Urteil des BGH vom 19.02.2013

BGH: wahrscheinlichkeit, sicherungsverwahrung, erschwerender umstand, sexuelle handlung, sexueller missbrauch, see, boot, verbrechen, ufer, eltern

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 465/12
vom
19. Februar 2013
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
19. Februar 2013, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Dr. Graf,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Cirener,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Radtke,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts München I vom 7. Mai 2012 mit den zugehö-
rigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anord-
nung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ab-
gesehen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Miss-
brauchs von Kindern nach der Rückfallqualifikation des § 176a Abs. 1 StGB
(Anlasstat mit der Einsatzstrafe von vier Jahren) in Tatmehrheit mit Verstoß
gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (§ 145a StGB) zu der Ge-
samtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Von der An-
ordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1
StGB hat es abgesehen. Zwar liege ein Hang des Angeklagten zu Sexualstraf-
taten vor, insbesondere zu Taten gemäß § 176 Abs. 1 StGB. Er werde derzeit
und auch noch nach der Haftentlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit Delikte
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wie die Anlasstat begehen. Bei Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesver-
fassungsgerichts im Urteil vom 4. Mai 2011 seien solche Taten jedoch nicht
ausreichend schwer im Sinne der dort vorgeschriebenen Weitergeltungsanord-
nung.
Die, wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, wirksam
auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkte Revision der
Staatsanwaltschaft, die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt ist, hat
Erfolg. Bei seiner Gefahrpro
gnose, es seien keine „schweren Sexualstraftaten“
i.S.d. Weitergeltungsanordnung zu erwarten, hat das Landgericht im Rahmen
der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB gebotenen Gesamtwürdigung nicht alle
Umstände hinreichend bedacht.
I.
Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der zum Urteilszeitpunkt
64 Jahre alte Angeklagte seit über 40 Jahren sexuelles Interesse an Kindern; er
wurde im Alter von 18 Jahren erstmals wegen exhibitionistischer Handlungen
vor Kindern verurteilt. In einem mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum
beging er in regelmäßigen Abständen ähnliche, teilweise nahezu identische
Delikte wie die Anlasstat. Von diesem eingefahrenen Verhalten ließ sich der
Angeklagte auch durch mehrjährige Therapien und lange Inhaftierungen nicht
abhalten. Zu den Vorverurteilungen hat das Landgericht folgende Feststellun-
gen getroffen:
1. Am 11. Mai 1976 wurde der Angeklagte vom Amtsgericht München
wegen mehrfachen im Juni 1975 verübten sexuellen Missbrauchs von Kindern
zu einer Bewährungsstrafe von elf Monaten verurteilt.
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2. Am 4. Februar 1986 wurde er vom Amtsgericht München wegen zwei-
er Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Bewährungsstrafe von
einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. In der Folge wurde die Strafausset-
zung zur Bewährung widerrufen und die Strafe voll verbüßt. Der Verurteilung
lag zugrunde, dass der Angeklagte im September 1985 ein acht Jahre altes
Mädchen mit in ein Schlauchboot (ähnlich wie bei der Anlasstat) nahm, auf den
See hinaus ruderte und dort aufforderte, sein entblößtes Glied mit einer mitge-
brachten Sonnencreme einzureiben. Am selben Abend streichelte er das Kind
in der Wohnung der Eltern unter dessen Schlüpfer an der Scheide; anschlie-
ßend steckte er sein entblößtes Glied zwischen die Oberschenkel des Kindes
und bewegte es auf und ab; während der ganzen Zeit waren die Eltern des
Kindes anwesend, bemerkten aber nichts, da der Angeklagte sich und das Kind
mit einer Decke zugedeckt hatte.
3. Am 21. März 1988 wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Aichach
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einem Jahr Frei-
heitsstrafe mit Bewährung verurteilt. Auch diese Bewährung wurde widerrufen;
die Strafe hat er vollständig verbüßt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der
Angeklagte an zwei verschiedenen Tagen im Juli 1987 ein zehnjähriges Mäd-
chen dazu einlud, mit seinem Schlauchboot auf einen Badesee hinauszufahren
und es dort veranlasste, über seiner Badehose an sein Geschlechtsteil zu fas-
sen und daran zu reiben. Eine vergleichbare Tat verübte er im selben Monat
gegenüber einem neunjährigen Mädchen.
4. Am 30. Januar 1992 wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Augs-
burg wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von
einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Er hatte die zehnjährige Freundin der
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Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin im Juli 1991 bei Besuchen dazu
veranlasst, an seinen Penis zu fassen. Mehrfach griff er dem Mädchen auch
grob an die Brust, führte in zwei Fällen den Finger in deren Scheide ein und
veranlasste das Mädchen auch einmal, ihr Geschlechtsteil zu entblößen, damit
er es ansehen konnte.
5. Im Februar 1995, fünf Monate nach seiner Entlassung aus der Justiz-
vollzugsanstalt, beging er die nächste Tat. Bei einer Fahrradtour traf er zwei
Nachbarkinder. Während er mit ihnen auf einer Bank saß, drückte er zunächst
die Hand des 14-jährigen Mädchens über der Hose an sein Glied, anschließend
nahm er die Hand des 13-jährigen Jungen und drückte sie ebenfalls auf sein
Glied. Deswegen wurde er vom Landgericht Traunstein am 29. November 1995
wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit
sexuellem Missbrauch eines Kindes, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren
verurteilt, welche er bis Mai 1998 vollständig verbüßte.
6. Am 3. Mai 2004 wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Rosenheim
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tatmehrheit mit Verstoß gegen
Weisungen während der Führungsaufsicht zu einer Freiheitsstrafe von zwei
Jahren verurteilt, welche er in der Folge bis Januar 2006 vollständig verbüßte.
Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass er bei einer Weihnachtsfeier im De-
zember 2003 in den Räumen einer Firma ein damals siebenjähriges Mädchen
kennenlernte, das er in einem unbeobachteten Augenblick vom Stuhl hoch hob
und diesem bewusst unter dem Kleid, aber über der Strumpfhose, nicht nur
unerhebliche Zeit an die Scheide griff. Anschließend küsste er das Mädchen
auf den Mund und auf die Backe und gab ihm danach gegen dessen Willen
noch einen Zungenkuss.
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7. Am 14. Juli 2008 wurde er vom Amtsgericht München wegen Versto-
ßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (u.a. keinen Kontakt zu
Kindern oder Minderjährigen aufzunehmen) zu der Freiheitstrafe von sechs
Monaten verurteilt, weil er im April 2008 auf dem Hof spielende Kinder an-
sprach und ein neunjähriges Mädchen in seine Wohnung lockte.
8. Schließlich wurde er am 14. Oktober 2009 vom Amtsgericht München
wegen eines weiteren Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsauf-
sicht zu der Freiheitstrafe von zehn Monaten verurteilt, weil er im Frühjahr 2009
fünf spielende Kinder angesprochen und zwei Jungen im Alter von sieben und
neun Jahren zu einem Treffen veranlasst hatte.
Die beiden letztgenannten Freiheitsstrafen verbüßte der Angeklagte voll-
ständig.
II.
1. Dem - rechtskräftigen - Schuldspruch liegen folgende Feststellungen
zugrunde:
Am 25. Mai 2011, knapp ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Straf-
haft, hielt sich der Angeklagte zusammen mit seiner Ehefrau - wiederum mit
seinem Schlauchboot - an einem Badesee bei München auf. Er fragte mehrere
dort befindliche Kinder, ob sie mit ihm im Schlauchboot fahren wollten. Dies
lehnten die Kinder ab.
Etwa eine halbe Stunde später kam er mit seiner Ehefrau zurück und
fragte die Kinder erneut, ob sie im Schlauchboot mitfahren wollten. Daraufhin
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stieg das vier Jahre und zwei Monate alte Mädchen G.
- die Geschädigte - in das Boot. Der Angeklagte sagte, die Fahrt würde nur ein
paar Minuten dauern. Die Mutter der Geschädigten gab ihre Erlaubnis, weil sie
davon ausging, die Fahrt würde zusammen mit der Ehefrau des Angeklagten
im Uferbereich stattfinden.
Der Angeklagte fuhr allerdings allein mit dem Kind, welches nicht
schwimmen konnte, auf den See hinaus; seine Ehefrau blieb am Ufer zurück.
Als er gewahr wurde, dass er sich mit der Geschädigten alleine auf dem See in
dem Schlauchboot befand und deshalb keine Einwirkungen Dritter möglich wa-
ren, beschloss er, sich durch die Geschädigte sexuell stimulieren zu lassen.
Nachdem er die Mitte des Sees erreicht hatte, stellte er das Rudern ein und ließ
das Boot treiben. Er holte seinen Penis aus der Badehose. Auf seine Aufforde-
rung umfasste das Kind das erigierte Glied und nahm daran für kurze Zeit Auf-
und Abwärtsbewegungen vor. Danach ruderte der Angeklagte weiter.
Die Mutter der Geschädigten war misstrauisch geworden, weil das
Schlauchboot längere Zeit weit draußen auf dem See war und ihr das Verhalten
der Geschädigten im Boot komisch vorkam. Deshalb schwamm sie zu dem
Boot. Als der Angeklagte die heranschwimmende Mutter bemerkte, ruderte er
auf sie zu, ließ sie einsteigen und brachte sie zusammen mit dem Kind an das
Ufer zurück. Zeugen verständigten die Polizei. Durch die Reaktion der Mutter
bemerkte die Geschädigte, dass etwas nicht stimmte, und fing an, stark zu wei-
nen. Negative Folgen der Tat für die Geschädigte sind - so das Landgericht -
derzeit nicht festzustellen.
2. Das Landgericht hat den weitgehend geständigen Angeklagten wegen
schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach der Rückfallvorschrift des
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§ 176a Abs. 1 StGB und wegen des Verstoßes gegen Weisungen während der
Führungsaufsicht gemäß § 145a StGB verurteilt. Für den sexuellen Missbrauch
hat es die Einsatzstrafe von vier Jahren und für den Weisungsverstoß eine Ein-
zelfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt; daraus hat es ei-
ne Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten gebildet. Auch der
Strafausspruch ist nicht angegriffen.
3. Dem psychiatrischen Sachverständigen folgend, hat das Landgericht
den Angeklagten für voll schuldfähig gehalten. Zwar bestünde bei ihm eine Stö-
rung der Sexualpräferenz in Form einer Pädophilie; diese sei jedoch nicht so
schwer, dass sie einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zugerechnet
werden könne.
4. Die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB - dessen formelle
Voraussetzungen vorliegen - hat das Landgericht nicht angeordnet, weil die
materiellen Voraussetzungen dieser Vorschrift in der Fassung des Gesetzes
vom 22. Dezember 2010 nach Maßgabe der vom Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 4. Mai 2011 gebotenen strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung
nicht erfüllt seien.
a) Allerdings habe der Angeklagte einen - sogar eindeutigen - Hang,
Straftaten, insbesondere solche gemäß § 176 Abs. 1 StGB, zu begehen. Das
werde durch als ungünstig zu wertende Kriterien belegt: Er sei jahrzehntelang
und häufig strafrechtlich in Erscheinung getreten. Bei seinen in regelmäßigen
Abständen begangenen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern sei er weit-
gehend identisch vorgegangen. Die Opferwahl sei zufällig und es habe sich um
ihm fremde Kinder gehandelt. Er sei mehrfacher Bewährungsversager. Aufla-
gen und Weisungen im Rahmen der Bewährung und der Führungsaufsicht ha-
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be er nicht eingehalten. Die Sexualstraftaten habe er während psychotherapeu-
tischer Behandlung begangen. Auch habe er eine ungünstige Persönlichkeits-
struktur. Nur wenige günstige Faktoren könnten an dieser Bewertung nichts
ändern.
b) Mit dem Sachverständigen gelangt das Landgericht auch zu einer un-
günstigen Gefahrprognose. Infolge seines Hanges seien vom Angeklagten mit
hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig Delikte wie die Anlasstat zu erwarten.
Sein Lebensalter und die Verbüßung der - hohen - Haftstrafe könnten diese
negative Prognose nicht entscheidend beeinflussen. Eine Änderung seiner pä-
dosexuellen Ausrichtung sei nicht zu erwarten. Die Erfolgschancen für eine wei-
tere Therapie seien gering; der Angeklagte habe sich auch durch mehrjährige
Therapien und lange Inhaftierungen nicht von seinen Taten abhalten lassen.
Im Anschluss an den Sachverständigen nimmt das Landgericht zwar
auch die Gefahr der Begehung schwererer Taten an, schätzt diese aber als
deutlich geringer ein. So sei nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten,
dass der Angeklagte solche Sexualstraftaten begehen werde, die mit einem
Eindringen in den Körper oder mit der Anwendung von Gewalt verbunden sei-
en.
c) Die aufgrund der Gefahrprognose derzeit und auch noch nach der
Haftentlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit - der Anlasstat vergleichbar - zu
erwartenden Sexualstraftaten seien aber noch keine ausreichend schweren
Sexualdelikte im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungs-
gerichts. Die Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Sexualstraftaten sei
für die Anordnung der Maßregel der Sicherungsverwahrung nicht ausreichend
hoch.
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Unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. Feb-
ruar 2012 (2 StR 346/11, StV 2012, 273) trifft das Landgericht die Wertung, der
sexuelle Missbrauch von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB sei - unter Berück-
sichtigung der Strafdrohung - kein ausreichend schweres Sexualdelikt, wenn
die Missbrauchshandlungen, wie hier, „in ihrer konkreten Gestalt ein eher ge-
ringfügiges Maß nicht überschritten“ hätten.
Die erhöhte Strafdrohung für Wiederholungstäter in § 176a Abs. 1 StGB
könne in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen, da die Erheblichkeit von
Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB vom Gesetzgeber über
die Folgen der Tat für das Opfer definiert und nicht an ein sozialethisches Un-
werturteil wie bei der Strafzumessung geknüpft werde.
III.
Die Revision hat Erfolg. Der Gefahrprognose des Landgerichts, es seien
keine „schweren Sexualstraftaten“ i.S.d. Weitergeltungsanordnung zu erwarten,
liegen im Rahmen der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB gebotenen Gesamt-
würdigung Wertungsfehler und Darlegungsmängel zugrunde.
1. Das Landgericht hat zwar mit sorgfältiger Begründung einen Hang des
Angeklagten zu Sexualstraftaten gegenüber Kindern bejaht; dagegen ist revisi-
onsrechtlich nichts zu erinnern.
2. Die Gefahrprognose begegnet allerdings durchgreifenden rechtlichen
Bedenken, soweit es Art und Schwere der zu erwartenden Sexualstraftaten
betrifft.
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Das Landgericht hat bei den mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten-
den Straftaten allein Taten wie die Anlasstat prognostiziert. Damit hat es er-
sichtlich auf den sexuellen Missbrauch von Kindern i.S.d. § 176 Abs. 1 StGB im
Wesentlichen durch Manipulationen am Penis des Angeklagten abgestellt. Der
Ausschluss der erforderlichen Wahrscheinlichkeit für schwerere Sexualstrafta-
ten erweist sich jedoch als rechtsfehlerhaft.
Angesichts der auch insoweit einschlägigen Vordelinquenz des Ange-
klagten erschließt sich nicht, wieso zukünftig Verbrechen nach § 176a Abs. 2
Nr. 1 StGB nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein soll-
ten. Das Landgericht teilt hierzu die Auffassung des Sachverständigen mit,
dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung solcher Delikte nicht be-
stehe, die konkrete Ausführung der Taten aber von der Situation abhänge. Je-
denfalls habe die Aggressivität des Angeklagten im Laufe der Zeit abgenom-
men. Dieser Einschätzung schließt sich das Landgericht an. Es fügt hinzu, dass
die psychologische Testung kein erhöhtes Aggressionspotential des Angeklag-
ten ergeben habe und sein Verhalten nach der Anlasstat nicht dafür spreche,
dass der Angeklagte zu unüberlegten Aggressionsdurchbrüchen neige. Ange-
sichts des Zeitablaufs könne den Vorverurteilungen nur noch sehr einge-
schränkte Bedeutung zukommen.
Diese Ausführungen vermögen zwar eine Verminderung der Wahr-
scheinlichkeit für Aggressionsdelikte zu belegen, nicht jedoch für solche Delik-
te, die ein aggressives oder gewaltsames Vorgehen nicht erfordern. Hierzu zäh-
len vor allem Verbrechen nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB, z.B. durch Einführen
der Finger, bei denen es sich um schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maß-
gabe des Bundesverfassungsgerichts handelt (BGH, Urteil vom 28. März 2012
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- 2 StR 592/11, NStZ-RR 2012, 272 (Ls.); Beschlüsse vom 26. Oktober 2011 -
2 StR 328/11; vom 11. August 2011 - 3 StR 221/11; vom 2. August 2011 - 3
StR 208/11; auf Umstände des Einzelfalls abstellend, BGH, Beschluss vom 26.
Oktober 2011 - 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9). An dieser Einordnung ändert
sich nichts, wenn dabei aggressives bzw. gewaltsames Verhalten nicht zu er-
warten steht (BGH, Urteil vom 24. März 2010 - 2 StR 10/10, NStZ-RR 2010,
239; zum Aspekt der Gewalt, vgl. aber auch Urteil vom 8. Februar 2012 - 2 StR
346/11), da es häufig für Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung von kindli-
chen Opfern aufgrund deren unzureichender Verstandes- und Widerstandskräf-
te des Einsatzes von Gewalt nicht bedarf (BGH, Beschluss vom 10. Januar
2013
- 1 StR 93/11; Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 StR 275/12). Dementsprechend
spielte Gewalt oder Aggression bei der Vordelinquenz des Angeklagten keine
bedeutende Rolle, ohne dass dies der Annahme eines Hangs entgegengestan-
den hätte. Insoweit hätte näherer Erörterung bedurft, wieso dem Fehlen ag-
gressiver bzw. gewaltsamer Neigungen nunmehr für die Wiederholungsgefahr
im Hinblick auf mit der Vordelinquenz vergleichbarer Taten Relevanz zukom-
men sollte.
Nähere Darlegungen zur Begründung der abweichend vom Sachver-
ständigen nicht nur als geringer, sondern als deutlich geringer eingeschätzten
Wahrscheinlichkeit der Begehung von Taten, die mit einem Eindringen in den
Körper verbunden sind, fehlen. Allein der Hinweis auf den zeitlichen Abstand zu
den einschlägigen Vorverurteilungen genügt im Hinblick auf die Berücksichti-
gungsfähigkeit gemäß § 66 Abs. 4 Satz 3 zweiter Halbsatz StGB den Anforde-
rungen an die Gefahrprognose nicht. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund der
vom Sachverständigen hervorgehobenen Abhängigkeit der Tatausführung von
der Tatsituation. In diesem Zusammenhang hätte der Erörterung bedurft, ob
der Angeklagte in einer anderen als der konkreten Anlasstatsituation - besuch-
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ter Badesee, heranschwimmende Mutter - nach wie vor zu noch intensiveren
Einwirkungen neigt.
Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass eine umfassendere und
wertungsfehlerfreie Prognose dazu geführt hätte, der Angeklagte werde mit der
erforderlichen Wahrscheinlichkeit auch schwerere als die im Absatz 1 des
§ 176 StGB bezeichneten Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern begehen.
Schon deshalb muss die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung aufgeho-
ben werden.
3. Darüber hinaus bemerkt der Senat, dass er der Wertung des Landge-
richts nicht beitreten könnte, die - nach dessen Prognose - zu erwartenden Se-
xualstraftaten i.S.d. § 176 Abs. 1 StGB seien auch bei Beachtung des verfas-
sungsrechtlichen Maßstabs keine „schweren Sexualstraftaten“.
a) Zwar geht das Landgericht dabei im Ansatz von einem zutreffenden
verfassungsrechtlichen Maßstab aus. Nach dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) ist § 66 StGB verfas-
sungswidrig. Die Vorschrift gilt vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetz-
geber, längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter. Das Gesetz zur bundesrechtli-
chen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung
vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I 2012, 2425) tritt erst zum 1. Juni 2013 in Kraft.
Während der Dauer der Weitergeltung des daher noch verfassungswidrigen §
66 StGB muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der
Sicherungsverwahrung in ihrer noch bestehenden Ausgestaltung um einen ver-
fassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Der hohe Wert dieses
Grundrechts beschränkt das übergangsweise zulässige Eingriffsspektrum. Da-
nach dürfen Eingriffe nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ord-
nung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten. Die Sicherungsver-
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wahrung darf nur nach Maßgabe einer besonderen Verhältnismäßigkeitsprü-
fung angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderun-
gen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird
der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einer Anordnung der Sicherungsverwah-
rung nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstrafta-
ten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Be-
troffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein strengerer Ver-
hältnismäßigkeitsmaßstab als bisher (vgl. BGH, Urteile vom 7. Juli 2011 - 5 StR
192/11; vom 7. Juli 2011 - 2 StR 184/11; vom 8. Februar 2012 - 2 StR 346/11).
b) Nach Auffassung des Senats können auch Fälle des sexuellen Miss-
brauchs von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB im Grundsatz „schwere Sexual-
straftaten“ im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsge-
richts sein. Freilich kommt es dabei auf den konkreten Einzelfall an (vgl. dazu
BGH, Urteil vom 8. Februar 2012 - 2 StR 346/11, StV 2012, 273: Rückfalltaten,
die in ihrer konkreten Gestalt ein eher geringfügiges Maß nicht überschritten
haben).
aa) Bei der Beantwortung der Frage, ob ein sexueller Missbrauch von
Kindern i.S.d. § 176 Abs. 1 StGB als schwere Sexualstraftat bewertet werden
kann, sind auch europarechtliche Vorgaben mit in den Blick zu nehmen (zur
unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung: BVerfG, Kam-
merbeschluss vom 26. September 2011 - 2 BvR 2216/06). Für die Bewertung
der Schwere des sexuellen Missbrauchs von Kindern kommt deshalb auch der
Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom
13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexu-
ellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Erset-
zung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. EU vom 17. Dezem-
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ber 2011 Nr. L 335 S. 1 i.V.m. ABl. EU vom 21. Januar 2012 Nr. L 18 S. 7) vom
13. Dezember 2011 Bedeutung zu. In deren Erwägungsgründen wird der sexu-
elle Missbrauch von Kindern als „schwerer“ Verstoß gegen die Grundrechte
beurteilt.
Erst recht gilt das für Wiederholungstäter. Die Richtlinie betont mehrfach
das Ziel, Wiederholungstaten zu verhindern. Nach deren Artikel 9 müssen die
Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass als „erschwerender Umstand“ gilt, wenn der
Straftäter zuvor wegen ähnlicher Straftaten verurteilt wurde. In den Artikeln
22 ff. wird den Mitgliedstaaten aufgegeben, das Risiko einer Wiederholung von
Sexualstraftaten - auch durch präventive Maßnahmen - zu verhindern. Schon
deshalb vermag das Argument des Landgerichts nicht zu überzeugen, die er-
höhte Strafandrohung des § 176a Abs. 1 StGB für Wiederholungstäter dürfe
bei der Bewertung der Schwere der Sexualstraftat keine Rolle spielen.
bb) Gegen dieses Argument spricht auch die Wertung des deutschen
Gesetzgebers. Während der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vor-
schriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Än-
derung anderer Vorschriften vom 28. Januar 2003 (BT-Drucks. 15/350) noch
vorsah, den Verbrechenstatbestand des „Rückfalls“ nach § 176a Abs. 1 Nr. 4
StGB nur noch zum Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall eines
Vergehens nach § 176 Abs. 3 StGB herabzustufen, hat der Gesetzgeber - der
Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 1. Juli
2003 (BT-Drucks. 15/1311) folgend - die Einstufung des Rückfalls als Verbre-
chen in § 176a mit der Begründung beibehalten, die Zurückstufung werde der
„Schwere und dem Unrechtsgehalt einer Rückfalltat nicht gerecht“. Mit der Be-
gründung zur Beibehaltung der Rückfalltat als Verbrechen hat er daher auch
eine - gesetzgeberische - Wertung zur Tatschwere getroffen.
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c) Darüber hinaus hätte der Senat auch Bedenken gegen die Einstufung
der Anlasstat als nicht besonders gravierend, weil sie „ein eher geringfügiges
Maß nicht überschritten“ habe, so dass die darauf aufbauende Gefahrprognose
für gleichartige Taten auch deshalb nicht tragfähig erscheint.
Zwar erreichte die eigentliche sexuelle Handlung (Handverkehr) nicht die
Intensität der Tathandlungen des § 176a Abs. 2 StGB. Allein darauf abzustel-
len, würde indes die Tatschwere der Anlasstat nicht zutreffend erfassen. Dass
ihr erhebliches Gewicht zukommt, hat das Landgericht ersichtlich selbst ange-
nommen, wie die dafür verhängte Freiheitsstrafe von immerhin vier Jahren
zeigt.
Diese Strafe trägt dem Tatbild der Anlasstat durchaus Rechnung. Der
Angeklagte hat - wie die Vorverurteilungen mit vergleichbarem modus operandi
zeigen - eine Situation bewusst und hier zudem hartnäckig herbeigeführt, um
besonders junge Mädchen - hier ein vier Jahre altes Kind - missbrauchen zu
können. Er hat damit gezielt und zudem durch Täuschung schutzbereiter Dritter
eine Lage geschaffen, bei welcher der schutzbereite Dritte nicht mehr eingrei-
fen konnte. Das ist eine Lage, in der das Mädchen seiner Einwirkung schutzlos
ausgeliefert war; mögen auch die weiteren Voraussetzungen der Nötigungssi-
tuation des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch nicht erfüllt sein. Schon insoweit und
auch mit Blick auf die Vorbelastungen des Angeklagten unterscheidet sich der
Fall von dem Sachverhalt, die dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. Feb-
ruar 2012 - 2 StR 346/11 (StV 2012, 273) zugrunde lag. Auch die Abschwä-
chung der Schwere des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit dem Argument
der fehlenden Gewaltanwendung kann dem Täter bei der Prüfung des § 66
StGB nicht zu Gute kommen (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2013 - 1 StR
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93/11; Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 StR 275/12; Urteil vom 14. August 2007
- 1 StR 201/07).
Da die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung schon deshalb der
Aufhebung unterliegt, weil die Gefahrprognose unzureichend ist, braucht der
Senat nicht zu entscheiden, ob zu erwartende Sexualstraftaten vergleichbar
dem Tatbild der Anlasstat schon „schwere Sexualstraftaten“ sind, mit der Folge,
dass - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - nach § 66 Abs. 1 StGB die
Sicherungsverwahrung zwingend anzuordnen wäre.
VRiBGH Nack ist wegen
Urlaubsabwesenheit an der
Unterschrift gehindert.
Rothfuß Rothfuß Graf
Cirener Radtke
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