Urteil des BGH vom 20.12.2006

BGH (auf probe, entlassung, beurteilung, probe, schwerin, aufschiebende wirkung, verfügung, ermessensausübung, unterlassen, unwirksamkeit)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
RiZ(R) 2/06 Verkündet
am:
20. Dezember 2006
Justizamtsinspektor
als
Urkundsbeamter
der
Geschäftsstelle
in dem Prüfungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
_____________________
DRiG § 22 Abs. 1
SGB IX § 84 Abs. 1
Die Entlassung eines schwerbehinderten Richters auf Probe ist nicht allein des-
halb rechtswidrig, weil die rechtzeitige Einschaltung des Integrationsamtes gemäß
§ 84 Abs. 1 SGB IX unterblieben ist. Der Verstoß gegen § 84 Abs. 1 SGB IX ist
aber bei der Ausübung des in § 22 Abs. 1 DRiG eingeräumten Ermessens zu be-
rücksichtigen.
BGH - Dienstgericht des Bundes - Urteil vom 20. Dezember 2006 - RiZ(R) 2/06 -
Dienstgericht für Richter bei dem Landgericht Schwerin
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des Landes
Antragsgegner und Revisionskläger,
gegen
die Richterin auf Probe
Antragstellerin und Revisionsbeklagte,
- Prozessbevollmächtigte:
wegen Entlassung aus dem Richterverhältnis auf Probe
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Der Bundesgerichtshof - Dienstgericht des Bundes - hat auf die mündli-
che Verhandlung vom 20. Dezember 2006 durch den Vorsitzenden Rich-
ter am Bundesgerichtshof Nobbe, die Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović, die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Kniffka und
Dr. Joeres sowie die Richterin am Bundesgerichtshof Mayen
für Recht erkannt:
Die Revision des Antragsgegners gegen das Urteil des
Dienstgerichts für Richter bei dem Landgericht Schwe-
rin vom 8. September 2005 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Revisionsver-
fahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die in H. geborene, zu 100% schwerbehinderte (geh-
behinderte) Antragstellerin bestand am 28. Januar 1997 die erste juristi-
sche Staatsprüfung mit der Note "befriedigend" und am 18. Januar 2002
die zweite juristische Staatsprüfung mit der Note "vollbefriedigend". Der
Antragsgegner stellte sie mit Wirkung vom 2. April 2002 unter Berufung
in das Richterverhältnis auf Probe in den höheren Justizdienst des Lan-
des Mecklenburg-Vorpommern ein und wies sie dem Präsidenten des
Landgerichts Schwerin zur Dienstleistung zu.
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Der Präsident des Landgerichts beurteilte die Antragstellerin am
11. November 2002 aufgrund ihrer Tätigkeit bis zum 31. Oktober 2002
als für das Richteramt ungeeignet. Der Antragsgegner entließ sie dar-
aufhin nach Anhörung am 17. Januar 2003 und Zustimmung des Präsidi-
alrats durch Verfügung vom 13. Februar 2003 gemäß § 22 Abs. 1 DRiG
mit Wirkung vom 2. April 2003 aus dem Richterverhältnis auf Probe und
ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an. Zur Begründung
verwies er auf die dienstliche Beurteilung vom 11. November 2002. Hier-
gegen erhob die Antragstellerin am 12. März 2003 Widerspruch. Auf ih-
ren Antrag stellte das Dienstgericht für Richter bei dem Landgericht
Schwerin durch Beschluss vom 27. Mai 2003 die aufschiebende Wirkung
ihres Widerspruchs wieder her. Die hiergegen gerichtete Beschwerde
des Antragsgegners wies der Dienstgerichtshof für Richter bei dem
Oberlandesgericht Rostock durch Beschluss vom 14. Juli 2003 zurück.
Durch Beschluss vom 25. Juni 2003 untersagte das Verwaltungs-
gericht Schwerin dem Antragsgegner gemäß § 123 Abs. 1 VwGO, bis zu
einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antrag-
stellerin gegen die dienstliche Beurteilung vom 11. November 2002 diese
in einem Entlassungsverfahren nach § 22 Abs. 1 DRiG zu verwenden.
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen diesen Beschluss wies das
Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern am 9. Oktober 2003
zurück. Der Präsident des Oberlandesgerichts Rostock hob die Beurtei-
lung des Präsidenten des Landgerichts vom 11. November 2002 auf den
Widerspruch der Antragstellerin am 20. November 2003 auf.
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Der Präsident des Landgerichts erteilte nach einem Beurteilungs-
vorgespräch der Antragstellerin am 18. Dezember 2003 eine neue
dienstliche Beurteilung ihrer Tätigkeit vom 2. April bis zum 31. Oktober
2002. Danach entsprechen Urteilsvermögen und Entschlusskraft der
Richterin, die Arbeitsplanung am eigenen Arbeitsplatz, die Belastbarkeit
sowie die Arbeitszuverlässigkeit und Arbeitshaltung nicht den Anforde-
rungen. Kooperation auf fachlicher Ebene, Führungsverhalten und Ko-
operation entsprechen den Anforderungen weniger. Fachkenntnisse, Auf-
fassungsgabe, Denkvermögen, Verhandlungsgeschick, Behauptungs-
vermögen und schriftliches Ausdrucksvermögen entsprechen den Anfor-
derungen. Das mündliche Ausdrucksvermögen übertrifft die Anforderun-
gen. Ferner wird in der dienstlichen Beurteilung vom 18. Dezember 2003
ausgeführt:
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"Mit Wirkung vom 2. April 2002 ist sie als Richterin auf Probe in
den höheren Justizdienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern
eingestellt worden und seitdem in erstinstanzlichen Zivilkammern
des Landgerichts Schwerin eingesetzt.
Bereits nach wenigen Tagen Tätigkeit in der Zivilkammer 4
(02.04.-09.04.2002, bis 15.05. nur noch mit einem geringen Teil
der Arbeitskraft) musste sie wegen einer unvorhergesehenen Va-
kanz in die Zivilkammer 7 wechseln, die bis einschließlich Mai
2002 im Rahmen des Projektes S.P.R.U.N.G. von Neueingängen
entlastet war. Die Richterin hat zum 10. April 2002 in der Zivil-
kammer 7 ein Dezernat mit einem Bestand an lediglich knapp über
50 offenen Verfahren übernommen. Die Richterin hatte und hat er-
kennbare Probleme, ihr Dezernat hinreichend in den Griff zu be-
kommen. Dabei hat der Kammervorsitzende von Anfang an ver-
sucht, ihr - wie bei jungen Proberichtern hier üblich - Hilfestellung
bei der Arbeitsplanung und -organisation zu geben.
Soweit ich das auf einer bislang äußerst schmalen Beurteilungsba-
sis einschätzen kann, verfügt die Richterin wohl durchaus über ei-
ne den Anforderungen entsprechende Auffassungsgabe, die sie in
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die Lage versetzt, sich auch in komplexere Sachverhalte einzuar-
beiten. Sie hat wohl auch gut durchschnittliche Kenntnisse des ma-
teriellen und prozessualen Zivilrechts.
Die Beurteilungsgrundlage ist deswegen besonders schmal, weil
die Richterin in ihrer Tätigkeit in der Zivilkammer 4 nur ein, in der
Zivilkammer 7 auch nur ein Urteil (nach mündlicher Verhandlung
am 09.07.2002 Verkündung am 18.10.2002) abgesetzt hat. Die
auch ansonsten auffallend niedrigen Erledigungen beruhen nach
meiner derzeitigen Einschätzung jedenfalls auch in einem Mangel
an Urteilsvermögen, Entschlusskraft und Belastbarkeit der Richte-
rin.
In der beobachteten mündlichen Verhandlung war Frau Richterin
P. gut vorbereitet. Sie wirkte durchaus sicher und vermittelte
den Eindruck, "das Heft in der Hand" zu haben.
Kurzfristige Terminsverlegungen und verzögerliche Vorbereitungen
von Kammersachen deuten auf mangelnde Termintreue und eine
wenig effiziente Arbeitsplanung hin.
Die Erledigungen der Menge nach (vom 10. April 2002 bis
31. Oktober 2002 gesamt knapp über 40 Erledigungen, davon zwei
Urteile der Dezernatsvorgängerin) kommen deutlich nicht an die
Anforderungen heran, ohne dass ich dies auf Besonderheiten des
Dezernats der Richterin - die im Kammer- und Gerichtsvergleich
ein eher weniger belastetes Dezernat zu bearbeiten hatte - zurück-
führen kann. Der Anfangsbestand ihres Dezernats (knapp über 50)
ist bei etwas über 90 Eingängen (einschließlich etwa 40 interner
Abgaben in das Dezernat im April) bis Ende Oktober 2002 auf etwa
100 Sachen angewachsen. Bereits seit langem anhängige Verfah-
ren fördert sie nicht hinreichend zügig.
Die Richterin tritt auch im Kollegenkreis, obgleich noch wenig be-
rufserfahren, besonders selbstbewusst auf. Zu einem offenen und
vertrauensvollen Verhältnis als Grundlage für ein in jeder Hinsicht
gedeihliches Zusammenarbeiten in der Kammer und mit der Ge-
schäftsstelle (Serviceeinheit) hat sie noch nicht gefunden. Das be-
sonders häufige Verlangen, Verfügungen sehr kurzfristig abzuar-
beiten, zeugen von fehlendem Bedacht auf die Belange Anderer
bei der eigenen Arbeitsgestaltung und führte zu Spannungen. Ihre
Bereitschaft, Defizite unter Annahme der kollegialen Hilfe aus der
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Kammer auszugleichen, ist wenig ausgeprägt. In Kammerberatun-
gen ist die Richterin regelmäßig auf eine bestimmte Rechtsansicht
festgelegt und vertritt diese - weniger offen gegenüber abweichen-
den Meinungen - besonders nachdrücklich. Abweichend beschlos-
sene Auffassungen setzt sie dann aber um. Die fachliche Zusam-
menarbeit in der Kammer beschränkt die Richterin auf das unab-
dingbare Maß.
In einem Einzelfall habe ich die Richterin in einer arbeitsrechtli-
chen Frage konsultiert. Während ihrer Referendarzeit hatte die
Richterin einen Lehrgang als Fachanwalt für Arbeitsrecht absol-
viert. Diesem Arbeitsgebiet gehört erklärtermaßen ihr besonderes
Interesse.
Die Richterin ist gehbehindert. Die Behinderung ist - jedenfalls für
den Laien, auch für die Vertreterin des Integrationsamtes - nicht
ohne weiteres erkennbar. Die Frage nach eventuellen verhinde-
rungsbedingten Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit hat die
Richterin anlässlich ihres Dienstantritts bei mir verneint.
Nach möglichen Hilfestellungen zum Ausgleich der Behinderung
wurde die Richterin bei Dienstantritt befragt, sie sind im Rahmen
des hier Möglichen gewährt worden (z.B. Parkplatz im Hof, Dienst-
zimmer in räumlicher Nähe zur Geschäftsstelle und den übrigen
Kammermitgliedern, Zu- und Abtrag von Akten). Weitere Wünsche
hat sie im Beurteilungszeitraum nicht an mich herangetragen. Für
mich war auch sonst nicht erkennbar, dass ich ihr weitere ange-
messene Erleichterungen und/oder Arbeitshilfen hätte gewähren
können.
Richterin P. entsprach im Beurteilungszeitraum in mehreren Be-
urteilungseinzelmerkmalen, die nicht ihre Eignung, Befähigung und
fachliche Leistung in quantitativer Hinsicht betreffen, den Anforde-
rungen weniger oder nicht. Schon einzeln, jedenfalls zusammen-
genommen lassen diese Defizite die Richterin als nicht geeignet
für ein Richteramt erscheinen. Sie werden bei zusammenfassender
Bewertung auch nicht dadurch ausgeglichen, dass die Richterin in
anderen Beurteilungseinzelmerkmalen den Anforderungen ent-
sprach oder diese sogar übertraf.
Die den hiesigen Anforderungen im Beurteilungszeitraum nicht ge-
recht werdenden Leistungen in quantitativer Hinsicht führe ich teil-
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weise auch auf eine den Anforderungen weniger entsprechende
Arbeitshaltung zurück. Einen erheblichen Einfluss der Behinderung
auf die gezeigten Leistungen in quantitativer Hinsicht vermag ich
nicht zu erkennen. Ein solcher Einfluss ist mir auch weder von der
Richterin selbst, noch vom Richterrat oder vom Integrationsamt
nachvollziehbar aufgezeigt worden.
Im Quervergleich - auch zu anderen Richtern auf Probe - beurteile
ich Richterin P. derzeit zusammenfassend mit nicht geeignet.
Die Ausdehnung des Beurteilungszeitraums bis zum 31.10.2002
hat jedenfalls keine negative Auswirkung auf die Bewertung."
In weiteren Beurteilungen vom 18. Dezember 2003 und vom
12. Januar 2004 für die Zeiträume vom 1. November 2002 bis zum
30. September 2003 und vom 1. Oktober 2003 bis zum 31. Dezember
2003 beurteilte der Präsident des Landgerichts die Antragstellerin eben-
falls als "derzeit nicht geeignet". Der Präsident des Oberlandesgerichts
trat in Überbeurteilungen vom 26. Januar 2004 den Beurteilungen nicht
entgegen.
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Mit Verfügung vom 19. Februar 2004 entließ der Antragsgegner die
Antragstellerin gemäß § 22 Abs. 1 DRiG mit Wirkung vom 2. April 2004
erneut aus dem Richterverhältnis auf Probe. Zur Begründung verwies er
auf die Beurteilung ihrer Leistungen in den Zeiträumen vom 1. November
2002 bis 30. September 2003 und vom 1. Oktober 2003 bis zum
31. Dezember 2003 in den dienstlichen Beurteilungen vom 18. Dezember
2003 und 12. Januar 2004. Über den Widerspruch der Antragstellerin
gegen diese Verfügung ist noch nicht entschieden.
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Am 19. April 2004 und am 5. Januar 2005 hat die Antragstellerin
im Wege der Untätigkeitsklage beim Dienstgericht beantragt, die Entlas-
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sungsverfügungen vom 13. Februar 2003 und vom 19. Februar 2004 auf-
zuheben.
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Nachdem das Verwaltungsgericht einen entsprechenden Antrag
der Antragstellerin durch Beschluss vom 16. Juli 2004 abgelehnt hatte,
untersagte das Oberverwaltungsgericht auf die Beschwerde der Antrag-
stellerin durch Beschluss vom 10. Dezember 2004 im Wege vorläufigen
Rechtsschutzes dem Antragsgegner, bis zu einer bestandskräftigen Ent-
scheidung über den Widerspruch der Antragstellerin gegen die dienstli-
chen Beurteilungen vom 18. Dezember 2003 und vom 12. Januar 2004
diese Beurteilungen sowie die zugrunde liegenden Beurteilungsbeiträge
und die Überbeurteilungen des Präsidenten des Oberlandesgerichts vom
26. Januar 2004 in Entlassungsverfahren nach § 22 Abs. 1 DRiG zu ver-
wenden. Über den Widerspruch ist noch nicht entschieden.
Während des anhängigen dienstgerichtlichen Verfahrens wies der
Antragsgegner am 2. September 2004 den Widerspruch der Antragstelle-
rin gegen die Entlassungsverfügung vom 13. Februar 2003 zurück. Zur
Begründung führte er aus, die Entlassungsverfügung sei ungeachtet ei-
ner möglichen Verletzung des § 84 SGB IX, der auch für Richter gelte,
formell rechtmäßig. Nach dieser Vorschrift habe der Arbeitgeber bei Ein-
treten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkei-
ten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefähr-
dung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die
Schwerbehindertenvertretung, die in § 93 SGB IX genannten Vertretun-
gen und das Integrationsamt einzuschalten, um mit ihnen alle Möglich-
keiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögli-
che finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten be-
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seitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungs-
verhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann. Eine unter Ver-
letzung dieser Vorschrift verfügte Entlassung sei nur dann rechtswidrig,
wenn sie gerade wegen der Unterlassung präventiver Maßnahmen er-
folgt sei. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Präsident des Landgerichts
die Antragstellerin bereits bei ihrem Dienstantritt auf mögliche Hilfestel-
lungen zum Ausgleich ihrer Schwerbehinderung angesprochen und ihr
verschiedene Erleichterungen gewährt habe. Ferner habe er bei der Be-
urteilung der Leistungsfähigkeit der Antragstellerin ihre medizinischen
und physiotherapeutischen Behandlungen mitberücksichtigt. Versäum-
nisse des Präsidenten des Landgerichts lägen auch angesichts der Er-
klärung der Antragstellerin zu Beginn des in Rede stehenden Beurtei-
lungszeitraumes, dass keine behinderungsbedingte Einschränkung be-
stehe, nicht vor.
Nach § 22 Abs. 1 DRiG sei eine Entlassung aus jedem sachlichen
Grund, insbesondere bei Zweifeln an der Eignung für das Richteramt,
zulässig. Diese Zweifel ergäben sich aus der rückwirkend für den Beur-
teilungszeitraum vom 2. April bis 31. Oktober 2002 erstellten dienstlichen
Beurteilung vom 18. Dezember 2003. Die Einwände der Antragstellerin
gegen diese Beurteilung seien unbegründet. Der Präsident des Landge-
richts habe nicht sämtliche erreichbaren Erkenntnismöglichkeiten, etwa
die von der Antragstellerin vermissten Hinweis- und Beweisbeschlüsse
sowie die in Kammersachen verfassten Voten, ausschöpfen müssen. Er
habe sich neben eigenen Erkenntnissen und den vorgeschriebenen Be-
urteilungsbeiträgen mit weiteren rechtsfehlerfrei ausgewählten, sachge-
recht und tendenzfrei gewonnenen Erkenntnissen begnügen dürfen. Die
Beurteilung von Arbeitshaltung, Belastbarkeit, Auffassungsgabe, Ent-
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schlusskraft und Urteilsvermögen beruhten nach einem ergänzenden Be-
richt des Präsidenten des Landgerichts auf der zusammenfassenden
Wertung einer Fülle von Einzeltatsachen und -eindrücken, die nicht im
Einzelnen wiedergegeben werden könnten, sowie einem Vergleich mit
anderen Richtern. Ein beachtlicher Eignungsmangel liege auch darin,
dass die Antragstellerin seit langem anhängige Verfahren nicht hinrei-
chend zügig gefördert habe. Darin liege eine strukturelle Schwäche in
der Herangehensweise an das übertragene Dezernat, die auch unter Be-
rücksichtigung der Schwerbehinderung nicht hingenommen werden kön-
ne. Die fehlende fachliche Kooperationsbereitschaft sei ein weiterer
selbständiger Entlassungsgrund. Auch unter Berücksichtigung der
Schwerbehinderung der Antragstellerin sei im Hinblick auf das öffentliche
Interesse an der Qualität des Richterpersonals von dem Einsatz der An-
tragstellerin in einer Fachgerichtsbarkeit abzusehen und an ihrer Entlas-
sung festzuhalten.
Das Dienstgericht hat durch Beschluss vom 8. September 2005
das Verfahren betreffend die Entlassungsverfügung vom 19. Februar
2004 abgetrennt und einstweilen ausgesetzt. Durch das angefochtene
Urteil vom 8. September 2005 hat es die Entlassungsverfügung vom
13. Februar 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
2. September 2004 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt, die Entlassungsverfügung sei aus mehreren Gründen rechts-
fehlerhaft. Sie sei formell rechtswidrig, weil der Beklagte die Präventi-
onsmaßnahme gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX unterlassen habe. Dies führe,
unabhängig von der Ursächlichkeit der Unterlassung, zur Unwirksamkeit
der Entlassung. Diese sei auch deshalb formell rechtswidrig, weil der
Beklagte eine Abmahnung unterlassen habe. Jedenfalls wenn ein behin-
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derter Proberichter ohne Präventionsmaßnahmen entlassen werden sol-
le, gebiete die erhöhte Fürsorgepflicht des Dienstherrn eine vorherige
Abmahnung. Außerdem sei die Entlassung formell rechtswidrig, weil es
an verwertbaren Beurteilungen und auch im Übrigen an einer geeigneten
Entscheidungsgrundlage fehle. Durch die Verwaltungsgerichte sei dem
Beklagten die Verwendung aller in Betracht kommenden Beurteilungen
bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antrag-
stellerin untersagt worden. Da die Untersagung im Eilverfahren ausge-
sprochen worden sei, stehe die Unverwertbarkeit der Beurteilungen al-
lerdings nicht rechtskräftig fest. Deshalb sei im Entlassungsverfahren zu
prüfen, ob die Bewertung des Beklagten, die Beurteilung vom
18. Dezember 2003 sei nicht erkennbar rechtswidrig, richtig sei. Dies sei
nicht der Fall, weil die Beurteilung erkennbar mangelhaft sei. Der Beur-
teilungszeitraum weiche von der Beurteilungsrichtlinie ab. Es sei nicht
erkennbar, ob ein Beurteilungsvorgespräch stattgefunden habe. Der Ein-
satz einer Schwerbehinderten zum Abbau von Altbeständen und Um-
fangsverfahren sei bedenklich. Ein solches Dezernat sei zudem mit einer
gut laufenden, sauberen Abteilung verglichen worden. Die Beurteilung
enthalte Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit. Die Entlassungsver-
fügung sei wegen fehlerhafter Ermessensausübung auch materiell
rechtswidrig. Der Ermessensfehler liege in der Verletzung der gesteiger-
ten Fürsorgepflicht gegenüber Schwerbehinderten. Mit dieser sei die Auf-
fassung des Beklagten unvereinbar, zur Beseitigung von Rückständen
sei er auf uneingeschränkt leistungsfähige Richter angewiesen und kön-
ne alle anderen entlassen. Die Entlassung verstoße auch gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Fürsorgepflicht gebiete, Schwer-
behinderten vor einer Entlassung die Chance der Bewährung bei einem
anderen Gericht zu geben oder ihnen Teilzeitarbeit anzubieten.
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Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Antragsgegner sein
Begehren, den Antrag der Antragstellerin abzuweisen, weiter. Wegen
seines Vorbringens wird auf die Revisionsbegründung vom 15. März
2006 Bezug genommen.
Der Antragsgegner beantragt,
13
das Urteil des Dienstgerichts für Richter bei dem Landgericht
Schwerin vom 8. September 2005 aufzuheben und den Antrag, die
Entlassungsverfügung des Antragsgegners vom 13. Februar 2003
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2004
aufzuheben, zurückzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
Auf die Revisionserwiderung vom 28. August 2006 nebst Anlagen
wird Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
Die
zulässige
Revision ist unbegründet.
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I.
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Die Revision ist gemäß § 79 Abs. 2, § 80 Abs. 2 DRiG, § 45 Abs. 2
RiG MV zulässig. Gegen erstinstanzliche Urteile des Dienstgerichts für
Richter bei dem Landgericht Schwerin in Prüfungsverfahren findet, wie
das Dienstgericht des Bundes bereits entschieden hat (Urteile vom
13. November 2002 - RiZ(R) 3/01, NJW-RR 2003, 281, 282 und vom
13. November 2002 - RiZ(R) 5/01, NJW-RR 2003, 570, 571), nur die Re-
vision, nicht aber die Berufung statt.
II.
Die Revision ist unbegründet, weil das angefochtene Urteil nicht
auf der Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung einer Rechtsnorm
(§ 80 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 DRiG, § 45 Abs. 2 RiG MV, § 144 Abs. 2
VwGO) beruht. Das Dienstgericht hat die Entlassungsverfügung des An-
tragsgegners vom 13. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbe-
scheides vom 2. September 2004 im Ergebnis zu Recht als rechtsfehler-
haft aufgehoben.
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1. Die Verfügung vom 13. Februar 2003 und der Bescheid vom
2. September 2004 sind allerdings entgegen der Auffassung des Dienst-
gerichts nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil die gemäß § 84 Abs. 1
SGB IX vorgeschriebene rechtzeitige Einschaltung des Integrationsamtes
unterblieben ist. Das Unterlassen dieser Präventionsmaßnahme führt
nicht zur Unwirksamkeit der Entlassung. Dem Wortlaut des § 84 Abs. 1
SGB IX ist diese Rechtsfolge nicht zu entnehmen. Auch aus der syste-
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matischen Stellung der Vorschrift kann die Unwirksamkeit einer Entlas-
sung ohne vorherige Präventionsmaßnahme nicht hergeleitet werden.
§ 84 SGB IX steht in Teil 2 Kapitel 3 des SGB IX, das sonstige Pflichten
der Arbeitgeber und Rechte der schwerbehinderten Menschen regelt,
und nicht in Teil 2 Kapitel 4 über den Kündigungsschutz. Dies spricht
dagegen, dass die Verletzung der Pflicht, Präventionsmaßnahmen
durchzuführen, unmittelbare Auswirkungen auf die Wirksamkeit einer
späteren Kündigung hat. Deshalb wird für den Bereich des Arbeitsrechts
überwiegend die Auffassung vertreten, dass ein Verstoß gegen die ge-
steigerte Fürsorgepflicht (BAG NJW 2006, 1691, 1694) gemäß § 84
Abs. 1 SGB IX nicht zur Unwirksamkeit einer nachfolgenden Kündigung
führt (LAG Sachsen, Urteil vom 28. Februar 2003 - 2 Sa 339/02, zitiert
nach juris; Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX
2. Aufl. § 84 Rdn. 15; Kossens, in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX
2. Aufl. § 84 Rdn. 6; Neumann, in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen,
SGB IX 11. Aufl. § 84 Rdn. 16). Der Verstoß kann allerdings bei der Be-
urteilung der Frage, ob eine Kündigung im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG
sozial gerechtfertigt ist, von Bedeutung sein (vgl. Trenk-Hinterberger, in:
Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 17; Kossens, in:
Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 2; Neumann, in:
Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX 11. Aufl. § 84 Rdn. 17; Mül-
ler-Wenner, in: Müller-Wenner/Schorn, SGB IX § 84 Rdn. 16). Auch in
einem Richterverhältnis auf Probe, auf das § 84 Abs. 1 SGB IX Anwen-
dung findet (vgl. Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-
SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 8), führt der Verstoß gegen diese Vorschrift
nicht zur Unwirksamkeit einer Entlassung. Der Verstoß ist allerdings bei
der Ausübung des in § 22 Abs. 1 DRiG eingeräumten Ermessens zu be-
rücksichtigen.
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2. Das Dienstgericht hat aber rechtsfehlerfrei angenommen, dass
die Entlassung der Antragstellerin auf einer fehlerhaften Ermessensaus-
übung beruht.
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a) Die in § 22 Abs. 1 DRiG eröffnete Ermessensentscheidung ist
gerichtlich nur eingeschränkt, nämlich nur dahin überprüfbar, ob die Be-
hörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von
dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechen-
den Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 Satz 1 VwGO, §§ 83, 66 Abs. 1
Satz 1 DRiG).
b) Ein solcher Ermessensfehlgebrauch liegt hier vor. Nach Nr. 1
Abs. 2 Satz 3 und 4 der Schwerbehindertenrichtlinie Mecklenburg-
Vorpommern vom 1. Juli 1993 (ABl. MV S. 1286) ist ein vom Gesetzge-
ber eingeräumtes Ermessen großzügig zu handhaben. Alle Bestimmun-
gen sind möglichst zugunsten des Schwerbehinderten anzuwenden. Der
Antragsgegner hätte deshalb bei seiner Ermessensausübung berücksich-
tigen müssen, dass eine Präventionsmaßnahme gemäß § 84 Abs. 1 SGB
IX in dem darin vorgeschriebenen Zeitpunkt, nämlich bei Eintreten von
Schwierigkeiten, rechtswidrig unterblieben war. Dieser Umstand ist we-
der in der Entlassungsverfügung vom 13. Februar 2003 noch im Wider-
spruchsbescheid vom 2. September 2004 im Zusammenhang mit der
Ermessensausübung gewürdigt worden.
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Soweit der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid in anderem
Zusammenhang das Unterlassen eines Präventionsgesprächs gemäß
§ 84 Abs. 1 SGB IX berücksichtigt, hat er Bedeutung und Zweck dieses
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Gesprächs verkannt. Er vertritt die Auffassung, die rechtzeitige Durch-
führung des Präventionsgespräches hätte die Entlassung nicht verhin-
dern können, weil der Antragstellerin ohnehin zum Ausgleich der
Schwerbehinderung verschiedene Erleichterungen in Bezug auf ihr
Dienstzimmer, den Parkplatz und den Aktenzu- und -abtrag gewährt wor-
den seien. Auch ihre medizinischen und physiotherapeutischen Behand-
lungen seien bei der Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit mitberücksich-
tigt worden. Sie selbst habe bei Dienstantritt erklärt, dass keine behinde-
rungsbedingte Einschränkung vorliege.
Bei diesen Ausführungen ist unberücksichtigt geblieben, dass § 84
Abs. 1 SGB IX nach Wortlaut und Regelungszweck nicht nur behinde-
rungsbedingte Schwierigkeiten (Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/
Schellhorn/Welti, HK-SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 10), sondern Probleme
gleich welcher Art (Müller-Wenner, in: Müller-Wenner/Schorn, SGB IX
§ 84 Rdn. 4) erfasst. Auch bei Auftreten anderer Schwierigkeiten soll ver-
sucht werden, durch präventive Maßnahmen den Arbeitsplatz des
Schwerbehinderten zu erhalten. Vor diesem Hintergrund konnte die Ent-
lassung ohne rechtzeitige Präventionsmaßnahme nicht allein mit der
Gewährung von Erleichterungen zum Ausgleich der Schwerbehinderung
gerechtfertigt werden. Dasselbe gilt für die Äußerung der Antragstellerin,
es läge keine behinderungsbedingte Einschränkung vor. Die Antragstel-
lerin hat diese Bemerkung zudem nicht bei Eintreten der Schwierigkeiten
- auf diesen Zeitpunkt stellt § 84 Abs. 1 SGB IX ab -, sondern zu Beginn
ihrer richterlichen Tätigkeit gemacht, als sie als Berufsanfängerin die auf
sie zukommenden Anforderungen noch nicht sicher einschätzen konnte.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Besonderheiten, die mit ihrem
Einsatz in einer Zivilkammer verbunden waren, die vorübergehend von
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Neueingängen entlastet und folglich nur für die Bearbeitung von alten
Verfahren zuständig war. Nicht genau vorhersehbar sind für einen Be-
rufsanfänger auch die Anforderungen, die mit der laufenden Förderung,
Terminierung und Erledigung aller in seinem Dezernat anhängigen Ver-
fahren verbunden sind. Gerade in diesem Bereich werden in der dienstli-
chen Beurteilung aber Mängel festgestellt, die sich auf verschiedene Be-
urteilungsmerkmale negativ ausgewirkt haben. Deshalb kam einem der
Erhaltung des Arbeitsplatzes der schwerbehinderten Antragstellerin die-
nenden Präventionsgespräch bei Eintreten dieser Schwierigkeiten be-
sondere Bedeutung zu. Die erst eine Woche vor dem Ende des Beurtei-
lungszeitraums und danach geführten Präventionsgespräche erfolgten zu
spät und konnten den Zweck, die Fortsetzung des Richterverhältnisses
auf Probe zu ermöglichen, nicht mehr erfüllen.
c) Die Entlassung der Antragstellerin beruht auf der fehlerhaften
Ermessensausübung des Antragsgegners. Es ist nicht auszuschließen,
dass der Antragsgegner zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre,
wenn er das rechtswidrige Unterlassen der Präventionsmaßnahme ge-
mäß § 84 Abs. 1 SGB IX berücksichtigt, Bedeutung und Zweck dieser
Maßnahme richtig erkannt und dem Gebot zu einer großzügigen Hand-
habung gemäß Nr. 1 Abs. 2 Satz 3 und 4 der Schwerbehindertenrichtlinie
Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juli 1993 (ABl. MV S. 1286) entspro-
chen hätte.
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3. Da die Entlassungsverfügung bereits wegen fehlerhafter Ermes-
sensausübung rechtswidrig ist, braucht nicht entschieden zu werden, ob
das Dienstgericht zu Recht angenommen hat, die Entlassung der behin-
derten Antragstellerin ohne rechtzeitige Präventionsmaßnahme sei allein
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deshalb rechtswidrig, weil keine vorherige Abmahnung erfolgt sei. Auch
die - vom Dienstgericht verneinte - Frage, ob der Entlassungsverfügung
eine verwertbare Beurteilung zugrunde liege, bedarf keiner Entschei-
dung.
III.
Die Revision des Antragsgegners war daher als unbegründet zu-
rückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG i.V.
mit § 154 Abs. 2 VwGO.
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Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren
entsprechend § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 5 Satz 1
Nr. 2 und § 71 Abs. 1 Satz 2 GKG auf 30.000 € festgesetzt.
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Nobbe Solin-Stojanović Kniffka
Joeres Mayen
Vorinstanz:
LG Schwerin, Entscheidung vom 08.09.2005 - DG 1/04 -