Urteil des BGH vom 20.02.2003

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 60/02
vom
20. Februar 2003
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR: ja
ZPO § 233 (Fd)
Erkennt der Bevollmächtigte einer Partei, daß er einen Schriftsatz per Telefax nicht
mehr fristgerecht an das zuständige Gericht übermitteln kann, steht es der Wieder-
einsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich nicht entgegen, daß er den Schrift-
satz in anderer Weise noch rechtzeitig hätte übermitteln können, sofern die Unmög-
lichkeit der rechtzeitigen Übermittlung per Telefax ihren Grund in der Sphäre des
Gerichts findet.
BGH, Beschl. v. 20. Februar 2003 - V ZB 60/02 - OLG Dresden
LG Chemnitz
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 20. Februar 2003 durch die
Richter Tropf, Prof. Dr. Krüger, Dr. Klein, Dr. Gaier und Dr. Schmidt-Räntsch
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 1 und 2 wird der
Beschluß des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom
23. September 2002 aufgehoben.
Den Beklagten zu 1 und 2 wird Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ge-
währt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die
Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens: 2.000
Gründe:
I.
Mit am 25. Juni 2002 den Beklagten zugestelltem Teilurteil vom 21. Juni
2002 hat das Landgericht Chemnitz zum Nachteil der Beklagten zu 1 und 2
entschieden. Hiergegen haben die Beklagten zu 1 bis 3 am 9. Juli 2002 bei
dem Oberlandesgericht Dresden Berufung eingelegt. Die Begründung der für
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die Beklagten zu 1 und 2 (im folgenden: Beklagte) eingelegten Berufung ist mit
am 9. September 2002 bei dem Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz
erfolgt.
Mit Schriftsatz vom 27. August 2002 haben die Beklagten Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegrün-
dungsfrist beantragt. Zur Begründung ihres Antrags haben sie ausgeführt, ihr
sachbearbeitender Prozeßbevollmächtigter sei in Urlaub gewesen. Wegen der
hiermit verbundenen Überlastung habe sein Vertreter die Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist um 14 Tage herbeiführen wollen. Er habe am
Montag, dem 26. August 2002, ab 19.44 Uhr vergeblich versucht, von dem Bü-
ro ihrer Bevollmächtigten in C. aus den zur Fristverlängerung notwendi-
gen Antrag per Fax an das Oberlandesgericht zu versenden.
Das Oberlandesgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vo-
rigen Stand zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten als unzulässig
verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II.
Das Berufungsgericht meint, die Berufungsbegründungsfrist sei nicht
ohne Verschulden der Prozeßbevollmächtigten der Beklagten versäumt wor-
den. Nachdem der antragstellende Bevollmächtigte sich mehr als eine Stunde
lang vergeblich bemüht habe, den Antrag auf Verlängerung der Frist per Fax
an das Berufungsgericht zu versenden, habe ihm klar sein müssen, daß der
Antrag auf diesem Wege nicht fristgerecht gestellt werden konnte. Er habe da-
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her eine andere zumutbare Möglichkeit, wie die Aufgabe eines Blitztele-
gramms, die Beauftragung eines Kurierdienstes mit 24-Stunden-Service oder
die Übersendung des Faxes an ein in Dresden residierendes Rechtsanwaltsbü-
ro mit der Bitte um Einwurf in den Nachtbriefkasten des Berufungsgerichts, er-
greifen müssen, um den Antrag bis 24.00 Uhr zu übermitteln, oder aber selbst
mit dem Auto von Chemnitz nach Dresden fahren müssen.
III.
Die Beschwerde der Beklagten ist gemäß § 574 Abs. 1, 2 ZPO zulässig.
Sie hat schon deshalb Erfolg, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts den
Anspruch der Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes
(Art. 20 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Die Voraussetzungen für
die beantragte Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen
die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist liegen vor.
1. Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes ver-
bietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrens-
ordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr
zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381, 385; 88, 118,
123 ff). Die Gerichte dürfen daher bei der Auslegung der die Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was
der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht
überspannen (BVerfGE 40, 88, 91; 67, 208, 212 f.; BVerfG NJW 1996, 2857;
2000, 1636). Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in al-
len Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig. Zwar sind die nach der jeweili-
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gen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen zur Wah-
rung des rechtlichen Gehörs auch insoweit zu verlangen (vgl. BVerfGE 74,
220, 225); die aus der Wahl des Übermittlungsweges per Telefax herrührenden
besonderen Risiken der technischen Gegebenheiten des gewählten Kommuni-
kationsmittels dürfen aber nicht auf den Nutzer des Mediums abgewälzt wer-
den, wenn die entscheidende Ursache für die Fristversäumung in der Sphäre
des Gerichts liegt (BVerfG NJW 1996, 2857; 2001, 3473).
So liegt der Fall hier: Nach Auskunft der Geschäftsstellenverwalterin des
Berufungsgerichts vom 5. September 2002 beruht die Unmöglichkeit, am
Abend des 26. August 2002 einen Schriftsatz per Telefax an das Berufungsge-
richt zu übermitteln, darauf, daß in beide Faxgeräte des Berufungsgerichts
nicht genügend Papier eingelegt war. Dieses Versäumnis des Gerichts kann
nicht dazu führen, den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten den für die Ü-
bermittlung des Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist er-
öffneten Weg zu versagen. Anders wäre nur zu entscheiden, wenn der Verlän-
gerungsantrag einer anderen Stelle des Oberlandesgerichts fristwahrend per
Fax hätte übermittelt werden können (vgl. BGH, Beschl. v. 6. März 1995,
II ZB 1/95, NJW 1995, 1431). So verhält es sich bei dem Oberlandesgericht
Dresden nicht.
2. Das Vorbringen der Beklagten zur Begründung des Antrags auf Frist-
verlängerung bedeutete einen erheblichen Grund im Sinne von § 520 Abs. 2
Satz 3 ZPO. Die Beklagten konnten daher darauf vertrauen, daß ihrem Antrag
stattgegeben würde (BGH, Beschl. v. 5. Juli 1989, IVb ZB 53/89, BGHR ZPO
§ 233 Fristverlängerung 3; v. 2. November 1989, III ZB 49/89, BGHR ZPO
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§ 233 Fristverlängerung 4; v. 23. Juni 1994, VII ZB 5/94 NJW 1994, 2957; u. v.
24. Oktober 1996, VII ZB 25/96, NJW 1997, 400).
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Damit war dem Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten stattzugeben.
Tropf
Krüger
Klein
Gaier
Schmidt-Räntsch