Urteil des BGH vom 25.06.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 196/08
vom
25. Juni 2009
In dem Restschuldbefreiungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
InsO § 295 Abs. 1 Nr. 2
Der Verzicht auf die Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs in der Wohlverhal-
tensphase stellt keine Obliegenheitsverletzung des Schuldners dar.
BGH, Beschluss vom 25. Juni 2009 - IX ZB 196/08 - LG Tübingen
AG
Tübingen
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Ganter und die Richter Raebel, Prof. Dr. Kayser, Dr. Pape und Grupp
am 25. Juni 2009
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer
des Landgerichts Tübingen vom 18. Juli 2008 wird auf Kosten der
Gläubigerin zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird
auf 20.000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
In dem im August 2000 eröffneten Insolvenzverfahren hat das Insolvenz-
gericht der Schuldnerin am 13. Juni 2001 die Restschuldbefreiung angekündigt.
Während der Wohlverhaltensphase verstarb am 5. Dezember 2004 der Vater
der Schuldnerin. Er hinterließ ein gemeinschaftliches Testament mit deren Mut-
ter. Danach setzten sich die Eheleute wechselseitig zu Alleinerben ein. Der Ü-
berlebende sollte von den drei Kindern beerbt werden. Bei Verlangen des
Pflichtteils nach dem Tod des Erstversterbenden sollte der Abkömmling von der
Erbfolge ausgeschlossen sein. Die Schuldnerin machte ihren Pflichtteilsan-
spruch nicht geltend.
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Am 30. November 2005 stellte die Gläubigerin Antrag auf Versagung der
Restschuldbefreiung wegen Verstoßes gegen die Obliegenheit, die Hälfte des
Wertes des von Todes wegen erworbenen Vermögens an den Treuhänder ab-
zuführen. Dieser Antrag hatte im ersten Rechtszug Erfolg. Das Beschwerdege-
richt hat die Entscheidung des Insolvenzgerichts abgeändert und den Versa-
gungsantrag zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Gläubi-
gerin den Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung weiter.
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II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, §§ 7, 6 Abs. 1, § 296 Abs. 3
Satz 1 InsO statthafte und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache auch
sonst zulässige Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) ist unbegründet.
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1. Das Beschwerdegericht, dessen Entscheidung in ZVI 2008, 450 (dort
fälschlich als rechtskräftig bezeichnet) veröffentlicht ist, meint, aus § 83 Abs. 1
InsO sei die eindeutige Wertung des Gesetzgebers zu entnehmen, dass allein
der Schuldner über die Annahme oder Ausschlagung einer Erbschaft oder ei-
nes Vermächtnisses oder die Geltendmachung eines Pflichtteils zu entscheiden
habe. Hieraus sei der Schluss zu ziehen, dass dies auch in der Wohlverhal-
tensphase so sei. Zwar gehöre der Pflichtteilsanspruch des Schuldners auf-
schiebend bedingt durch seine vertragliche Anerkennung oder Rechtshängigkeit
zur Insolvenzmasse. An der Zuständigkeit des Pflichtteilsberechtigten für die
Frage der Geltendmachung ändere sich hierdurch jedoch nichts. Es stelle des-
halb auch keine Obliegenheitsverletzung dar, wenn der Schuldner die Verjäh-
rungsfrist ablaufen lasse und damit stillschweigend auf den Anspruch verzichte.
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2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung stand.
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a) Das Insolvenzgericht versagt die Restschuldbefreiung auf Antrag ei-
nes Gläubigers, wenn der Schuldner während der Laufzeit der Abtretungserklä-
rung eine seiner Obliegenheiten verletzt und dadurch die Befriedigung der In-
solvenzgläubiger beeinträchtigt (§ 296 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 InsO). Nach
§ 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO obliegt es dem Schuldner, während der Laufzeit der
Abtretungserklärung Vermögen, das er von Todes wegen erwirbt, zur Hälfte des
Wertes an den Treuhänder herauszugeben.
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b) Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des § 295 Abs. 1 Nr. 2
InsO nicht erfüllt. Eine Obliegenheit, den Pflichtteilsanspruch nach dem Tod
ihres Vaters in der Wohlverhaltensphase geltend zu machen und die Hälfte des
dadurch erworbenen Betrags an den Treuhänder abzuführen, traf die Schuldne-
rin nicht.
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aa) Der Anspruch auf den Pflichtteil (§ 2303 BGB) entsteht mit dem Erb-
fall (§ 2317 Abs. 1, § 1922 Abs. 1 BGB). Von diesem Zeitpunkt an gehört er
zum Vermögen des Pflichtteilsberechtigten (BGHZ 123, 183, 187; BGH, Urt. v.
6. Mai 1997 - IX ZR 147/96, ZIP 1997, 1302; Beschl. v. 18. Dezember 2008
- IX ZB 249/07, ZInsO 2009, 299, 300 Rn. 14). Nach § 852 Abs. 1 ZPO ist er
allerdings der Pfändung nur unterworfen, wenn er durch Vertrag anerkannt oder
rechtshängig geworden ist. Diese Vorschrift steht einer Pfändung jedoch nicht
entgegen. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der
Pflichtteilsanspruch bereits vor der vertraglichen Anerkennung oder Rechtshän-
gigkeit als in seiner zwangsweisen Verwertbarkeit aufschiebend bedingter An-
spruch gepfändet werden (BGHZ 123, 183, 185 ff; BGH, Urt. v. 6. Mai 1997
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- IX ZR 147/96, aaO). Alles pfändbare Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit
der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens er-
langt, wird vom Insolvenzverfahren erfasst und gehört zur Insolvenzmasse (HK-
InsO/Kayser, 5. Aufl. § 83 Rn. 3). Dass nicht der Verwalter, sondern nur der
pflichtteilsberechtigte Schuldner über die Geltendmachung des Pflichtteilsan-
spruchs zu entscheiden hat, ändert nichts an der Zugehörigkeit des Anspruchs
zur Masse.
Für die Wohlverhaltensphase gilt, dass der Pflichtteilsanspruch als "Er-
werb von Todes wegen" im Sinne des § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO anzusehen ist
und Neuerwerb in diesem Abschnitt des Verfahrens darstellt, wenn der Erbfall
nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens eintritt. Diesen muss der Schuldner
zur Hälfte an den Treuhänder abführen, wenn er den Anspruch rechtshängig
macht oder ein Anerkenntnis vorliegt. Dies entspricht der Begründung des Ge-
setzgebers zu § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO (BT-Drucks. 12/2443 S. 192). Dort wird
ausdrücklich auf § 1374 Abs. 2 BGB hingewiesen. Nach dieser Vorschrift fällt
auch ein Pflichtteilsanspruch in das Vermögen, das von Todes wegen erworben
wird (Palandt/Brudermüller, BGB 68. Aufl. § 1374 Rn. 10; für die Wohlverhal-
tensphase MünchKomm-InsO/Ehricke, 2. Aufl. § 295 Rn. 57, entgegen
Römermann in Nerlich/Römermann, InsO § 295 Rn. 24).
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bb) Die Frage, ob es zu den Obliegenheiten des Schuldners gehört, eine
in der Wohlverhaltensphase anfallende Erbschaft nicht auszuschlagen und ei-
nen Pflichtteilsanspruch, der in diesem Zeitraum anfällt, zu verfolgen, ist um-
stritten. Der Bundesgerichtshof hat sie bislang nicht entschieden.
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(1) Nach ganz überwiegend vertretener Auffassung wird die Frage ver-
neint, weil es in der alleinigen persönlichen Entscheidungsmacht des Schuld-
ners liege, ob er eine Erbschaft annehme oder ausschlage. Die entsprechende
Befugnis werde ihm im eröffneten Verfahren durch § 83 Abs. 1 InsO verliehen.
In der Wohlverhaltensphase könnten ihn deshalb auch keine weitergehenden
Pflichten treffen. Der Verzicht auf einen Pflichtteil bedeute ebenso wenig eine
Obliegenheitsverletzung wie die Ausschlagung einer Erbschaft (Andres/
Leithaus, InsO § 295 Rn. 5; FK-InsO/Ahrens, 5. Aufl. § 295 Rn. 42; Graf-
Schlicker/Kexel, InsO § 295 Rn. 10; HK-InsO/Landfermann, 5. Aufl. § 295
Rn. 14; HmbKomm-InsO/Streck, 3. Aufl. § 295 Rn. 10; MünchKomm-InsO/
Schumann, aaO § 83 Rn. 4; MünchKomm-InsO/Ehricke, aaO § 295 Rn. 64;
Römermann in Nerlich/Römermann aaO § 295 Rn. 26 f; Uhlenbruck/Vallender,
InsO 12. Aufl. § 295 Rn. 34 f; Wenzel in Kübler/Prütting/Bork, InsO § 295
Rn. 19b; Messner ZVI 2004, 433, 434, 439; Döbereiner, Die Restschuldbefrei-
ung nach der Insolvenzordnung, 1997 S. 166; Fuchs in Kölner Schrift zur Insol-
venzordnung, 2. Aufl. S. 1742 Rn. 183; Mohrbutter/Ringstmeier/Pape, Hand-
buch der Insolvenzverwaltung, § 17 Rn. 142; vgl. LG Mainz ZVI 2003, 362 für
die entsprechend gelagerte Problematik der Ausschlagung im eröffneten Ver-
fahren). Nach einer Mindermeinung sollen die Ausschlagung einer Erbschaft
und der Verzicht auf die Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs dagegen
Obliegenheitspflichtverletzungen gemäß § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO sein, weil es
zu den Pflichten des Schuldners gehöre, zumindest einen Teil der Erbschaft
seinen Gläubigern zugänglich zu machen (Dieckmann in Leipold, Insolvenz-
recht im Umbruch, 1991 S. 127, 131 f; Bartels KTS 2003, 41, 64 ff; Thora
ZInsO 2002, 176, 178 f).
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(2) Der Senat hat die Frage bisher offen gelassen. In seinem Beschluss
vom 18. Dezember 2008 (aaO) ist das Problem nicht entscheidungserheblich
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gewesen. Dort war - im Unterschied zum vorliegenden Sachverhalt - der Erbfall
während des eröffneten Verfahrens eingetreten. Der Gläubiger hatte seinen
Versagungsantrag zwar auch auf § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO gestützt. Der Senat
musste die Streitfrage aber nicht entscheiden, weil der Pflichtteilsanspruch nicht
gleichzeitig zur Insolvenzmasse und zum Neuerwerb in der Wohlverhaltenspha-
se gehören konnte. Ein Versagungsantrag im Schlusstermin war nicht gestellt
worden, so dass die Frage eines Verstoßes gegen Mitwirkungspflichten im er-
öffneten Verfahren (§ 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO) offen bleiben konnte.
(aa) Im vorliegenden Fall gehört der Pflichtteilsanspruch der Schuldnerin
zum Neuerwerb in der Wohlverhaltensphase. Damit stellt sich die Frage nach
der Obliegenheitsverletzung. Nach Ansicht des Senats ist sie zu verneinen. Der
Verzicht auf die Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs in der Wohlverhal-
tensphase stellt - ebenso wie die Ausschlagung der Erbschaft oder der Verzicht
auf ein Vermächtnis - keine Obliegenheitsverletzung dar. Der Halbteilungs-
grundsatz des § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO greift erst ein, wenn der Schuldner die
Erbschaft angenommen oder den Pflichtteilsanspruch rechtshängig gemacht
hat oder dieser anerkannt ist.
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Zwar kann dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig entnommen wer-
den, ob den Schuldner in der Wohlverhaltensphase die Obliegenheit trifft, eine
Erbschaft nicht auszuschlagen oder einen Pflichtteilsanspruch gelten zu ma-
chen. Sinn und Zweck der Vorschrift verbieten es aber, dem Schuldner eine
entsprechende Pflicht aufzuerlegen. Die Regelung soll den Schuldner davon
abhalten, durch Ausschlagung der Erbschaft oder in anderer Weise dafür zu
sorgen, dass ihm das betroffene Vermögen während der Wohlverhaltensphase
gar nicht zufällt (BT-Drucks. aaO). Gehörte es nach den Vorstellungen des Ge-
setzgebers zu den Obliegenheiten des Schuldners, in der Wohlverhaltensphase
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eine Erbschaft nicht auszuschlagen und Pflichtteilsansprüche geltend zu ma-
chen, hätte es einer entsprechenden Regelung nicht bedurft. Die Halbteilung
und der mit ihr bezweckte Anreiz, die Erbschaft nicht auszuschlagen und keine
Maßnahmen zu treffen, um Erwerb von Todes wegen in der Wohlverhaltens-
phase nicht anfallen zu lassen, hätten dann keinen Sinn. Der Gesetzgeber ist
somit auch für die Wohlverhaltensphase von der vollen Dispositionsbefugnis
des Schuldners ausgegangen, wie sie im eröffneten Verfahren im Anschluss an
die frühere Bestimmung des § 9 KO in § 83 InsO gesetzlich geregelt ist. Die
Entscheidung über die Erbausschlagung und die Geltendmachung eines Pflicht-
teils ist auch in der Wohlverhaltensphase höchstpersönlicher Natur und fällt
nicht unter die Obliegenheiten des Schuldners aus § 295 Abs. 1 Nr. 2
InsO.
bb) Der persönliche Charakter des Ausschlagungsrechts (Staudinger/
Otte, BGB [Neubearb. 2000] § 1942 Rn. 14 f; MünchKomm-InsO/Schumann,
aaO § 83 Rn. 4), der auf den besonderen Beziehungen des Erben zum Erblas-
ser beruht, ist auch in der Wohlverhaltensphase zu beachten. Er darf nicht
durch einen mittelbaren Zwang zur Annahme der Erbschaft oder Geltendma-
chung des Pflichtteils unterlaufen werden, der sich ergeben würde, wenn man
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schon die Erbausschlagung selbst oder den Verzicht auf die Geltendmachung
eines Pflichtteils als Obliegenheitspflichtverletzung im Sinne des § 295 Abs. 1
Nr. 2 InsO ansähe.
Ganter Raebel Kayser
Pape Grupp
Vorinstanzen:
AG Tübingen, Entscheidung vom 19.11.2007 - II 1 IK 1/00 -
LG Tübingen, Entscheidung vom 18.07.2008 - 5 T 20/08 -