Urteil des BGH vom 15.03.2017

BGH (zpo, rechtliches gehör, wiederaufnahme des verfahrens, unwiderlegbare vermutung, gesetzliche vertretung, partei, revisionsgrund, sicherung, zulassung, verletzung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ZR 20/05
vom
15. Mai 2007
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
ZPO § 543 Abs. 2 Nr. 2, § 547 Nr. 4
Die Revision ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen,
wenn ein absoluter Revisionsgrund nach § 547 Nrn. 1 bis 4 ZPO geltend ge-
macht wird und vorliegt.
BGH, Beschl. vom 15. Mai 2007 - X ZR 20/05 - Kammergericht
LG
Berlin
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden
Richter Dr. Melullis, den Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die
Richter Prof. Dr. Meier-Beck und Asendorf
am 15. Mai 2007
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil
des 7. Zivilsenats des Kammergerichts vom 11. Januar 2005 zuge-
lassen.
Gründe:
I.
Der Kläger und der Beklagte zu 2, sein nicht ehelicher Sohn, strei-
ten darum, wem eine Forderung gegen die C. AG (nachfol-
gend: C. ) aus einem Sparvertrag zusteht, den der Kläger am 22. April
1987 mit der Rechtsvorgängerin der C. abgeschlossen hat. Der als …-
Vorsorgeplan bezeichnete Sparvertrag ist auf den Beklagten zu 2 ausgestellt,
der jedoch bis zu seinem 26. Lebensjahr von der Verfügung über das Spargut-
haben ausgeschlossen sein sollte.
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Die C. verweigerte dem Kläger die Auszahlung des Guthabens, da
dieser die Kontoauszüge nicht vorlegen konnte. Nach den Allgemeinen Ge-
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schäftsbedingungen der Bank ist diese berechtigt, an den Inhaber der Sparur-
kunde und der jährlich erteilten Kontoauszüge zu leisten.
Der Kläger hat zunächst die Beklagte zu 1 und sodann den Beklagten
zu 2 auf Herausgabe der Kontoauszüge in Anspruch genommen. Das Landge-
richt hat durch Teilurteil die Klage gegen die Beklagte zu 1 abgewiesen und
durch Schlussurteil den Beklagten zu 2 antragsgemäß verurteilt.
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Während des Berufungsverfahrens ist über das Vermögen des Klägers
das Insolvenzverfahren eröffnet worden. In Unkenntnis dessen hat das Beru-
fungsgericht die Berufung des Klägers gegen das Teilurteil des Landgerichts
zurückgewiesen und auf die Berufung des Beklagten zu 2 die Klage auch gegen
diesen abgewiesen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen.
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Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
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II.
Die Revision ist zuzulassen, da die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543
Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
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1.
Wegen der Unterbrechung des Verfahrens (§ 240 ZPO) hätte am
7. Januar 2005 weder mündlich verhandelt noch am 11. Januar 2005 ein Urteil
verkündet werden dürfen; auf eine Kenntnis des Gerichts vom Unterbrechungs-
grund kommt es nicht an (BGHZ 66, 59, 61). Obwohl die Prozesshandlungen
der Parteien unwirksam sind (§ 249 Abs. 2 ZPO), ist das Urteil nicht nichtig,
sondern mit dem gegebenen Rechtsmittel anfechtbar (BGHZ 66, 59, 61 f.). Das
aufgrund einer nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen
des Klägers durchgeführten mündlichen Verhandlung erlassene Berufungsurteil
ist zuungunsten einer Partei ergangen, die nicht nach der Vorschrift des Geset-
zes vertreten war; ein solcher Verfahrensfehler begründet den absoluten Revi-
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sionsgrund des § 547 Nr. 4 ZPO (BGH, Urt. v. 5.11.1987 - VII ZR 208/87, ZIP
1988, 446; Urt. v. 21.6.1995 - VIII ZR 224/94, NJW 1995, 2563).
2.
Wird einer der absoluten Revisionsgründe des § 547 Nrn. 1 bis 4
ZPO mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht und liegt dieser tat-
sächlich vor, gebietet dies die Zulassung der Revision zur Sicherung einer ein-
heitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
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a)
Ein Teil der Literatur vertritt allerdings die Auffassung, das Vorlie-
gen eines absoluten Revisionsgrundes rechtfertige als solches die Zulassung
der Revision nicht (Musielak/Ball, ZPO, 5. Aufl., § 547 Rdn. 2; Reichold in Tho-
mas/Putzo, ZPO, 27. Aufl., § 543 Rdn. 5; Wenzel in MünchKomm ZPO, 2. Aufl.,
Akt.Bd. § 547 Rdn. 2; a.A. Zöller/Gummer, ZPO, 26. Aufl., § 543 Rdn. 15b; Pie-
kenbrock/Schulze, JZ 2002, 911, 921). Zur Begründung wird angeführt, die
Funktion der absoluten Revisionsgründe bestehe allein darin, dass die Ursäch-
lichkeit des als absoluter Revisionsgrund gekennzeichneten Verfahrensversto-
ßes für das angefochtene Urteil unwiderlegbar vermutet werde
(Musielak/Ball aaO.).
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b)
Dem ist jedoch nicht beizutreten.
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Kennzeichnend für die absoluten Revisionsgründe ist nicht lediglich die
unwiderlegbare Vermutung der Ursächlichkeit des Verfahrensverstoßes für die
Entscheidung. Vielmehr qualifiziert das Gesetz besonders schwerwiegende
Verfahrensfehler als absolute Revisionsgründe (so auch Musielak/Ball,
Reichold und Wenzel, jeweils aaO. § 547 Rdn. 1). Dies wird auch daran sicht-
bar, dass die absoluten Revisionsgründe des § 547 Nrn. 1 bis 4 mit den Nich-
tigkeitsgründen des § 579 Abs. 1 ZPO übereinstimmen, die eine Wiederauf-
nahme des Verfahrens und die Beseitigung eines rechtskräftigen Urteils recht-
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fertigen, weil es der Gesetzgeber für unzumutbar hält, von der unterlegenen
Partei zu verlangen, sich mit dem Urteil abzufinden (Grunsky in Stein/Jonas,
ZPO, 21. Aufl., Vor § 578 Rdn. 27).
Der Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
dient über seinen sich unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes ergebenden
Zweck, Divergenzen in den von der Rechtsprechung der Entscheidungsfindung
zugrunde gelegten Rechtssätzen zu vermeiden, auch dazu, die Korrektur von
Rechtsanwendungsfehlern zu ermöglichen, die über den Einzelfall hinaus die
Interessen der Allgemeinheit nachhaltig berühren (BGHZ 151, 42, 46; 151, 221,
226; 154, 288, 294 f.). Abgesehen von denjenigen Fällen, in denen konkrete
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ohne eine Korrektur durch das Revisions-
gericht eine Wiederholung oder Nachahmung des Fehlers droht, liegt ein sol-
cher Rechtsanwendungsfehler insbesondere dann vor, wenn die Verletzung von
Verfahrensgrundrechten oder ein Verstoß gegen das Willkürverbot geeignet
sind, das Vertrauen in die Rechtsprechung als Ganzes zu erschüttern (BGHZ
154, 288, 295 f.; Musielak/Ball aaO. § 543 Rdn. 8d m.w.N.).
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Jedenfalls die absoluten Revisionsgründe des § 547 Nrn. 1 bis 4 ZPO
sind insoweit wie die Verletzung von Verfahrensgrundrechten zu behandeln. Die
nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts kann sich als
Entziehung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) darstellen;
die fehlende gesetzliche Vertretung einer Partei kann deren Anspruch auf recht-
liches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzen. Unabhängig davon, ob es sich im
Einzelfall so verhält, macht der Gesetzgeber mit der Qualifikation schwerwie-
gender Verfahrensfehler als absolute Revisionsgründe und als Nichtigkeits-
gründe deutlich, dass es nicht erträglich erscheint, der betroffenen Partei abzu-
verlangen, die auf der Grundlage eines solchen Verfahrensfehlers ergangene
Entscheidung hinzunehmen. Es erschiene auch verfassungsrechtlich nicht un-
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bedenklich, der Partei in einem solchen Fall das nach der Verfahrensordnung
vorgesehene Rechtsmittel zu versagen und sie auf ein Wiederaufnahmeverfah-
ren zu verweisen.
Denn das Bundesverfassungsgericht hat es als "aus rechtsstaatlicher
Sicht auf Dauer schwer hinzunehmende(n) Zustand" bezeichnet, dass auch ein
offenkundiger Verfahrensfehler oder ein absoluter Revisionsgrund nach § 72
a.F. ArbGG die Zulassung der Revision im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht
rechtfertigte (BVerfG, NJW 2001, 2161, 2163). Der Gesetzgeber hat dem mit
dem Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 2004 (BGBl. I 3220) dadurch
Rechnung getragen, dass er in § 72 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG bestimmt hat, dass die
Revision zuzulassen ist, wenn ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 547
Nrn. 1 bis 5 ZPO oder eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs
auf rechtliches Gehör geltend gemacht wird und vorliegt. Nach der Begründung
des Gesetzentwurfs der Bundesregierung "entspricht" diese Regelung "der Er-
weiterung der Zulassungsgründe, wie sie im Bereich der allgemeinen Zivilge-
richtsbarkeit durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001
(BGBl. I, 1887) bereits eingeführt wurde" (BR-Drucks. 663/04, S. 47). Auch
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG und § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO
kennen, worauf die amtliche Begründung weiter hinweist, einen entsprechenden
- sogar noch weiter gefassten - Zulassungsgrund des Verfahrensmangels.
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Auch zur Vermeidung eines weder sachlich gebotenen noch nach dem
Vorstehenden dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Auseinanderfal-
lens der Zulassungsgründe in den verschiedenen Verfahrensordnungen ist es
hiernach geboten, die Revision jedenfalls dann zuzulassen, wenn einer der ab-
soluten Revisionsgründe des § 547 Nrn. 1 bis 4 ZPO geltend gemacht wird und
vorliegt.
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Melullis Keukenschrijver
Mühlens
Meier-Beck
Asendorf
Vorinstanzen:
LG Berlin, Entscheidung vom 13.05.2004 - 14 O 233/03 -
KG Berlin, Entscheidung vom 11.01.2005 - 7 U 293/03 -