Urteil des BGH vom 01.07.2004

BGH (konkludentes verhalten, opfer, vergewaltigung, stgb, stpo, verhalten, aufhebung, nachteil, ehefrau, verweigerung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 229/04
vom
1. Juli 2004
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 1. Juli 2004 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Halle vom 3. Dezember 2003 mit den Fest-
stellungen - ausgenommen diejenigen zu den sexuellen
Handlungen des Angeklagten, die bestehen bleiben -
aufgehoben.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer als Ju-
gendschutzkammer zurückverwiesen.
3.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs ei-
ner Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung in vier Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der
Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die
Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat den aus der Be-
schlußformel ersichtlichen weitgehenden Erfolg; im übrigen ist es unbegründet
im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
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1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, soweit ihn das
Landgericht des sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1
Nr. 1 StGB) für schuldig befunden hat. Es hat sich aufgrund eingehender Be-
weiswürdigung die Überzeugung verschafft, daß der Angeklagte im März 2002
und an drei Tagen zwischen dem 28. April und 18. Mai 2003 mit seiner am
1. Februar 1988 geborenen, mit ihm und seiner Ehefrau seinerzeit im selben
Haushalt lebenden Stieftochter Jessica jeweils den ungeschützten Ge-
schlechtsverkehr ausgeübt hat.
2. Das Urteil kann jedoch nicht bestehen bleiben, weil die Annahme des
Landgerichts, der Angeklagte habe sich jeweils tateinheitlich auch der Verge-
waltigung (§ 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB) schuldig gemacht, der
rechtlichen Nachprüfung nicht standhält. Die bisher getroffenen Feststellungen
belegen nicht, daß der Angeklagte die Geschädigte unter Ausnutzung einer
Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert war,
zur Duldung der sexuellen Übergriffe genötigt hat.
Eine schutzlose Lage liegt vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmög-
lichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, daß es dem un-
gehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist; dies ist regelmäßig der Fall,
wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf
fremde Helfer nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Besei-
tigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (st. Rspr.; BGHSt 44,
228, 231 f.; 45, 253, 256; BGH NStZ-RR 2003, 42, 44). Dabei beruht die
schutzlose Lage regelmäßig auf äußeren Umständen wie insbesondere der
Einsamkeit des Tatortes und dem Fehlen von Fluchtmöglichkeiten (BGH NStZ
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2003, 533, 534). Eine tatbestandsmäßige schutzlose Lage ergibt sich aber
- wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 3. Juni 2004 zu
Recht ausgeführt hat - noch nicht allein daraus, daß sich der Täter - wie hier -
mit dem Opfer allein (vgl. Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 177 Rdn. 29) in der
eigenen Familienwohnung befindet. Vielmehr müssen dann regelmäßig weitere
Umstände hinzutreten, wie etwa das Abschließen der Tür durch den Täter mit
der Folge, daß dem Opfer jegliche Fluchtmöglichkeit abgeschnitten wird (vgl.
BGH NJW 2002, 381; BGHR NStZ-RR 2003, 42, 44). Solche besonderen Um-
stände, die eine schutzlose Lage für Jessica allein aufgrund der Tatörtlichkeit
begründet haben könnten, sind jedoch nicht festgestellt. Das Urteil läßt insbe-
sondere nicht erkennen, weshalb das zur Tatzeit 14 bzw. 15jährige Mädchen,
das zu keinem Zeitpunkt Hilfe bei der Mutter gesucht hat, nicht in der Lage ge-
wesen wäre, die Wohnung zu verlassen.
Allerdings kann eine schutzlose Lage des Opfers sich auch aus in seiner
Person liegenden Umständen ergeben. In einem solchen Fall sind an die Fest-
stellungen der schutzlosen Lage aber erhöhte Anforderungen zu stellen; erfor-
derlich ist, daß das Opfer Widerstandshandlungen gegenüber dem Täter unter-
läßt, weil es anderenfalls zumindest Körperverletzungshandlungen durch den
Täter befürchtet (BGH NStZ 2003, 533, 534). Davon ist das Landgericht auch
ausgegangen. Doch entbehrt die Feststellung, Jessica sei "bereits von dem
Angeklagten bei geringfügigen, unvermeidlichen Fehlverhalten von dem Ange-
klagten geschlagen (worden) und (habe) bei einer Verweigerung Mißhandlun-
gen befürchten" (müssen), sie habe deshalb "aus der Befürchtung heraus, bei
einer Verweigerung von dem Angeklagten geschlagen zu werden, die ... sexu-
ellen Handlungen des Angeklagten über sich ergehen" lassen (UA 5/6), einer
ausreichenden Tatsachengrundlage. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend
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ausgeführt hat, ergeben die Feststellungen weder, daß der Angeklagte im Zu-
sammenhang mit seinen sexuellen Übergriffen gewalttätig war (vgl. dazu BGH
NStZ 2003, 424, 425), noch ist ein konkludentes Verhalten dargetan, mit dem
der Angeklagte dem Mädchen das Risiko körperlicher Mißhandlungen bewußt
gemacht haben könnte, wenn es ihm nicht zu Willen sein sollte. Im Urteil wird,
soweit es das Verhalten des Angeklagten gegenüber Jessica betrifft, lediglich
ein konkreter Vorfall mitgeteilt, der zeitlich zwischen der ersten und den weite-
ren Taten liegt, bei dem der Angeklagte gegenüber seiner Ehefrau tätlich ge-
worden sei und dabei Jessica einen kleinen Hammer nachgeworfen habe, der
sie am Gesäß "noch getroffen" habe (UA 4). Das insoweit anderweitig geführte
Verfahren gegen den Angeklagten wurde gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt,
ohne daß ersichtlich ist, wie sich der Angeklagte hierzu eingelassen hat. Wei-
tere konkrete Umstände, aus denen sich wiederholte Tätlichkeiten des
Angeklagten gegenüber Jessica oder auch nur ein allgemein aggressives
Verhalten ergeben könnte, das innerhalb der Familie ein fortwährendes Klima
der Gewalt und Einschüchterung begründet hätte (vgl. BGH aaO), können den
bisher getroffenen Feststellungen nicht entnommen werden. Daß sich Jessica
dem sexuellen Ansinnen des Angeklagten wegen dessen Strenge nicht zu
widersetzen wagte und deshalb seine Übergriffe über sich ergehen ließ, genügt
für die Qualifizierung der Taten als Vergewaltigung nicht.
Davon abgesehen ist durch die bisher getroffenen Feststellungen auch
die subjektive Tatseite für eine Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht
hinreichend belegt. Den Feststellungen ist nicht zu entnehmen, daß der Ange-
klagte im Sinne dieser Vorschrift eine durch äußere Umstände geprägte Lage
ausgenutzt hätte. Hierzu muß der Täter die schutzlose Lage erkannt und sich
zunutze gemacht haben (vgl. BGH NStZ 2003, 233, 234 m.w.N.). Daß das
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Mädchen sich aus Angst dem Angeklagten nicht widersetzte, belegt noch nicht,
daß der Angeklagte sich dessen bewußt war und er sich dies für die Tatbege-
hung zunutze machte.
3. Auch wenn der aufgezeigte Rechtsfehler allein die tateinheitliche Ver-
urteilung wegen Vergewaltigung betrifft, führt dies zur Aufhebung des Schuld-
spruchs insgesamt (Kuckein in KK 5. Aufl. § 353 Rdn. 12 m.N.). Unberührt blei-
ben von dem Rechtsfehler jedoch die Feststellungen zu dem zum Nachteil der
Geschädigten begangenen sexuellen Handlungen; diese Feststellungen kön-
nen deshalb bestehen bleiben.
Die Aufhebung des Urteils im Schuldspruch hat auch den Wegfall des
Strafausspruchs zur Folge, der nach dem Antrag des Generalbundesanwalts
auch im übrigen keinen Bestand haben könnte.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible