Urteil des BGH vom 18.05.2010

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 139/10
vom
18. Mai 2010
in der Strafsache
gegen
BGHSt:
nein
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
StGB § 52 Abs. 1, § 176 a Abs. 1 und 2 Nr. 1
Tateinheit liegt vor, wenn dieselbe Handlung des Täters sowohl § 176 a
Abs. 1 StGB als auch § 176 a Abs. 2 Nr. 1 StGB verletzt.
BGH, Beschluss vom 18. Mai 2010 - 4 StR 139/10 - Landgericht Essen -
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wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 18. Mai 2010 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Essen vom 18. Januar 2010
a) im
Schuldspruch
dahin geändert, dass der Ange-
klagte wegen der beiden in der Zeit zwischen dem
6. und dem 18. April 2009 begangenen Taten des
sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen
schuldig ist,
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben in
den Aussprüchen über
aa) die Einzelstrafen in den beiden unter Buchsta-
be a) bezeichneten Fällen sowie die Gesamt-
freiheitsstrafe,
bb) die Anordnung der Sicherungsverwahrung.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer
zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwie-
sen.
3.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Miss-
brauchs von Kindern in acht Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwah-
rung angeordnet. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts ge-
stützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersicht-
lichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des
§ 349 Abs. 2 StPO.
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Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe auch durch die se-
xuellen Handlungen im April 2009 die Voraussetzungen des § 176 a Abs. 1
StGB erfüllt, ist rechtsfehlerhaft; zutreffend ist die Strafkammer hingegen davon
ausgegangen, dass die im Juli 2009 begangenen Verstöße gegen § 176 a Abs.
1 und 2 StGB zueinander in Tateinheit stehen.
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1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Angeklagte am
17. Dezember 2008 - rechtskräftig seit dem 29. Mai 2009 - wegen schweren
sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, wegen versuchten schweren
sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von
Kindern in zwei Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften zu
der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
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In der Zeit vom 6. bis 18. April 2009 manipulierte der Angeklagte bei zwei
Gelegenheiten an dem Geschlechtsteil des am 1. Mai 1997 geborenen K.
V. , dessen Alter ihm bekannt war, bis zum Samenerguss.
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Nach Erhalt der Ladung zum Strafvollzug und der Gewährung eines
Strafaufschubs führte der Angeklagte in der Zeit vom 2. bis zum 9. Juli 2009 an
sechs Abenden an K. den Oralverkehr bis zur Ejakulation in seinen Mund aus.
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2. Danach erweist sich die Verurteilung des Angeklagten wegen zweier
Verstöße gegen § 176 a Abs. 1 StGB durch die beiden Übergriffe auf K. im
April 2009 als rechtsfehlerhaft. Zwar hat der Angeklagte jeweils vorsätzlich se-
xuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren (Kind) vorgenommen
(§ 176 Abs. 1 StGB). Jedoch war der Angeklagte zu den Tatzeitpunkten im
April 2009 nicht "innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer solchen Straftat
rechtskräftig verurteilt worden" (§ 176 a Abs. 1 StGB). Denn die (einzige) Vor-
verurteilung des Angeklagten vom 17. Dezember 2008 ist erst am 29. Mai 2009
rechtskräftig geworden. Die Rückfallklausel des § 176 a Abs. 1 StGB setzt vor-
aus, dass die Wiederholungstat nach einer einschlägigen rechtskräftigen Vor-
verurteilung begangen worden ist (vgl. Renzikowski in MünchKomm StGB
§ 176 a Rdn. 12, 15 sowie speziell zu dem Fall des noch laufenden Rechtsmit-
telverfahrens Hörnle in LK StGB 12. Aufl. § 176 a Rdn. 10). Dem steht der Hin-
weis der Strafkammer, dass "hinsichtlich der Fristberechnung auf den Zeitpunkt
der letzten Tatsachenverhandlung abzustellen ist" (UA 22), nicht entgegen.
Diesem Zeitpunkt wird zwar teilweise für die Beantwortung der Frage, welches
Ereignis die Fünfjahresfrist in Lauf setzt, Bedeutung beigemessen (vgl. zu die-
ser Streitfrage näher Wolters in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB § 176 a
Rdn. 8; Hörnle aaO Rdn. 14 m.w.N.). Dies hat jedoch nichts mit dem schon aus
dem Wortlaut der Vorschrift folgenden Erfordernis einer rechtskräftigen Vorver-
urteilung zu tun (vgl. z.B. Renzikowski aaO Rdn. 16).
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Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend abgeändert; § 265 StPO
steht nicht entgegen. Dies zieht die Aufhebung der beiden für die Übergriffe im
April 2009 verhängten Einzelstrafen von jeweils einem Jahr und zwei Monaten
sowie der Gesamtstrafe nach sich. Der Senat schließt hingegen aus, dass die
übrigen Einzelstrafen von dem aufgezeigten Rechtsfehler betroffen sind.
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3. Zutreffend hat das Landgericht in den sechs Fällen des Oralverkehrs
an K. im Juli 2009 angenommen, dass der Angeklagte tateinheitlich zu dem
Tatbestand des § 176 a Abs. 2 Nr. 1 StGB die Voraussetzungen des § 176 a
Abs. 1 StGB verwirklicht hat. Die erforderliche rechtskräftige Vorverurteilung lag
nunmehr vor (zu deren Warnfunktion vgl. BGH, Beschl. vom 13. September
2001 - 3 StR 269/01, NStZ 2002, 198, 199). Der Senat ist mit der Strafkammer
der Auffassung, dass die Verletzung sowohl des § 176 a Abs. 1 als auch des
§ 176 a Abs. 2 Nr. 1 StGB zueinander in Tateinheit steht (so auch Hörnle aaO
Rdn. 95; Wolters aaO Rdn. 22; ders. in SK-StGB § 176 a Rdn. 28; Frommel in
NK StGB 3. Aufl. § 176 a Rdn. 18), ohne dass dies notwendig im Tenor zum
Ausdruck gebracht werden muss (§ 260 Abs. 4 Satz 5 StPO). Allerdings wird
dieses Konkurrenzverhältnis nicht einheitlich beurteilt. So wird auch vertreten,
es liege nur eine einzige Tat vor, wenn der Täter durch eine Handlung mehrere
Alternativen des § 176 a StGB verwirklicht (Renzikowski aaO Rdn. 43;
Lackner/Kühl StGB 26. Aufl. § 176 a Rdn. 6). Teilweise wird auch angenom-
men, der Tatbestand des §
176 a Abs.
2 StGB verdränge Absatz
1
(Lenckner/Perron/Eisele in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 176 a Rdn. 16;
Fischer StGB 57. Aufl. § 176 a Rdn. 23; BeckOK-StGB/Ziegler § 176 a
Rdn. 23). Dem vermag der Senat jedoch nicht zu folgen. Bei § 176 a Abs. 1
und 2 StGB handelt es sich um unterschiedliche, jeweils auf der Verwirklichung
des Grundtatbestands des § 176 StGB aufbauende Qualifikationen. Die Straf-
verschärfungen in Absatz 1 und Absatz 2 betreffen jeweils unterschiedliche Un-
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rechtsaspekte, welche die Handlung zum Verbrechen aufwerten (Hörnle aaO).
Absatz 1 qualifiziert Wiederholungstaten zum Verbrechen, Absatz 2 Nr. 1 be-
sonders erhebliche sexuellen Handlungen, die durch ihre Intensität das sexuelle
Selbstbestimmungsrecht in hohem Maße berühren (Renzikowski aaO Rdn. 2,
12, 20).
4. Der Wegfall der Gesamtfreiheitsstrafe entzieht der auf § 66 Abs. 3
Satz 2 StGB gestützten Anordnung der Sicherungsverwahrung die Grundlage;
die verbleibenden sechs Einzelstrafen von jeweils zwei Jahren und fünf Mona-
ten vermögen diesen Ausspruch nicht zu tragen.
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Athing Ernemann Cierniak
Franke Mutzbauer