Urteil des BGH vom 22.04.2008
Nachträglicher Leitsatz
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ZR 76/07 Verkündet
am:
22. April 2008
Wermes
Justizhauptsekretär
als
Urkundsbeamter
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Ver-
handlung vom 22. April 2008 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den
Richter Scharen, die Richterin Mühlens und die Richter Prof. Dr. Meier-Beck
und Gröning
beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wer-
den folgende Fragen zur Auslegung des Gemeinschafts-
rechts gemäß Art. 234 EG zur Vorabentscheidung vorge-
legt:
1. Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verord-
nung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zustän-
digkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen dahin
auszulegen, dass auch bei Flugreisen von einem Mit-
gliedstaat der Gemeinschaft in einen anderen Mit-
gliedstaat ein einheitlicher Erfüllungsort für sämtliche
Vertragspflichten an dem nach wirtschaftlichen Krite-
rien zu bestimmenden Ort der Hauptleistung anzu-
nehmen ist?
2. Wenn ein einheitlicher Erfüllungsort zu bestimmen ist:
Welche Kriterien sind für seine Bestimmung maßgeb-
lich; wird der einheitliche Erfüllungsort insbesondere
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durch den Ort des Abflugs oder den Ort der Ankunft
bestimmt?
Gründe:
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I.
Der Kläger, der seinen Wohnsitz in München hat, buchte bei der
Beklagten, deren Geschäftssitz sich in Riga befindet, einen Flug von München
nach Vilnius. Etwa 30 Minuten vor dem geplanten Start in München wurden die
Fluggäste über die Annullierung des Fluges unterrichtet. Der Kläger flog - nach
entsprechender Umbuchung durch die Beklagte - über Kopenhagen nach Vilni-
us, wo er mehr als sechs Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit eintraf.
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Der Kläger hat eine Entschädigung in Höhe von 250,-- € nach Art. 5
Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004
über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen
für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer
Verspätung von Flügen begehrt.
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Das Amtsgericht hat die Entschädigung antragsgemäß zugesprochen.
Es hat sich für international zuständig erachtet und den Einwand der Beklagten
als unbegründet angesehen, die Annullierung sei auf außergewöhnliche Um-
stände zurückgegangen, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen,
wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
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Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage ab-
gewiesen. Es hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ver-
neint (OLG München RRa 2007, 182 = NJW-RR 2007, 1428).
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Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision
des Klägers, mit der er den Entschädigungsanspruch weiterverfolgt.
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II.
Die Entscheidung über die Revision des Klägers hängt davon ab,
ob das vom Kläger angerufene Amtsgericht Erding seine internationale Zustän-
digkeit zur Entscheidung des Rechtsstreits zu Recht bejaht hat. Ob dies der Fall
ist, hängt wiederum von der Auslegung des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegel-
strich der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handels-
sachen ab.
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Da die Beklagte ihren Geschäftssitz in Lettland hat, sind die deutschen
Gerichte international nur dann zuständig, wenn in Erding der oder ein Erfül-
lungsort für die verlangte Ausgleichszahlung begründet ist.
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1.
Nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 kann
eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor
dem Gericht desjenigen Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder
zu erfüllen wäre, verklagt werden, wenn Ansprüche aus einem Vertrag den Ge-
genstand des Verfahrens bilden. Nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der
Verordnung ist für die Erbringung von Dienstleistungen Erfüllungsort der Ver-
pflichtung derjenige Ort in einem Mitgliedstaat, an dem die Dienstleistungen
nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen.
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Für den Gerichtsstand des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 1. Spiegelstrich der
Verordnung hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bereits ent-
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schieden, dass mit dieser Regel der Lieferort als verordnungsautonomes An-
knüpfungskriterium festgelegt wird, das auf sämtliche Klagen aus ein und dem-
selben Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen und nicht nur auf diejeni-
ge aus der Lieferverpflichtung an sich anwendbar ist (Urt. v. 3.5.2007
- C-386/05, Slg. 2007, I-3699 Tz. 26 - Color Drack GmbH/Lexx International
Vertriebs GmbH). Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Regel auch
im Fall mehrerer Lieferorte in einem Mitgliedstaat anwendbar ist und dass bei
mehreren Lieferorten unter dem Erfüllungsort im Sinne des Art. 5 Nr. 1
Buchst. b 1. Spiegelstrich grundsätzlich derjenige Ort zu verstehen ist, an dem
die engste Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem zuständigen Gericht
besteht (aaO Tz. 40). Die engste Verknüpfung ist im Allgemeinen am Ort der
Hauptlieferung gegeben, die nach wirtschaftlichen Kriterien zu bestimmen ist.
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Kann der Ort der Hauptlieferung nicht festgestellt werden, weist jeder der
Lieferorte eine hinreichende Nähe zum Sachverhalt des Rechtsstreits und damit
eine für die gerichtliche Zuständigkeit maßgebliche Verknüpfung auf. In einem
solchen Fall kann der Kläger den Beklagten auf der Grundlage von Art. 5 Nr. 1
Buchst. b 1. Spiegelstrich der Verordnung Nr. 44/2001 vor dem Gericht des Lie-
ferorts seiner Wahl verklagen (EuGH aaO Tz. 42).
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Der Gerichtshof hat jedoch noch nicht entschieden, ob Art. 5 Nr. 1
Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verordnung in gleicher Weise auszulegen ist. Er
hat ferner ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich seine Erwägungen auf
den Fall mehrerer Lieferorte in einem einzigen Mitgliedstaat beschränkten und
einer Entscheidung im Fall mehrerer Lieferorte in verschiedenen Mitgliedstaa-
ten nicht vorgreifen sollten (EuGH aaO Tz. 16). Zum Wahlrecht der Klägers hat
er bemerkt, dieses Ergebnis werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass der
Beklagte nicht genau vorhersehen könne, vor welchem Gericht dieses Mitglied-
staats er verklagt werden könne, weil er insoweit hinreichend geschützt sei, als
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er bei mehreren Erfüllungsorten in einem Mitgliedstaat nach der fraglichen Be-
stimmung nur vor die Gerichte dieses Mitgliedstaats geladen werden könne, in
deren Sprengel er Waren geliefert habe (Tz. 44).
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2.
Nach dem Zweck der Verordnung Nr. 44/2001, die Vorschriften
über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen durch Zustän-
digkeitsvorschriften zu vereinheitlichen, die in hohem Maße vorhersehbar sind,
und unter Berücksichtigung des Ziels, bei einer Mehrzahl von Erfüllungsorten
nach Möglichkeit bei dem sachnächsten Gericht eine einheitliche gerichtliche
Zuständigkeit für alle Klagen zu begründen (so bereits zu Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ
EuGH, Urt. v. 19.2.2002 - C-256/00, Slg. 2002, I-1699 Tz. 32 - Besix
SA/WABAG, m.w.N.), erscheint es geboten, auch die Zuständigkeit für Rechts-
streitigkeiten über Vertragspflichten aus einem Beförderungsvertrag grundsätz-
lich an einem Erfüllungsort zu konzentrieren.
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Dies stößt jedoch u.a. bei Flugreisen auf die Schwierigkeit, dass sich
nach wirtschaftlichen Kriterien ein Schwerpunkt der Erbringung der Dienstleis-
tungen nicht eindeutig bestimmen lässt.
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Das Oberlandesgericht München hat für den Streitfall angenommen, der
Schwerpunkt der Dienstleistungen habe in Riga gelegen. Dort seien der Ver-
kauf des Fluges und die Buchung eines Platzes für den Kläger erfolgt. Von dort
wären sämtliche weiteren Erfüllungshandlungen zu bewirken gewesen, insbe-
sondere hätten dort die pünktliche Bereitstellung eines den Sicherheitsbestim-
mungen genügenden Flugzeugs in München und der Einsatz der Crew in Mün-
chen durch die Beklagte bewirkt werden müssen. Von dort wären auch die an-
schließende Beförderung von München nach Vilnius und die gesamte weitere
Organisation des Ablaufs für die Beförderung veranlasst worden.
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Dies erscheint nicht zutreffend, wie gerade der Streitfall verdeutlicht, bei
dem die Fluggesellschaft in einem dritten Mitgliedstaat C (hier in Lettland) ge-
schäftsansässig ist, in dem weder der Abflugort A (hier in Deutschland) noch
der Ankunftsort B (hier in Litauen) liegt. Die Handlungen, auf die das Oberlan-
desgericht abgestellt hat, betreffen sämtlich nicht die Vertragsleistungen selbst,
sondern deren Vereinbarung, Vorbereitung und Steuerung. Sie können an je-
dem beliebigen Ort erbracht werden, der nicht der Sitz der Fluggesellschaft sein
muss. Die Fluggesellschaft kann vielmehr ihr operationelles Geschäft von je-
dem beliebigen Ort aus steuern. Insbesondere könnte auch die Fluggesellschaft
nach Vertragschluss ihren Sitz vom Mitgliedstaat C in den Mitgliedstaat D ver-
legen und sodann die Vertragsleistungen von ihrem neuen Sitz aus in die Wege
leiten, ohne dass sich an dem Ort bzw. an den Orten, an denen die Vertrags-
leistungen selbst zu erbringen sind, irgendetwas ändern würde.
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Die vertraglichen Leistungen der Fluggesellschaft bestehen vielmehr im
Wesentlichen darin, dass der Flug von A nach B planmäßig durchgeführt wird,
dass der Fluggast in A an Bord genommen wird und von A nach B befördert
wird, dass der Fluggast während des Fluges betreut und dass für seine Sicher-
heit gesorgt wird und dass der Fluggast schließlich in B wohlbehalten von Bord
gehen kann. Bei wirtschaftlicher Betrachtung wird sich danach nicht sagen las-
sen, der Schwerpunkt der Vertragsleistungen liege in B. Zwar liegt in B das Ziel
der Reise und vollendet sich dort demgemäß die Abfolge der vertraglichen Leis-
tungshandlungen (vgl. Lehmann, NJW 2007, 1500, 1502). Jedoch ist der Start-
punkt der Reise nicht von geringerer Bedeutung, denn dem Reisenden kommt
es typischerweise nicht nur darauf an, nach B zu gelangen, sondern gleicher-
maßen darauf, gerade von A nach B zu reisen, weil er in A wohnt oder sich zum
vorgesehenen Reisetermin dort aufhält.
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Eher ließe sich nach Auffassung des Senats ein wirtschaftlicher Schwer-
punkt in A bejahen, weil dort mit der Bereitstellung des Flugzeugs und einer
einsatzfähigen Besatzung, der planmäßigen Fluggastaufnahme und dem plan-
mäßigen Start die Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, dass die
eigentliche Beförderungsleistung von A nach B überhaupt erbracht werden
kann. Demgemäß ist es auch wahrscheinlicher, dass Leistungsstörungen in A
und nicht in B auftreten. Dazu gehören insbesondere die Fälle verspäteter und
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annullierter Flüge. Unter dem Gesichtspunkt der Sachnähe des zuständigen
Gerichts spricht daher mehr für einen Leistungsort A als für einen Leistungsort
B (vgl. A. Staudinger, RRa 2007, 155, 158).
Melullis Scharen
Mühlens
Meier-Beck
Gröning
Vorinstanzen:
AG Erding, Entscheidung vom 21.12.2006 - 1 C 284/06 -
OLG München, Entscheidung vom 16.05.2007 - 20 U 1641/07 -