vom 19. November 2008 die Räumungsvollstreckung gegen
den Schuldner. Der Schuldner hat gegen die vom Gerichtsvollzieher auf den
22. April 2009 anberaumte Zwangsräumung Gewährung von Vollstreckungs-
schutz nach § 765a ZPO beantragt, weil bei ihm im Falle einer zwangsweise
durchgeführten Räumung eine akute Suizidgefahr bestehe, die nur durch sei-
nen Verbleib in dem zu räumenden Wohnhaus abgewendet werden könne. Der
Gläubiger ist der beantragten Gewährung von Räumungsschutz entgegengetre-
ten.
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Das Vollstreckungsgericht hat die Zwangsvollstreckung in Bezug auf das
vom Schuldner genutzte Wohnhaus längstens bis zum 31. Juli 2009 eingestellt
und dem Schuldner aufgegeben, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben
oder eine solche fortzuführen und die Aufnahme der Behandlung unverzüglich
sowie den Verlauf bis zum 29. Mai 2009 durch Vorlage von fachärztlichen Be-
scheinigungen dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen. Die dagegen gerich-
tete sofortige Beschwerde des Gläubigers ist erfolglos geblieben.
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Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde hat
der Gläubiger zunächst seinen Antrag auf Zurückweisung des vom Schuldner
nachgesuchten Räumungsschutzes weiterverfolgt. Im Blick auf den Ablauf der
vom Vollstreckungsgericht angeordneten Befristung des Vollstreckungsschut-
zes haben die Parteien das Rechtsbeschwerdeverfahren in der Hauptsache
übereinstimmend für erledigt erklärt.
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II. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden dem Gläubiger
auferlegt.
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1. Die Erledigung der Hauptsache kann auch noch in der Rechtsmit-
telinstanz erklärt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2004 - I ZR 30/04, WRP
2005, 126; zur übereinstimmenden Erledigungserklärung im Revisionsverfahren
vgl. BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - I ZR 201/07 Tz. 9 m.w.N.). Da durch die über-
einstimmenden Erklärungen der Parteien das Verfahren betreffend den Voll-
streckungsschutzantrag des Schuldners vom 5. März 2009 insgesamt erledigt
ist, ist über alle bisher entstandenen Kosten des Verfahrens gemäß der auch im
Verfahren der Rechtsbeschwerde geltenden Vorschrift des § 91a ZPO nach
billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streit-
stands zu entscheiden. Dabei ist der mutmaßliche Ausgang des Rechtsbe-
schwerdeverfahrens zu berücksichtigen (BGH WRP 2005, 126).
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2. Danach sind die Kosten des Vollstreckungsschutzverfahrens dem
Gläubiger aufzuerlegen. Eine für den Gläubiger günstige Entscheidung über die
Kosten des Räumungsschutzverfahrens könnte nur erfolgen, wenn die Rechts-
beschwerde nach dem Sach- und Streitstand bei Eintritt des erledigenden Er-
eignisses Erfolg gehabt und zu einer Zurückweisung des Antrags des Schuld-
ners auf Gewährung von Vollstreckungsschutz geführt hätte. Dies ist hier nicht
der Fall. Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde war zwar
gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO zulässig. In der Sache hätte sie
jedoch keinen Erfolg gehabt, weil das Beschwerdegericht die sofortige Be-
schwerde gegen den Beschluss des Vollstreckungsgerichts vom 1. April 2009
mit Recht zurückgewiesen hat.
a) Die Vorschrift des § 765a ZPO ermöglicht den Schutz gegen Vollstre-
ckungsmaßnahmen, die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den
Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Die An-
wendung von § 765a ZPO kommt nur dann in Betracht, wenn im Einzelfall die
Zwangsvollstreckungsmaßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange
zu einem untragbaren Ergebnis für den Schuldner führen würde (vgl. BGHZ
161, 371, 374; 163, 66, 71 f.; Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 765a Rdn. 5;
Musielak/Lackmann, ZPO, 7. Aufl., § 765a Rdn. 5 ff.; Scheuch in Prütting/
Gehrlein, ZPO, § 765a Rdn. 8).
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Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für
Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersa-
gung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO
rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuld-
ners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann
nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte
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berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht
auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechts-
schutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufga-
ben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit
der Allgemeinheit obliegen (BGHZ 163, 66, 72 ff.; BGH, Beschl. v. 22.11.2007
- I ZB 104/06, NJW 2008, 1000 Tz. 8; Beschl. v. 13.3.2008 - I ZB 59/07, NJW
2008, 1742 Tz. 9). Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstre-
ckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu
prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der
Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuld-
ner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für
Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (BGHZ 163, 66, 74; BGH
NJW 2008, 1000 Tz. 9; NJW 2008, 1742 Tz. 9).
b) Nach diesen Grundsätzen erweisen sich die Interessenabwägungen
sowohl des Vollstreckungsgerichts als auch des Beschwerdegerichts als rechts-
fehlerfrei.
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Das Beschwerdegericht ist in Übereinstimmung mit dem Vollstreckungs-
gericht aufgrund des schriftlichen Gutachtens der Amtsärztin Dr. O.
vom 15. Januar 2009 und deren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung
des Beschwerdegerichts am 27. April 2009 davon ausgegangen, dass der
Schuldner im Falle einer Zwangsräumung ernsthaft suizidgefährdet ist. Aus
dem schriftlichen Gutachten der Amtsärztin ergibt sich des Weiteren, dass die
beim Schuldner bestehende Suizidgefahr durch seine Unterbringung nach dem
Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker oder durch andere Maßnah-
men jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts
nicht beseitigt werden konnte.
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In einem solchen Fall ist eine befristete Einstellung des Zwangsvoll-
streckungsverfahrens grundsätzlich zu erwägen. Das Interesse des Gläubigers
an der Fortsetzung des Verfahrens verbietet eine dauerhafte Einstellung, weil
die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, nicht auf unbe-
grenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden kann (vgl. BGH,
Beschl. v. 14.6.2007 - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719 Tz. 15; Beschl. v.
6.12.2007 - V ZB 67/07, NJW 2008, 586 Tz. 10). Die Einstellung ist zu befristen
und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuld-
ners wiederherzustellen. Das gilt auch dann, wenn die Aussichten auf eine
Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Im Interesse
des Gläubigers ist dem Schuldner zuzumuten, auf die Verbesserung seines
Gesundheitszustands hinzuwirken und den Stand seiner Behandlung dem Voll-
streckungsgericht nachzuweisen (BGH NJW 2008, 586 Tz. 10).
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Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Vollstreckungsge-
richts. Es hat die Zwangsvollstreckung lediglich für die Dauer von vier Monaten
einstweilen eingestellt und die Einstellung zudem auf die Räumung des Wohn-
hauses beschränkt. Ferner hat das Vollstreckungsgericht dem Schuldner auf-
gegeben, sich in ambulante oder - soweit erforderlich - stationäre fachärztliche
Behandlung zu begeben und deren Aufnahme dem Vollstreckungsgericht un-
verzüglich nachzuweisen. Des Weiteren wurde dem Schuldner aufgegeben,
den Verlauf der Behandlung durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen
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bis zum 29. Mai 2009 darzulegen. Unter diesen Umständen ist es aus Rechts-
gründen nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht die sofortige Be-
schwerde des Gläubigers gegen die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts
zurückgewiesen hat.
Bornkamm Pokrant
Büscher
Bergmann
Kirchhoff
Vorinstanzen:
AG Göppingen, Entscheidung vom 01.04.2009 - 1 M 379/09 -
LG Ulm, Entscheidung vom 05.05.2009 - 4 T 7/09 -