Urteil des BGH vom 04.11.2009

BGH (stgb, gefährlichkeit, sicherungsverwahrung, leistungsfähigkeit, missbrauch, haftentlassung, wohnung, verurteilung, begründung, abnahme)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 347/09
vom
4. November 2009
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. November
2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Rissing-van Saan,
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Cierniak,
Richter am Landgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Trier vom 19. März 2009 im Rechtsfolgenaus-
spruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückver-
wiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Miss-
brauchs von Kindern in 20 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jah-
ren verurteilt. Die auf den Rechtsfolgenausspruch, insbesondere auf die Nicht-
anordnung der Sicherungsverwahrung, beschränkte und mit der Verletzung ma-
teriellen Rechts begründete Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Zwar
ergibt die Überprüfung des Urteils zum Strafausspruch für sich genommen kei-
nen Rechtsfehler; jedoch hält die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung
rechtlicher Überprüfung nicht stand.
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Zutreffend hält das Landgericht die formellen Voraussetzungen des § 66
Abs. 2 StGB für erfüllt, weil dem Gesamtstrafenausspruch von acht Jahren
20 Einzelfreiheitsstrafen zu je vier Jahren zugrunde liegen. Dagegen sind die
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Ausführungen, mit denen die Kammer die materiellen Voraussetzungen des
§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint hat, nicht frei von Rechtsfehlern.
1. Mit nicht tragfähiger Begründung gelangt das Landgericht zu dem Er-
gebnis, bei dem Angeklagten liege bereits ein Hang zu erheblichen Straftaten
nicht vor.
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a) Nach den Feststellungen ist der 66-jährige Angeklagte bereits im Jah-
re 2006 wegen eines im Jahre 2003 begangenen sexuellen Missbrauchs eines
Kindes in zwei Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheits-
strafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Dieser Verurteilung
lag zu Grunde, dass der Angeklagte zu einem 11-jährigen Nachbarsjungen ein
freundschaftliches Verhältnis aufgebaut und diesen mit Versprechungen in sei-
ne Wohnung gelockt hatte. Bei zwei verschiedenen Gelegenheiten küsste er
dort den Jungen und masturbierte an dessen Glied.
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Die jetzige Verurteilung basiert auf einem vergleichbaren Geschehen:
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Auch hier stammte das Opfer, ein zu den Tatzeiten 12 bis 13-jähriger
Junge, aus dem unmittelbaren Freundes- und Bekanntenkreis des Angeklagten.
Wiederum unter Versprechungen lockte der unter Bewährung stehende Ange-
klagte das Kind im Jahre 2007 in seine Wohnung und vollzog an diesem in 20
Fällen ungeschützten Analverkehr bis zum Samenerguss, wobei er das
Schweigen des Jungen und dessen erneute Besuche einerseits mit massiven
Drohungen, andererseits mit Belohnungen bewirkte.
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b) Das Landgericht hat insoweit ausgeführt, der von ihm beauftragte psy-
chiatrische Sachverständige habe sich bei der Beurteilung eines eventuell vor-
liegenden Hanges "maßgeblich an den Kriterien, die von Habermeyer und Saß
in ihrem 2004 publizierten Werk über Grundlagen und Differentialindikation zur
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Maßregel gemäß § 66 StGB" entwickelt wurden, orientiert und sei zu dem Er-
gebnis gelangt, dass zwar einige im Einzelnen benannte Kriterien auf den An-
geklagten zuträfen, die Mehrzahl hingegen nicht. Unter Verwertung der vom
Sachverständigen vermittelten Erkenntnisse stellt die Kammer bei zusammen-
fassender Bewertung der Persönlichkeit des Angeklagten ausschlaggebend
darauf ab, dieser habe stets nur sich ihm im unmittelbaren sozialen Umfeld bie-
tende Gelegenheiten zur Begehung der sexuellen Übergriffe genutzt. Deshalb
sei bei einer Gesamtschau das Vorliegen eines Hanges im Sinne einer intensi-
ven Neigung zu Rechtsbrüchen für den Angeklagten zu verneinen (UA 21 f.).
c) Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Ein Hang im
Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist - was die Kammer verkennt - nicht nur bei
dem Täter zu bejahen, der dauernd zu Straftaten entschlossen ist, sondern
auch bei demjenigen, der aufgrund einer in seiner Persönlichkeit liegende Nei-
gung immer wieder straffällig wird, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet (vgl.
BGH NStZ 2005, 265 f.; 2003, 201; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 8). Im Übri-
gen ist die Annahme einer "bloßen" Gelegenheitstat hier mit den sonstigen Ur-
teilsgründen unvereinbar. Der unter Bewährung stehende Angeklagte hat - wie
auch bei seiner einschlägigen Vorverurteilung - keineswegs nur Gelegenheiten
ausgenutzt, sondern die Tatumstände geplant und aktiv gestaltet, indem er sich
das Vertrauen seiner Opfer zunächst erschlichen und sodann die äußeren
Rahmenbedingungen durch Einladungen in seine Wohnung geschaffen hat.
Anschließend hat er ein subtiles Geflecht aus Belohnung und Einschüchterung
aufgebaut, um den Missbrauch so lange wie möglich - hier über den Zeitraum
eines Jahres hinweg - fortsetzen zu können.
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Ebenso wenig ist Voraussetzung für die Annahme eines Hanges, dass
die Straftaten zu Lasten einer Mehrzahl von Opfern begangen werden; ausrei-
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chend sind auch wiederholte Taten zu Lasten desselben, aus dem sozialen
Umfeld des Täters stammenden Opfers (vgl. BGH NStZ 2008, 27).
Schließlich steht auch eine Spätkriminalität - die delinquente Entwicklung
des Angeklagten begann erst seit seinem 60. Lebensjahr - einer Hangtäter-
schaft bei Sexualdelikten nicht grundsätzlich entgegen (LK-Rissing-van
Saan/Peglau StGB 12. Aufl. § 66 Rn. 131).
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2. Auch die Begründung, mit der die Kammer die Gefährlichkeit des An-
geklagten verneint hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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a) Angesichts der rechtsfehlerhaften Ausführungen zur Ablehnung eines
Hanges ist bereits nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Anwendung
zutreffender Maßstäbe die vom Angeklagten ausgehende Gefährlichkeit bejaht
hätte; denn der Hang ist ein wesentliches Kriterium der Gefährlichkeitsprognose
(BGH aaO).
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b) Soweit sich die Kammer bei der hilfsweisen Erörterung der Gefährlich-
keit des Angeklagten vom Sachverständigen herangezogene Prognoseinstru-
mente "Static 99", "die von Hare 1985 erarbeitete PCL (Psychopathy-Check-
List) und den "SVR- (Sexual-Violence-Risk) Kriterienkatalog" zu eigen macht,
genügt es nicht, lediglich anzugeben, welche Prozent- bzw. Punktwerte der An-
geklagte als Testergebnis erreicht hat. Vielmehr ist in den Urteilsgründen im
Einzelnen anzugeben, welche der maßgeblichen Kriterien bei dem Angeklagten
erfüllt sind und welche nicht, um dem Senat eine Überprüfung der Gefährlich-
keitsprognose zu ermöglichen (BGH StV 2008, 300; vgl. auch Boetticher u. a.
NStZ 2009, 478 ff.).
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c) Auch ist die vom Landgericht weiter gegen eine Gefährlichkeit ange-
führte Überlegung, der bestreitende Angeklagte werde die verhängte Strafe
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voraussichtlich voll verbüßen und dann bei seiner Haftentlassung aufgrund sei-
nes vorangeschrittenen Alters infolge vermutlicher Abnahme der physischen
Leistungsfähigkeit sowie der sexuellen Appetenz nicht mehr gefährlich sein
(UA 23), rein hypothetisch und damit nicht tragfähig.
So ist für die Gefährlichkeitsprognose zunächst grundsätzlich der Zeit-
punkt der Aburteilung maßgeblich (Fischer aaO § 66 Rn. 36 m.w.N.). Ob ein
Angeklagter zum Entlassungszeitpunkt aus der Strafhaft noch gefährlich ist, ist
regelmäßig vor Vollzugsende nach § 67 c Abs. 1 StGB zu prüfen. Zwar kann
der Tatrichter auch bereits bei seiner Entscheidung nach § 66 Abs. 2 StGB den
Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und dem Alter des Angeklagten bei
Strafentlassung Bedeutung beimessen, dies jedoch nur dann, wenn gleichzeitig
eine Haltungsänderung des Angeklagten sicher zu erwarten ist (BGH NStZ
2002, 30 f.; 2005, 211; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 3 und
6). Denkbare, aber nur erhoffte positive Änderungen im Strafvollzug bleiben
einer Prüfung nach § 67 c Abs. 1 StGB vorbehalten (BGH NStZ-RR 2005, 337).
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Hier indessen geht die Kammer ausdrücklich davon aus, dass der Ange-
klagte therapeutischen Maßnahmen nicht zugänglich ist (UA 23). Hinzu kommt,
dass die altersbedingte Abnahme der physischen Leistungsfähigkeit sexuellen
Missbrauch von Kindern keineswegs ausschließt. So ist zum Beispiel - wie vom
Angeklagten in der Vergangenheit praktiziert - ein Missbrauch in Form von Mas-
turbationshandlungen an Kindern auch bei eingeschränkter physischer Leis-
tungsfähigkeit ohne Weiteres möglich.
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3. Soweit die Kammer schließlich in einer zweiten Hilfserwägung die An-
ordnung der Sicherungsverwahrung aufgrund des bei Haftentlassung voraus-
sichtlich erreichten Alters sowie der dann einsetzenden Führungsaufsicht für
unverhältnismäßig im Sinne des § 62 StGB erachtet, vermag auch dies die
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Nichtanordnung der Maßregel nicht zu begründen. Nachdem das Landgericht in
rechtsfehlerhafter Weise bereits einen Hang abgelehnt und die Gefährlichkeit
verneint hat, fehlt es nämlich an den erforderlichen Anknüpfungstatsachen für
eine Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. So ist unklar, wie
hoch eine mögliche Gefährlichkeit und wie ausgeprägt damit die Gefahr für die
bedrohten Rechtsgüter wäre. Auch können die Erwägungen zur bei Haftentlas-
sung einsetzenden Führungsaufsicht kein wesentliches Gewicht gewinnen, weil
der Angeklagte die hier abgeurteilten Taten unter laufender Bewährung began-
gen hat.
4. Nach alledem muss über die Anordnung von Sicherungsverwahrung
daher neu befunden werden. Da die Kammer hier ausdrücklich einen Bezug
zwischen der Höhe der zu verbüßenden Strafe und der Nichtanordnung von
Sicherungsverwahrung hergestellt hat, hebt der Senat auch den Strafausspruch
- insoweit zu Gunsten des Angeklagten - auf.
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Rissing-van
Saan
Fischer
Roggenbuck
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