Urteil des BGH vom 18.06.2007

BGH (staatsanwaltschaft, menge, umfang, strafe, aufhebung, nachprüfung, hauptverhandlung, beihilfe, stpo, durchführung)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 514/07
vom
6. März 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u. a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. März 2008, an
der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Becker
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
von Lienen,
Hubert,
Dr. Schäfer
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklag-
ten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 18. Juni
2007 im Strafausspruch mit den Feststellungen zu Art, Grund
und Ausmaß einer Verfahrensverzögerung aufgehoben; die
übrigen Feststellungen bleiben aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmit-
tel und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwen-
digen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten gegen das
vorbezeichnete Urteil wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "unerlaubten bandenmäßigen
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, uner-
laubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen
sowie Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht gerin-
ger Menge in zwei Fällen" unter Einbeziehung von Vorstrafen zur Gesamtfreiheits-
strafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Revi-
sion des Angeklagten und die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, wirksam
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auf den Strafausspruch beschränkte und im Ergebnis vom Generalbundesanwalt ver-
tretene Revision der Staatsanwaltschaft jeweils mit der Sachbeschwerde.
I. Revision der Staatsanwaltschaft
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Das Rechtsmittel hat vollen Erfolg.
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1. Zwar zeigt die Staatsanwaltschaft keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf,
soweit sie beanstandet, das Landgericht habe einzelne Strafzumessungsgesichts-
punkte nicht berücksichtigt oder in die Straffindung einbezogene Aspekte nicht in hin-
reichendem Maße strafschärfend gewichtet; denn es ist weder ersichtlich, dass das
Landgericht einen bestimmenden und daher im Urteil notwendig zu erörternden
(§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) Zumessungsgrund außer Betracht gelassen hätte, noch
wird erkennbar, dass es einen von ihm zur Bestimmung der Strafe herangezogenen
Aspekt in rechtlich relevanter Weise fehlbewertet hätte. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin haben sich auch weder die Einzelstrafen noch die Gesamtstrafe,
die das Landgericht - ohne Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung - für
schuldangemessen erachtet hat, nach unten von ihrer Bestimmung gelöst, gerechter
Schuldausgleich zu sein.
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2. Jedoch begegnet die vom Landgericht für die Verletzung des Gebots einer
zügigen Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20
Abs. 3 GG) vorgenommene Kompensation durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Die Strafkammer hat an sich Einzelstrafen von zweimal drei Jahre, einmal
zwei Jahre und neun Monate, zweimal zwei Jahre und sechs Monate, zweimal ein
Jahr und sechs Monate sowie - unter Einbeziehung von zwei Vorstrafen (drei Monate
Freiheitsstrafe und 40 Tagessätze zu je 20 € Geldstrafe) - eine Gesamtfreiheitsstrafe
von vier Jahren und acht Monaten als verwirkt angesehen. Es hat sodann zum Aus-
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gleich der festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung von insgesamt
24 Monaten von allen eigentlich als schuldangemessen erachteten Einzelstrafen ei-
nen bezifferten Strafabschlag von jeweils sechs Monaten vorgenommen und unter
Einbeziehung der beiden Vorstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und
acht Monaten verhängt.
Dies hält sachlichrechtlicher Nachprüfung schon deshalb nicht stand, weil das
Landgericht der Kompensation in rechtsfehlerhafter Weise nur unzureichende Fest-
stellungen zu Grunde gelegt hat. Es hat die gesamte Verfahrensdauer vom Ab-
schluss der Vernehmungen des Angeklagten im Ermittlungsverfahren (April 2005) bis
zum Beginn der - nach Aussetzung neu terminierten - Hauptverhandlung (4. Mai
2007) uneingeschränkt und pauschal als rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
angesehen. Die gebotenen konkreten Feststellungen zu Art, Ausmaß und Ursachen
der in verschiedenen Verfahrensabschnitten aufgetretenen Verzögerungen hat es
damit nicht getroffen. Es hat insbesondere auch nicht berücksichtigt, dass in dem
herangezogenen Gesamtzeitraum notwendige, den Fortgang des Verfahrens för-
dernde Tätigkeiten vorgenommen wurden, deren Erledigung jeweils eine angemes-
sene Zeit beanspruchen und dauern durften, ohne dass darin eine rechtsstaatswidri-
ge Verfahrensverzögerung gesehen werden könnte. Dies gilt etwa für die Bearbei-
tung der Ermittlungsakte nach Übersendung durch die Polizei an die Staatsanwalt-
schaft sowie die sich anschließende Abfassung der Anklageschrift, deren gerichtli-
chen Prüfung und Zustellung sowie die Durchführung des Zwischenverfahrens ein-
schließlich der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens. Zu berück-
sichtigen waren ferner die zur Vorbereitung und Terminierung der ersten sowie für
die Neuterminierung der zweiten Hauptverhandlung erforderlichen Zeitspannen.
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Zudem entspricht das vom Landgericht angewandte Kompensationsverfahren
("Strafabschlagslösung") nicht der - nach dem angefochtenen Urteil - geänderten
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Kompensation des Verstoßes gegen
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ("Vollstreckungsmodell"; vgl. BGH - GS - NJW 2008, 860).
All dies führt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruches.
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II. Revision des Angeklagten
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1. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfer-
tigung hat zum Schuldspruch keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten erbracht. Insbesondere die vom Beschwerdeführer im Einzelnen bean-
standete Verurteilung wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge in drei Fällen hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
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Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe sind noch ausreichende Fest-
stellungen zum Vorliegen einer Bandenabrede zwischen dem Angeklagten, seinem
Cousin und dem weiteren Beteiligten K. für die letzten drei Drogenlieferungen
nach V. zu entnehmen. Die Bandenabrede muss nicht ausdrücklich getroffen
werden; vielmehr genügt jede Form auch stillschweigender Vereinbarung (vgl. BGH
NStZ 2001, 35, 37). Eine solche hat das Landgericht ersichtlich aus dem - konkret
festgestellten - wiederholten deliktischen Zusammenwirken des Angeklagten mit den
beiden anderen Personen hergeleitet. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden (vgl.
BGH NStZ 2002, 318 f.).
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Für das Vorliegen einer Bande wäre es - entgegen der Auffassung des Be-
schwerdeführers - im Übrigen rechtlich ohne Belang, wenn die Mitwirkung des als
Transporteur des Rauschgifts tätigen Bandenmitglieds K. an den unter die
Bandenabrede fallenden drei Taten - was das Landgericht nicht ausdrücklich festge-
stellt hat - jeweils als Beihilfe und nicht als Täterschaft anzusehen wäre (vgl. BGH
aaO).
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2. Die Anwendung der Strafabschlagslösung zur Kompensation der rechts-
staatswidrigen Verfahrensverzögerung (s. o. Ziffer I. 2.) führt hier indessen auch auf
die Revision des Angeklagten zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
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III. Bei der nunmehr gebotenen Durchführung der Kompensation im Wege des
Vollstreckungsmodells hat der neue Tatrichter Folgendes zu beachten:
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1. In der neuen Hauptverhandlung sind zunächst Art und Ausmaß der Verzö-
gerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese
Feststellungen dienen zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. In deren
Rahmen ist in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang
der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen,
denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer gegebenenfalls aus-
gesetzt war, bei der Straffestsetzung mildernd zu berücksichtigen sind. Die entspre-
chenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteils-
gründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Ma-
ßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
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2. Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompen-
sation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzöge-
rung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar
hervortreten. Reicht sie - was hier nahe liegen dürfte - dagegen als Entschädigung
nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe - hier der
aus mehreren Einzelstrafen zu bildenden Gesamtstrafe - zur Kompensation der Ver-
zögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich
nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Um-
fang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der
Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten.
Jedoch muss stets im Auge behalten werden, dass die Verfahrensdauer als solche
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sowie die hiermit verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits mildernd in die
Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgen-
bestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung
dieser Umstände geht. Dies schließt es etwa aus, den Anrechnungsmaßstab des
§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Um-
fang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf
einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
Danach war der - gemessen an der fiktiven Gesamtfreiheitsstrafe vom Land-
gericht vorgenommene - Strafabschlag bei der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr
- selbst bei Zugrundelegung der rechtsfehlerhaft festgestellten Verzögerung von zwei
Jahren - zumindest rechtlich bedenklich. Ein solch erheblicher Abschlag hätte - auch
im Hinblick darauf, dass keine durch die Verfahrensdauer bedingten individuellen
Belastungen des Angeklagten festgestellt oder sonst ersichtlich sind, er lebt - nach
rund drei Monaten Untersuchungshaft - seit der Haftverschonung im Februar 2005
wieder in geordneten Verhältnissen - ein erheblich gewichtigeres Ausmaß des Ver-
stoßes gegen das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK aufgestellte Gebot erfordert (vgl. BGH
wistra 2006, 428).
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Becker Miebach von Lienen
Hubert Schäfer