Urteil des BGH vom 24.06.2010

BGH (treu und glauben, mitverschulden, cmr, verlust, wert, höhe, annahme, kenntnis, wissen, haftung)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I ZR 73/08 Verkündet
am:
24. Juni 2010
Bürk
Justizhauptsekretärin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 24.
Juni 2010 durch die Richter Dr. Bergmann, Pokrant,
Prof. Dr. Büscher, Dr. Schaffert und Dr. Kirchhoff
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 1. Kammer für
Handelssachen des Landgerichts Düsseldorf vom 3. April 2008 im
Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Klä-
gerin erkannt worden ist.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts
Neuss vom 18. Juni 2007 wird insgesamt zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Rechtsmittel.
Von Rechts wegen
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Tatbestand:
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Die Klägerin ist Transportversicherer der T. GmbH in
Dortmund (im Weiteren: Versenderin zu 1) und der C.
GmbH in Stuttgart (im Weiteren: Versenderin zu 2). Sie nimmt die Beklagte,
die einen Paketbeförderungsdienst betreibt, aus abgetretenem Recht der Ver-
senderinnen wegen Verlusts von Transportgut in zwei Fällen auf Schadenser-
satz in Anspruch. Beide Versenderinnen nehmen am sogenannten EDI-
Versandverfahren der Beklagten teil.
Im Schadensfall 1 beauftragte die Versenderin zu 1 die Beklagte am
24. März 2005 mit der Beförderung eines Pakets nach Scarmagno/Italien. Das
Paket, das nach der Darstellung der Klägerin Ware im Wert von 2.490 € ent-
hielt, kam bei der Empfängerin nicht an.
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Im Schadensfall 2 beauftragte die Versenderin zu 2 die Beklagte am
30. September 2005 mit dem Transport von sieben Paketen an eine in Karlsru-
he ansässige Empfängerin. Ein Paket, das nach der Darstellung der Klägerin
Waren im Wert von 2.430 € enthielt, kam bei der Empfängerin nicht an. Die Be-
klagte zahlte für den Verlust des Gutes an die Versenderin zu 2 eine Entschä-
digung in Höhe von 510 €.
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Die von der Beklagten im hier maßgeblichen Zeitraum verwendeten Be-
förderungsbedingungen (Stand 1/2005) enthielten auszugsweise folgende Re-
gelungen:
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2. Serviceumfang
Um die vom Versender gewünschte kurze Beförderungsdauer und das
niedrige Beförderungsentgelt zu ermöglichen, werden die Sendungen im
Rahmen einer Sammelbeförderung transportiert. Der Versender nimmt
mit der Wahl der Versendungsart in Kauf, dass aufgrund der Massenbe-
förderung (…) nicht die gleiche Obhut wie bei einer Einzelbeförderung
gewährleistet werden kann.
Eine Kontrolle des Transportweges durch Ein- und Ausgangskontrollen
an den einzelnen Umschlagstellen innerhalb des U.-Systems ist nicht
Gegenstand der vereinbarten Leistung.
Der Versender sollte unter Berücksichtigung von Art und Wert des Gutes
von der Möglichkeit Gebrauch machen, durch korrekte Angabe des Wa-
renwerts und Zahlung des in der Tariftabelle geregelten Zuschlags eine
Beförderung seiner Sendung in der Leistungsart "Wertpaket" zu wählen.
In dieser Leistungsart werden Pakete unter zusätzlichen Sicherheits- und
Kontrollmaßnahmen transportiert.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte hafte für den Verlust der
Transportgüter in voller Höhe. Sie hat die Beklagte daher auf Zahlung von
4.410 € nebst Zinsen in Anspruch genommen.
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Die Beklagte hat zu ihrer Verteidigung geltend gemacht, die Klägerin
müsse sich ein Mitverschulden der Versenderinnen anrechnen lassen, weil die-
sen bekannt gewesen sei, dass durchgängige Ein- und Ausgangskontrollen
nicht durchgeführt würden.
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Das Berufungsgericht hat die im ersten Rechtszug erfolgreiche Klage in
Höhe von 2.460 € nebst Zinsen für begründet erachtet und sie im Übrigen ab-
gewiesen.
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Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Kläge-
rin ihr Klagebegehren weiter, soweit es vom Berufungsgericht abgewiesen wor-
den ist. Die Beklagte beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.
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Entscheidungsgründe:
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I. Das Berufungsgericht hat eine unbeschränkte Haftung der Beklagten
für den Verlust der Pakete nach Art. 17 Abs. 1, Art. 29 CMR und § 425 Abs. 1,
§ 435 HGB angenommen. Die Klägerin müsse sich allerdings ein Mitverschul-
den der Versenderinnen gemäß § 425 Abs. 2 HGB, § 254 Abs. 1 BGB anrech-
nen lassen, weil diese zumindest hätten wissen müssen, dass die Beklagte kei-
ne durchgehenden Schnittstellenkontrollen durchführe. Dies ergebe sich aus
dem Wortlaut der Beförderungsbedingungen der Beklagten, nach denen eine
Schnittstellenkontrolle als nicht vereinbart gelte. Dementsprechend sei bei dem
im Streitfall gegebenen Warenwert der Schadensersatzanspruch der Klägerin
um insgesamt 1.950 € zu kürzen. Ein weiteres Mitverschulden wegen unterlas-
sener Wertdeklaration komme nicht in Betracht.
II. Die gegen die Annahme eines Mitverschuldens der Versenderinnen
gerichtete Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des
erstinstanzlichen Urteils.
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1. Die grundsätzlich unbeschränkte Haftung der Beklagten für die in Re-
de stehenden Warenverluste nach Art. 17 Abs. 1, Art. 29 CMR (Schadensfall 1)
und § 425 Abs. 1, § 435 HGB (Schadensfall 2) steht in der Revisionsinstanz
nicht mehr im Streit.
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2. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Mit-
verschuldenseinwand auch im Fall des qualifizierten Verschuldens i.S. von
§ 435 HGB, Art. 29 Abs. 1 CMR zu berücksichtigen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH,
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Urt. v. 13.8.2009 - I ZR 76/07, TranspR 2010, 145 Tz. 13; zu Art. 29 CMR,
BGH, Urt. v. 21.1.2010 - I ZR 215/07, TranspR 2010, 189 Tz. 18, jeweils
m.w.N.).
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3. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Annahme des Beru-
fungsgerichts, die Klägerin müsse sich ein Mitverschulden der Versenderinnen
an der Entstehung des geltend gemachten Schadens zurechnen lassen, weil
die Versenderinnen hätten wissen müssen, dass die Beklagte keine durchge-
henden Schnittstellenkontrollen durchführe.
a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats kann ein Mitver-
schulden des Auftraggebers eines Spediteurs/Frachtführers nicht allein darin
gesehen werden, dass dieser Transportaufträge in Kenntnis dessen erteilt, dass
der Transporteur keine durchgehenden Schnittstellenkontrollen durchführt. Die
Frage, ob sich eine derartige Kenntnis aus Nummer 2 der Beförderungsbedin-
gungen der Beklagten entnehmen lässt, braucht daher nicht entschieden zu
werden. Denn unabhängig davon reichen jedenfalls die bloße Kenntnis und Bil-
ligung der Transportorganisation des Spediteurs/Frachtführers durch einen Auf-
traggeber für sich gesehen nicht aus, um ein Mitverschulden zu bejahen (BGH,
Urt. v. 15.11.2001 - I ZR 182/99, TranspR 2002, 302, 304; Urt. v. 13.2.2003
- I ZR 128/00, TranspR 2003, 255, 258; Urt. v. 17.6.2004 - I ZR 263/01,
TranspR 2004, 399, 402; Urt. v. 30.3.2006 - I ZR 57/03, NJW-RR 2006, 1264
Tz. 35 = TranspR 2006, 250, 252; Urt. v. 11.9.2008 - I ZR 118/06, TranspR
2008, 362 Tz. 17). Eine Anspruchsminderung nach § 425 Abs. 2 HGB i.V. mit
§ 254 Abs. 1 BGB wegen Beauftragung eines ungeeigneten Transportunter-
nehmens kommt nach der Rechtsprechung des Senats erst dann in Betracht,
wenn der Versender einen Spediteur/Frachtführer mit der Transportdurchfüh-
rung beauftragt, von dem er weiß oder zumindest hätte wissen müssen, dass
es in dessen Unternehmen aufgrund von groben Organisationsmängeln immer
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wieder zu Verlusten kommt. Die Auftragserteilung stellt unter solchen Umstän-
den die Inkaufnahme eines Risikos dar, dessen Verwirklichung allein dem
Schädiger anzulasten unbillig erscheint und mit dem § 254 BGB zugrunde lie-
genden Gedanken von Treu und Glauben unvereinbar ist (vgl. BGH, Urt. v.
29.4.1999 - I ZR 70/97, TranspR 1999, 410, 411; BGH TranspR 2004, 399,
402). Die Revisionserwiderung zeigt keine Gesichtspunkte auf, die Anlass zu
einer Änderung dieser Rechtsprechung geben.
b) Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, dass den Versenderinnen
vor Erteilung der Beförderungsaufträge bekannt war oder zumindest hätte be-
kannt sein müssen, dass es im Unternehmen der Beklagten wegen grober Or-
ganisationsmängel immer wieder zu Warenverlusten gekommen war. Anhalts-
punkte für eine solche Annahme ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der
Beklagten in den Vorinstanzen.
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Ein Mitverschulden der Versenderinnen im vorliegenden Fall ergäbe sich
auch dann nicht, wenn sie die Geschäftsbeziehung zur Beklagten nach den
streitgegenständlichen Schadensfällen fortgesetzt hätten. Dieser Umstand
könnte sich nur auf künftige Schäden auswirken. Ein eingetretener Verlust lässt
sich durch einen Abbruch der Geschäftsbeziehungen nicht mehr verhindern
(vgl. BGHZ 149, 337, 356; BGH, Urt. v. 14.5.1998 - I ZR 95/96, TranspR 1998,
475, 477).
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III. Danach ist das angefochtene Urteil auf die Revision der Klägerin in-
soweit aufzuheben, als wegen eines Mitverschuldens der Versenderinnen zum
Nachteil der Klägerin erkannt worden ist. Die Berufung der Beklagten gegen
das erstinstanzliche Urteil ist insgesamt zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
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Bergmann Pokrant Büscher
Schaffert Kirchhoff
Vorinstanzen:
AG Neuss, Entscheidung vom 18.06.2007 - 70 C 2186/06 -
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 03.04.2008 - 31 S 11/07 -