Urteil des BGH vom 24.07.2006

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
NotZ 1/06
Verkündet
am:
24. Juli 2006
K i e f e r
Justizangestellter
als
Urkundsbeamter
der
Geschäftsstelle
in dem Verfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BNotO § 6 Abs. 3, § 10 Abs. 1 Satz 3
Ein von der Justizverwaltung praktizierter sog. Nachbarschaftseinwand kann die
Nichtberücksichtigung eines Notarbewerbers nur dann rechtfertigen, wenn eine kon-
krete Prognose ergeben hat, dass durch den beabsichtigten Amtssitzwechsel die
Leistungsfähigkeit der Altstelle des Bewerbers gefährdet würde.
BGH, Beschluss vom 24. Juli 2006 - NotZ 1/06 - OLG Koblenz
wegen Besetzung einer Notarstelle
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Der Bundesgerichtshof, Senat für Notarsachen, hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 24. Juli 2006 durch den Vorsitzenden Richter Schlick, die Richter
Streck und die Richterin Dr. Kessal-Wulf sowie die Notare Dr. Doyé und
Dr. Ebner
beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers werden der
Beschluss des Senats für Notarsachen des Oberlandesgerichts
Koblenz vom 10. Januar 2006 und der Bescheid des Antrags-
gegners vom 23. November 2005 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragsteller unter Be-
achtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
Kosten und Auslagen werden nicht erhoben. Außergerichtliche
Auslagen werden nicht erstattet.
Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 25.000 €
festgesetzt.
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Gründe:
I.
Der Antragsteller ist seit 1992 Notar in H. . Er hat sich um eine
vom Antragsgegner im Justizblatt Rheinland-Pfalz vom 6. Juni 2005 ausge-
schriebenen Notarstelle in der - annähernd 40 km entfernten - Stadt T. be-
worben. Im Anschluss an einen behördeninternen Besetzungsvermerk vom
17. November 2005 eröffnete der Antragsgegner dem Antragsteller mit Schrei-
ben vom 23. November 2005 - unter Bezugnahme auf ein beigefügtes entspre-
chendes Votum der Notarkammer K. -, dass die ausgeschriebene Notar-
stelle dem weiteren Beteiligten, einem zur Zeit in Z. amtierenden Notar,
übertragen werden solle. Die Nichtberücksichtigung des Antragstellers - trotz
gleicher persönlicher und fachlicher Eignung wie der weitere Beteiligte und hö-
heren Dienstalters als dieser - hat der Antragsgegner mit einer nach seiner Be-
hauptung durch die Justizverwaltung seit weit über 50 Jahren praktizierten, ab
1995 in einem Merkblatt des Ministeriums der Justiz niedergelegten Grundsatz
begründet, wonach Bewerbungen um Nachbarnotariate im Bezirk der Notar-
kammer K. "unzulässig" sind. Amtssitzverlegungen in benachbarte Amts-
bereiche seien mit der Gefahr einer Schwächung der Altstelle durch Mitnahme
von Klientel verbunden. Vorliegend seien darüber hinaus konkrete Anhaltspunk-
te für eine überdurchschnittliche Schwächung der Altstelle des Antragstellers
deshalb gegeben, weil die vom Antragsteller angestrebte Amtssitzverlegung
aus einem strukturschwachen Amtsbereich in das unmittelbar angrenzende
wirtschaftliche Oberzentrum der Region erfolgen würde; eine Mitnahme der
Klientel von H. nach T. würde aufgrund der Zentralisierungsfunktion
T. erleichtert und damit der Trend der Verlagerung der Geschäftstätigkeit in
die Ballungsräume verstärkt. Die Unterstützung einer solchen Entwicklung
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durch Amtssitzverlegungen aus Nachbarnotariaten entspreche insbesondere in
ländlich strukturierten Bezirken, in denen der Auftrag zur flächendeckenden
Versorgung der rechtsuchenden Bevölkerung nicht immer leicht zu bewerkstel-
ligen sei, nicht den Belangen einer geordneten Rechtspflege.
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller (rechtzeitig) Antrag auf ge-
richtliche Entscheidung gestellt, gerichtet auf eine erneute Entscheidung über
die Besetzung der vorgenannten Notarstelle. Das Oberlandesgericht hat den
Antrag zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die sofortige weitere Beschwer-
de des Antragstellers.
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II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 111 Abs. 4 BNotO i.V.m. § 42
Abs. 4 BRAO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
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Das Oberlandesgericht hat den Antrag des Antragstellers auf gerichtliche
Entscheidung gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. November
2005 zu Unrecht zurückgewiesen; die vom Antragsgegner getroffene Auswahl-
entscheidung ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht rechtsfehlerfrei
und beeinträchtigt den Antragsteller in seinen Rechten.
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1.
Wenn sich, wie hier, um eine frei gewordene (Nur-)Notarstelle sowohl
anstellungsreife Notarassessoren aus dem Anwärterdienst des betreffenden
Bundeslandes als auch amtierende Notare bewerben, so ist für die Justizver-
waltung in dem der eigentlichen Auswahlentscheidung unter mehreren Bewer-
bern (vgl. § 6 Abs. 3 BNotO) "vorgelagerten" Bereich ein erheblicher Ermes-
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sensspielraum gegeben, der grundsätzlich allein organisationsrechtlich und per-
sonalwirtschaftlich bestimmt ist. Maßgeblich sind die Belange einer geordneten
Rechtspflege, insbesondere eine angemessene Versorgung der Rechtsuchen-
den mit notariellen Leistungen und die Wahrung einer geordneten Altersstruktur
des Notarberufs (vgl. § 4 Satz 2 BNotO). Das gilt z.B. für das Vorhaben des
Antragsgegners im vorliegenden Besetzungsverfahren, die in Rede stehende
Notarstelle nicht einem der Notarassessoren aus dem Bewerberkreis, sondern
im Wege der Amtssitzverlegung einem der bereits amtierenden Notare zu über-
tragen (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 5. Februar 1996 - NotZ 25/95 - DNotZ
1996, 906, 908 f und vom 14. Juli 2003 - NotZ 47/02 - NJW-RR 2004, 1067 f
m.w.N.).
Auch bei der Entscheidung, welche der im Besetzungsverfahren bean-
tragten Amtssitzverlegungen die Landesjustizverwaltung unter Zuweisung der
ausgeschriebenen Stelle vornimmt, können - unabhängig vom Eignungsver-
gleich der betreffenden Bewerber - organisationsrechtliche Gesichtspunkte, wie
der einer angemessenen Versorgung der Rechtsuchenden mit notariellen Lei-
stungen, den Ausschlag geben. § 10 Abs. 1 Satz 3 BNotO schreibt ausdrücklich
vor, dass eine Amtssitzverlegung nur "unter Beachtung der Belange einer ge-
ordneten Rechtspflege" in Betracht kommt. Nicht zu beanstanden ist etwa,
wenn die Amtssitzverlegung von einer bestimmten Verweildauer am bisherigen
Sitz abhängig gemacht wird, um im Interesse der Kontinuität der Amtsführung
eine zu schnelle Fluktuation der Amtsinhaber zu vermeiden (Senatsbeschlüsse
vom 28. März 1991 - NotZ 27/90 - DNotZ 1993, 59, 63; vom 13. Dezember
1993 - NotZ 60/92 - DNotZ 1994, 333, 334 f; vom 12. Juli 2004 - NotZ 7/04 -
NJW-RR 2004, 1703; BVerfG NJW-RR 2005, 1431); wobei allerdings die Ge-
währleistung der Berufsfreiheit der Notare eine schematische Berufung auf die-
ses Erfordernis nicht zulässt, vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob das
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Interesse einer geordneten Rechtspflege tatsächlich die Einhaltung erfordert
(BVerfG aaO S. 1433).
2.
Ausgehend hiervon läge es grundsätzlich auch im Rahmen des Orga-
nisationsermessens der Justizverwaltung, Amtssitzverlegungen eines Notars
- auch im Rahmen eines Auswahlverfahrens zwischen mehreren geeigneten
Bewerbern um eine ausgeschriebene Stelle - abzulehnen, wenn durch den
"Umzug" dieses Notars die konkrete Gefahr einer nachhaltigen erheblichen Be-
einträchtigung der Leistungsfähigkeit (s. auch, wenn auch in anderem Zusam-
menhang und deswegen nicht ohne weiteres vergleichbar, Senatsbeschlüsse
vom 20. Juli 1998 - NotZ 31/97 - NJW-RR 1999, 207 und vom 31. Juli 2000
- NotZ 6/00 - DNotZ 2000, 945, 947) der Altstelle bestünde; denn dies könnte
die Besorgnis einer Beeinträchtigung der angemessenen Versorgung der Be-
völkerung mit notariellen Leistungen am bisherigen Amtssitz des Bewerbers
insbesondere deshalb begründen, weil wegen der zu befürchtenden Aushöh-
lung der Altstelle geeignete Interessenten davon abgehalten werden können,
sich auf diese frei werdende Stelle zu bewerben. Es ist deshalb im Ansatz
durchaus denkbar, dass aus einer solchen bevorstehenden Beeinträchtigung
der Altstelle ein begründeter "Nachbarschaftseinwand" gegen die Bewerbung
eines im Nachbarbezirk amtierenden Notars hergeleitet wird.
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3.
Dies bedeutet aber nicht, dass jeder mögliche, unter Umständen nur vor-
übergehende, Rückgang des Gebührenaufkommens in dem bisherigen - nach
den Grundsätzen des Vorrücksystems voraussichtlich einem bisherigen Notar-
assessor zuzuteilenden - Amtssitz des Bewerbers der Bewerbung entgegen-
gesetzt werden könnte. Der Bewerber wird durch eine seinen Amtssitzwechsel
und damit seine Bewerbung um die neue Stelle ablehnende Entscheidung in
seiner Berufsausübung beschränkt. Solche Eingriffe können zwar durch das
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öffentliche Interesse an einer geordneten Rechtspflege im Sinne des § 10
Abs. 1 Satz 3 BNotO gerechtfertigt sein, das zu den Gemeinwohlbelangen
zählt, die namentlich bei Notaren einen Eingriff in die Berufsfreiheit ermöglichen
(vgl. BVerfGE 17, 371, 380 = NJW 1964, 1516; BVerfG NJW-RR 2005, 1430,
1431 f). An einer hinreichenden gemeinwohlbezogenen Rechtfertigung des
"Nachbarschaftseinwands" gegenüber dem Antragsteller fehlt es indes (bisher).
Die bloße Zielsetzung, den zukünftigen Inhaber der Altstelle in H. vor
unerwünschtem Wettbewerb durch den - in Zukunft - benachbarten Notar zu
schützen, ist noch kein verfassungsrechtlich erheblicher Gemeinwohlbelang
(vgl. BVerfG DNotZ 2000, 787, 792). Ebenso wenig kann - jedenfalls unter dem
Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit - der Gedanke, die Beziehungen zwischen
den benachbarten Notariaten möglichst "reibungslos" zu gestalten, es rechtfer-
tigen, einen Notar von einem Wechsel in den (städtischen, nach dem Gebüh-
renaufkommen günstigeren) Nachbarbezirk ganz auszuschließen, obwohl der
Wechsel eigentlich in dem von der Landesjustizverwaltung praktizierten soge-
nannten Vorrücksystem angelegt ist; dieses Vorrücksystem ist gerade dadurch
gekennzeichnet, dass den Berufsanfängern zunächst die weniger einträglichen
Notarstellen, etwa in strukturarmen Gebieten, mit der Aussicht auf eine spätere
Amtssitzverlegung zugewiesen werden.
a) Um die konkrete Gefahr einer nachhaltigen erheblichen Minderung der
Leistungsfähigkeit der Altstelle bejahen zu können, bedarf es einer auf die Um-
stände des Einzelfalls bezogenen und durch Tatsachen hinreichend belegten
Prognose. Nicht ausreichend ist dagegen die allgemeine Aussage, der nach der
Richtlinie des Antragsgegners im Bereich der Notarkammer K. angewen-
dete "Nachbareinwand" sei grundsätzlich geeignet, "abstrakten Gefahren für
eine geordnete Rechtspflege" zu begegnen; die Richtlinie bezwecke den Schutz
der Altstelle sowie die Verhinderung unberechtigter Wettbewerbsvorteile, sie
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verhindere Verfälschungen des Bewerbungsverhaltens auf die Altstelle und
vermeide damit Beeinträchtigungen der Personalhoheit sowie der Organisati-
onsgewalt der Landesjustizverwaltung (so aber OLG Köln DNotZ 1985, 512 f).
b) Die Bedenken dagegen, solche abstrakten, im Tatsächlichen auch
ungesicherten, (möglichen) Gefahren (eher: Unzuträglichkeiten) für die Altstelle
- der Antragsteller verweist nachvollziehbar darauf, dass angesichts der fortge-
schrittenen Mobilität der Bevölkerung grundsätzlich jeder Amtssitzwechsel ei-
nes Notars, auch wenn er nicht in ein Nachbarnotariat erfolgt, zumindest an-
fänglich zum Weggang von Klientel von der Altstelle führe - zur generellen
Grundlage für den regelmäßigen Ausschluss eines Notars von der Bewerbung
um eine Notarstelle im Nachbarbezirk zu machen, erhärten sich bei einem Blick
auf die Uneinheitlichkeit der Handhabung des "Nachbarschaftseinwands" durch
die - vom Senat befragten - Justizverwaltungen in Deutschland. Nicht einmal
der Antragsgegner (Justizministerium), der diesen Grundsatz im Bezirk der No-
tarkammer K. anwendet, im Bezirk der Notarkammer Z. dagegen
nicht, behandelt alle Notare in Rheinland-Pfalz insoweit gleich. So wie der An-
tragsgegner - dieser begrenzt auf den Bezirk der Notarkammer K. - ver-
fahren nur noch die für die Besetzung von Notarstellen zuständigen Präsiden-
ten der Oberlandesgerichte Düsseldorf und Köln in Nordrhein-Westfalen. Für
die meisten anderen Landesjustizverwaltungen stellt die Nachbarschaft der
engeren räumlichen Amtsbereiche ein - zudem vielfach eher theoretisches -
zwar beachtliches, aber nicht starr nach feststehenden Regeln zu handhaben-
des Ämterbesetzungskriterium dar. Die saarländische Justizverwaltung hat
hervorgehoben, dass aufgrund der geringen Flächengröße im Bezirk des
saarländischen Oberlandesgerichts eine Vielzahl von Amtsbereichen in
unmittelbarer Nachbarschrift liegen, so dass ein Amtssitzwechsel praktisch
vielfach erschwert würde; insbesondere würde ein Wechsel erfahrener
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Notarinnen und Notare in die Landeshauptstadt häufig ausgeschlossen sein.
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die Landeshauptstadt häufig ausgeschlossen sein. Ähnliches dürfte in der Pfalz
gelten. Es wird in diesen kleinräumigeren Gebieten offenbar das sogenannte
Vorrückprinzip ungeachtet damit möglicherweise verbundener Probleme für be-
nachbarte Notariate konsequent (erfolgreich) praktiziert. Schon dies stellt die
Geeignetheit und Notwendigkeit eines generellen "Nachbarschaftseinwands"
auch in dem vorliegenden, mit Amtsstellenwechsel verbundenen Besetzungs-
verfahren in Frage.
c) Die Entscheidung des Antragsgegners für eine Anwendung des
"Nachbarschaftseinwands" zu Lasten des Antragstellers lässt sich auch nicht
durch die Erwägung des Oberlandesgerichts in dem angefochtenen Beschluss
halten, der Antragsgegner habe vorliegend nicht nur auf abstrakte Gefahren der
Schwächung der Altstelle des Antragstellers durch Mitnahme von Klientel hin-
gewiesen, sondern "auf konkrete Anhaltspunkte für eine überdurchschnittliche
Schwächung der Altstelle", weil eine Amtssitzverlegung aus einem struktur-
schwachen Amtsbereich in das unmittelbar angrenzende wirtschaftliche Ober-
zentrum der Region angestrebt werde, wodurch eine Mitnahme der Klientel von
H. nach T. aufgrund der Zentralisierungsfunktion T. erleichtert
und der Trend der Verlagerung der Geschäftstätigkeit in einen Ballungsraum
verstärkt werde. Auch diese Erwägung ist von so allgemeiner und abstrakter
Natur, dass sie die Besetzungsentscheidung zum Nachteil des Antragstellers
nicht zu rechtfertigen vermag.
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4.
Der Bescheid des Antragsgegners vom 23. November 2005 muss daher
aufgehoben werden. Der Antragsgegner hat unter Berücksichtigung der vorste-
henden Ausführungen eine erneute Besetzungsentscheidung vorzunehmen.
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Schlick Streck Kessal-Wulf
Doyé Ebner
Vorinstanz:
OLG Koblenz, Entscheidung vom 10.01.2006 - Not 1/05 -