Urteil des BGH vom 16.04.2013
BGH: wiedereinsetzung in den vorigen stand, nichteinhaltung der frist, rechtliches gehör, verschulden, ausbildung, fristwahrung, anstellung, übermittlung, anweisung, original
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VIII ZB 67/12
vom
16. April 2013
in dem Rechtsstreit
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. April 2013 durch den
Vorsitzenden Richter Ball, den Richter Dr. Frellesen, die Richterinnen Dr. Milger
und Dr. Fetzer sowie den Richter Dr. Bünger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der
6. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 14. November
2012 aufgehoben.
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen
die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen
das Urteil des Amtsgerichts Offenbach am Main vom 21. Juni
2012 gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 1.018
€.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat die auf Zahlung von Betriebskosten gerichtete Klage
abgewiesen. Nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils hat der Prozessbe-
vollmächtigte der Klägerin rechtzeitig Berufung eingelegt. Die Frist zur Begrün-
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dung der Berufung ist bis zum 24. September 2012 verlängert worden. Am letz-
ten Tag der Frist ist beim Berufungsgericht eine nicht unterschriebene Beru-
fungsbegründung eingegangen. Nachdem er am 2. Oktober 2012 vom Beru-
fungsgericht auf die fehlende Unterschrift hingewiesen worden war, hat der
Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 16. Oktober 2012 unter Beifügung ei-
ner unterschriebenen Berufungsbegründung Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Er hat
hierzu vorgetragen, dass er die bei ihm seit fast sechs Monaten tätige Fachan-
gestellte S. am 24. September 2012 angewiesen habe, an der ihm zur
Unterschrift vorgelegten Berufungsbegründung noch einige Korrekturen vorzu-
nehmen und den Schriftsatz sodann neu auszudrucken. Frau S. sei ferner
aufgegeben worden, die erste Fassung zu vernichten, ihm die neu ausgedruck-
te Fassung zur Unterschrift vorzulegen und diese sodann an das Berufungsge-
richt zu faxen. Aufgrund eines Versehens habe Frau S. indes die ord-
nungsgemäß unterschriebene neue Fassung der Berufungsbegründung ver-
nichtet und den nicht unterschriebenen Entwurf an das Berufungsgericht gefaxt.
Diesen Vortrag hat Frau S. in einer von der Klägerin vorgelegten eides-
stattlichen Versicherung von Frau S. bestätigt.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin mit
Beschluss vom 14. November 2012 zurückgewiesen und die Berufung als un-
zulässig verworfen.
Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Klägerin keine Wiederein-
setzung in die versäumte Frist zur Begründung der Berufung gewährt werden
könne, weil die Nichteinhaltung der Frist auf einem ihr zuzurechnenden Ver-
schulden ihres Prozessbevollmächtigten beruhe. Es könne dahinstehen, ob die
der Angestellten S. erteilte Einzelanweisung die Anforderungen der
Rechtsprechung erfülle, obwohl keine Vorkehrungen dagegen getroffen worden
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seien, dass sie nicht in Vergessenheit gerate. Denn von einem fehlenden Ver-
schulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Verwechselung der
Schriftsätze und der darauf beruhenden Fristversäumung sei hier schon des-
halb nicht auszugehen, weil dieser innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nicht
vorgetragen habe, dass sich die mit der Übersendung des Schrittsatzes betrau-
te Angestellte, die sich offenbar noch in der Probezeit befunden habe, bisher
als zuverlässig erwiesen habe.
II.
Die frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Wiedereinsetzung
in die versäumte Berufungsbegründungsfrist (§ 233 ZPO).
1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaf-
te Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbe-
schwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert
ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt die Ver-
fahrensgrundrechte der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschut-
zes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf
rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Danach darf einer Partei die Wieder-
einsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorg-
faltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchst-
richterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und die den Parteien den
Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutba-
rer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (st.
Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Mai 2011 - IV ZB 2/11, AnwBl. 2011, 865
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Rn. 6; vom 12. Juni 2012 - VI ZB 54/11, NJW-RR 2012, 1267 Rn. 5; vom
26. Juni 2012 - VI ZB 12/12, NJW 2012, 3309 Rn. 5; jeweils mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der Klägerin ist auf ihren
rechtzeitig und ordnungsgemäß gestellten Antrag (§ 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2
ZPO) hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie ohne
ihr Verschulden daran gehindert war, die Frist zur Begründung der Berufung
einzuhalten (§ 233 ZPO).
Nach dem glaubhaft gemachten Vortrag des Prozessbevollmächtigten
der Klägerin beruht die Fristversäumung allein auf einem der Klägerin nicht zu-
zurechnenden Verschulden seiner Angestellten S. . Denn diese hat die ihr
erteilte Einzelanweisung, den ursprünglichen Entwurf der Berufungsbegründung
nach Einfügung der angeordneten Korrekturen und Neuausdruck zu vernichten
und die neue Fassung nach Einholung der Unterschrift an das Berufungsgericht
zu faxen, fehlerhaft ausgeführt, indem sie infolge einer Verwechselung der
Schriftsätze das Original vernichtete und den nicht unterschriebenen Entwurf an
das Berufungsgericht faxte. Wie das Berufungsgericht auch nicht verkennt, trifft
den Rechtsanwalt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
kein der Partei zuzurechnendes Verschulden an der Fristversäumung, wenn er
einer bislang zuverlässig arbeitenden Bürokraft eine Einzelanweisung erteilt
hat, deren Beachtung die Einhaltung der Frist sichergestellt hätte. Auf die sons-
tigen in der Kanzlei für die Fristwahrung getroffenen Vorkehrungen kommt es
dann nicht an (vgl. nur Senatsbeschluss vom 20. März 2012 - VIII ZB 41/11,
NJW 2012, 1737 Rn. 10 mwN).
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Prozessbevoll-
mächtigte der Klägerin vorgetragen, dass es sich bei Frau S. um eine hin-
reichend erprobte und bisher als zuverlässig erwiesene Kraft handele, die er mit
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der Ausführung dieses (einfachen) Auftrags betrauen durfte, ohne weitere
Überwachungsmaßnahmen anzuordnen. Denn er hat in seinem Wiedereinset-
zungsantrag ausgeführt, dass Frau S. über eine Ausbildung als Fachan-
gestellte verfüge und bei ihm seit fast sechs Monaten tätig sei. Darüber hinaus
hat er im Schriftsatz vom 12. November 2012 ausdrücklich vorgetragen, dass
Frau S. seit ihrer Anstellung am 1. April 2009 zuverlässig gearbeitet habe.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist es unschädlich, dass die
Wiedereinsetzungsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war. Denn nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen erkennbar unklare oder
ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 Abs. 1 ZPO ge-
boten gewesen wäre, auch nach Fristablauf ergänzt werden (BGH, Beschlüsse
vom 13. Juni 2007 - XII ZB 232/06, NJW 2007, 3212 Rn. 8, sowie vom
21. Oktober 2010 - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 Rn. 17). Um eine solche Er-
gänzung - und nicht um ein unzulässiges Nachschieben eines neuen Wieder-
einsetzungsgrundes - handelt es sich bei den weiteren Angaben der Klägerin im
Schriftsatz vom 12. November 2012 zur Zuverlässigkeit der Angestellten S..
Auf die weitere vom Berufungsgericht erwogene Frage, ob der Prozess-
bevollmächtigte der Klägerin hinreichende Vorkehrungen dagegen getroffen
habe, dass die per Einzelanweisung angeordnete Übermittlung der Berufungs-
begründung nicht in Vergessenheit gerate, kommt es schon deshalb nicht an,
weil die Büroangestellte S. die Anweisung nicht vergessen, sondern sie
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rechtzeitig, wenn auch aufgrund der Verwechselung der Schriftsätze fehlerhaft
ausgeführt hat.
Ball
Dr. Frellesen
Dr. Milger
Dr. Fetzer
Dr. Bünger
Vorinstanzen:
AG Offenbach am Main, Entscheidung vom 21.06.2012 - 350 C 325/11 -
LG Darmstadt, Entscheidung vom 14.11.2012 - 6 S 145/12 -