Urteil des BGH vom 12.10.2004

BGH (ne bis in idem, wirtschaftsprüfer, steuerberater, restriktive auslegung, beruf, freispruch, kommission, zweigniederlassung, auslegung, bestellung)

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
WPO § 83a Abs. 1 und 3
WPO § 38 Nr. 3
WPO § 47
1. Bei mehrfach qualifizierten Berufsträgern sperrt der Frei-
spruch nach einer Berufsordnung nicht die Verfolgung einer
möglichen Pflichtverletzung nach einer anderen Berufs-
ordnung, soweit ein bereichsspezifischer disziplinarischer
Überhang in der anderen Berufsordnung besteht.
2. Ein auswärtiges Büro, in dem ein Wirtschaftsprüfer ohne Hinweis
auf seinen Beruf als Wirtschaftsprüfer und ohne Angebot oder
Durchführung berufsspezifischer Kerntätigkeiten lediglich Auf-
gaben als Insolenzverwalter wahrnimmt, ist keine Zweignieder-
lassung im Sinne von § 47 und § 38 Nr. 3 WPO.
BGH, Urteil vom 12. Oktober 2004
WpSt (R) 1/04
WpSt (R) 1/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 12. Oktober 2004
in dem berufsgerichtlichen Verfahren
gegen
den Wirtschaftsprüfer
wegen Berufspflichtverletzung
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Der Senat für Wirtschaftsprüfersachen beim Bundesgerichtshof hat in der
Sitzung vom 12. Oktober 2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richter Schaal
als beisitzende Richter,
Wirtschaftsprüfer Dr. H ,
Wirtschaftsprüfer Prof. Dr. He
als beisitzende ehrenamtliche Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Generalstaatsanwaltschaft gegen das Urteil
des Senats für Wirtschaftsprüfersachen bei dem Kammerge-
richt vom 24. Oktober 2003 wird verworfen.
Die Wirtschaftsprüferkammer hat die Kosten des Rechtsmit-
tels und die dabei entstandenen notwendigen Auslagen des
Berufsangehörigen zu tragen.
– Von Rechts wegen –
G r ü n d e
Die Kammer für Wirtschaftsprüfersachen des Landgerichts Berlin und
der Senat für Wirtschaftsprüfersachen beim Kammergericht haben den Be-
rufsangehörigen vom Vorwurf einer Berufspflichtverletzung aus Rechtsgrün-
den freigesprochen. Hiergegen wendet sich die – vom Kammergericht ge-
mäß § 107 Abs. 2 WPO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene –
Revision der Generalstaatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel bleibt im Ergebnis
ohne Erfolg.
I.
1. Das Kammergericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der Berufsangehörige ist seit 1984 als Rechtsanwalt in Bürogemein-
schaft mit einem Steuerberater tätig. 1987 wurde er zum Steuerberater und
1991 zum vereidigten Buchprüfer bestellt. Er arbeitet in diesem Beruf in ei-
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gener Praxis in Mönchengladbach. Seit 1995 betreibt er in Chemnitz und seit
1998 in Templin je ein Abwicklungsbüro für Insolvenzen nach der (früheren)
Gesamtvollstreckungsordnung und der Insolvenzordnung. Die Büros hat er
am Eingang durch ein Schild mit dem Hinweis „Büro N “ kenntlich
gemacht. In Templin beschäftigt er zehn und in Chemnitz acht Angestellte
mit kaufmännischer oder vergleichbarer Ausbildung, welche überwiegend
aus den sich im Insolvenzverfahren befindlichen Betrieben übernommen wur-
den.
Der Berufsangehörige hat die Büros in Templin und Chemnitz nicht als
Zweigniederlassungen zum Berufsregister der Wirtschaftsprüferkammer an-
gemeldet. Keines der Büros wird von einem anderen vereidigten Buchprüfer
oder Wirtschaftsprüfer geleitet.
2. Wegen dieses Sachverhaltes hatte die Kammer für Steuerberater-
sachen beim Landgericht Düsseldorf den Berufsangehörigen als Steuerbera-
ter bereits mit Urteil vom 27. Juli 2001 – 45 StL 30/99 – rechtskräftig vom
Vorwurf einer Berufspflichtverletzung nach den für Steuerberater geltenden
Rechtsvorschriften freigesprochen.
3. Landgericht und Kammergericht haben einen Verstoß des Berufs-
angehörigen gegen die Bestimmungen über die Führung von Zweignieder-
lassungen (§ 47 WPO, § 19 Abs. 3 BS WP/vBP i.V.m. § 130 Abs. 1 WPO)
und entsprechende Pflichten zur Eintragung in das Berufsregister (§ 38 Nr. 3
WPO i.V.m. § 130 Abs. 1 WPO) verneint. Das Landgericht und – ihm fol-
gend – das Berufungsgericht haben die Tätigkeit als Insolvenzverwalter im
wesentlichen als nicht den Vorschriften der Wirtschaftsprüferordnung unter-
liegenden „echten“ Zweitberuf gewertet.
4. Im Revisionsverfahren hat die Wirtschaftsprüferkammer mit Schrei-
ben vom 25. August 2004 mitgeteilt, daß der vereidigte Buchprüfer nunmehr
mit Wirkung zum 26. Juli 2004 als Wirtschaftsprüfer bestellt wurde.
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II.
Verfahrenshindernisse im Hinblick auf die freisprechende Entschei-
dung des Landgerichts Düsseldorf bestehen für das vorliegende Verfahren
nicht. § 83a Abs. 3 WPO, der systematisch im Zusammenhang mit den Vor-
schriften über das berufgerichtliche Verfahren steht, sperrt eine Ahndung
nach der WPO vorliegend nicht.
Nach § 83a Abs. 3 WPO sind die Gerichte für Wirtschaftsprüfersachen
an die Entscheidung eines Gerichts einer anderen Berufsgerichtsbarkeit ge-
bunden, soweit dieses – wie hier inzident mit der Sachentscheidung der
Kammer für Steuerberatersachen bei dem Landgericht Düsseldorf gesche-
hen – rechtskräftig seine Aburteilungzuständigkeit über die Pflichtverletzung
eines Berufsangehörigen, der zugleich der Berufsgerichtsbarkeit eines ande-
ren Berufs (hier: Wirtschaftsprüfer) untersteht, bejaht hat.
Diese Kollisionsnorm will indes nur eine zeitgleiche Behandlung des
selben Sachverhalts in unterschiedlichen berufsgerichtlichen Verfahren ver-
hindern. Eine Sperrwirkung im Sinne einer materiellen Ne-bis-in-idem-
Regelung dergestalt, daß der rechtskräftige Abschluß des Verfahrens nach
einer Berufsordnung gegen den Angehörigen mehrerer Berufsordnungen die
spätere Ahndung desselben Pflichtenverstoßes nach einer anderen Berufs-
ordnung stets verhindern würde, ist § 83a Abs. 3 WPO nicht zu entnehmen
(vgl. allgemein dazu Paepcke in Festschrift für Gerd Pfeiffer 1988, Die Gren-
zen anwaltlicher Ehrengerichtsbarkeit mit Rücksicht auf den Grundsatz ne
bis in idem, S. 985 ff.). Dies folgt bereits aus der systematischen Stellung des
§ 83a WPO im Gefüge der Vorschriften über das berufsgerichtliche Verfah-
ren.
Einer Interpretation des § 83a Abs. 3 WPO, die der Norm einen dar-
über hinausgehenden materiellen Gehalt zubilligen würde, stünden aber
auch weitere systematische Erwägungen entgegen. Nach § 69a Satz 1
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WPO, der im Zusammenhang mit den materiellen Vorschriften der berufsge-
richtlichen Ahndung von Pflichtverletzungen im Ersten Abschnitt des Fünften
Teils der WPO steht, ist unter anderem dann von einer berufsgerichtlichen
Ahndung desselben Verhaltens abzusehen, wenn eine anderweitige berufs-
gerichtliche Maßnahme (d.h. die Maßnahme des Gerichts einer anderen Be-
rufsordnung) verhängt worden ist und eine berufsgerichtliche Maßnahme
nach der WPO nicht zusätzlich erforderlich ist, um den Wirtschaftsprüfer zur
Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen des Berufs zu wah-
ren. Hiermit korrespondiert § 103 Abs. 3 Nr. 2 WPO, wonach das Gericht
über die Fälle des § 260 Abs. 3 StPO hinaus das Verfahren durch Urteil ein-
stellt, wenn nach § 69a Satz 1 WPO von einer berufsgerichtlichen Ahndung
abzusehen ist. Sowohl § 69a Satz 1 WPO als auch § 103 Abs. 3 Nr. 2 WPO
wären obsolet, wenn § 83a Abs. 3 WPO eine dem strafprozessualen Straf-
klageverbrauch vergleichbare Wirkung zukäme.
Bei sachgerechter Auslegung begründet § 83a Abs. 3 WPO vorliegend
lediglich ein temporäres, der anderweitigen Rechtshängigkeit vergleichbares
Verfahrenshindernis (so für das Recht der Steuerberater im Ergebnis auch
Gehre, Steuerberatungsgesetz 4. Aufl. § 92 Rdn. 1). Jedenfalls der Frei-
spruch nach einer Berufsordnung kann die Verfolgung nach einer anderen
Berufsordnung nicht sperren. Ansonsten würden möglicherweise bestehende
Unterschiede in der Ausprägung einzelner Berufspflichten unterschiedlicher
Berufsordnungen potentiell nivelliert. Dieses Auslegungsergebnis folgt im
übrigen auch aus dem Rechtsgedanken des Verhältnisses zwischen
Strafprozeß und berufsgerichtlichem Verfahren (vgl. § 83 Abs. 1 WPO). So
wie dort im Anschluß an einen strafgerichtlichen Freispruch noch Raum für
die Ahndung des disziplinarischen Überhangs besteht, muß auch im Verhält-
nis mehrerer Berufsordnungen nach dem Freispruch in einer Berufsordnung
Raum für den bereichsspezifischen disziplinarischen Überhang einer ande-
ren Berufsordnung verbleiben. In den Grenzen des § 69a WPO kann das
vorliegende Verfahren daher wegen des spezifisch WPO-rechtlichen diszipli-
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narischen Überhangs durchgeführt werden, sobald das vorgreifliche Verfah-
ren nach der anderen Berufsordnung abgeschlossen ist.
Allerdings wird die Wirtschaftsprüferkammer in Fällen dieser Art schon
im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in besonderem Maße
vor Einleitung oder Fortführung eines weiteren berufsgerichtlichen Verfah-
rens zu prüfen haben, ob ein weiterer, spezifisch WPO-rechtlicher disziplina-
rischer Überhang im Sinne von § 69a WPO besteht und diesen gegebenen-
falls im einzelnen darzulegen haben.
Vorliegend wurde das temporäre Verfahrenshindernis mit dem rechts-
kräftigen Abschluß des Verfahrens vor der Kammer für Steuerberatersachen
bei dem Landgericht Düsseldorf beseitigt. Im Hinblick auf den dort erfolgten
Freispruch steht § 69a Satz 1 WPO der Durchführung dieses Verfahrens
nicht entgegen.
III.
Die Revision der Generalstaatsanwaltschaft ist im Ergebnis unbegrün-
det. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Kammergerichts verstößt der
Berufsangehörige weder gegen die Bestimmungen über die Führung von
Zweigniederlassungen (§ 47 WPO, § 19 Abs. 3 BS WP/vBP) noch gegen
entsprechende Pflichten zur Eintragung in das Berufsregister (§ 38 Nr. 3
WPO) oder die Verpflichtung, im beruflichen Verkehr die Berufsbezeichnung
„Wirtschaftsprüfer“ zu führen (§ 18 Abs. 1 Satz 1 WPO).
1. Zunächst steht § 83a Abs. 1 WPO der Zulässigkeit einer Verfolgung
im Verfahren nach der Wirtschaftsprüferordnung nicht entgegen. Hiernach
wird über eine Pflichtverletzung eines Wirtschaftsprüfers, der zugleich der
Berufsgerichtsbarkeit eines anderen Berufs untersteht, in Fällen unterhalb
der möglichen Ausschließung aus dem Beruf nur dann nach der Wirtschafts-
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prüferordnung entschieden, wenn die Pflichtverletzung überwiegend mit der
Ausübung des Berufs des Wirtschaftsprüfers im Zusammenhang steht.
Hieraus folgt zunächst, daß bei eindeutiger Zurechenbarkeit des Ver-
haltens zu nur einer Berufsordnung, auch nur diese gilt (so auch
BVerwGE 112, 1, 4). Insoweit sperren § 83a Abs. 1 WPO und die korrespon-
dierenden Vorschriften anderer Berufsordnungen (vgl. z.B. § 110 StBG,
§ 118a BRAO) die Anwendung verschiedener Berufsordnungen auf den
mehrfach qualifizierten Berufsangehörigen.
Ist die Pflichtwidrigkeit – ohne daß insoweit ein Schwerpunkt erkenn-
bar ist – hingegen mehreren Berufsordnungen zuzurechnen, gelten alle in
Betracht kommenden Berufsordnungen. Daraus folgt, daß ein Berufsträger,
der mehreren Berufsordnungen unterliegt, damit zugleich im Einzelfall den
Vorschriften der strengsten Berufsordnung zu folgen hat (BVerfGE 54, 237,
247; 17, 371, 380; BGHSt 42, 55, 58). Dies ist die Kehrseite seiner die Räu-
me beruflicher Betätigung und damit zugleich seine wirtschaftlichen Perspek-
tiven erweiternden Mehrfachqualifikation.
So liegt der Fall hier:
Zutreffend geht das Kammergericht zunächst davon aus, daß die Tä-
tigkeit als Insolvenzverwalter zu den Tätigkeiten gehört, zu denen der Wirt-
schaftsprüfer im Sinne von § 2 Abs. 3 WPO befugt ist. Insolvenzverwaltung
ist treuhänderische Tätigkeit (vgl. nur Gehre, Steuerberatungsgesetz 4. Aufl.
§ 57 Rdn. 105 m.w.N.); das Amt des Insolvenzverwalters ist daher als Unter-
fall der treuhänderischen Verwaltung gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 WPO zu wer-
ten. Die Berufssatzung für Wirtschaftsprüfer/vereidigte Buchprüfer (BS
WP/vBP) geht in § 31 Satz 2 mithin auch selbstverständlich und ausdrücklich
von einer Zulässigkeit der Verwendung der Kennzeichnung „Insolvenzverwal-
ter“ als weiterer Tätigkeitsbezeichnung aus. Insbesondere handelt es sich bei
dieser Tätigkeit – ungeachtet abweichender steuerrechtlicher Beurteilung
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(vgl. BFH NJW 2002, 990) – im berufsrechtlichen Sinne nicht um eine im
Sinne von § 43a Abs. 3 Nr. 1 WPO verbotene gewerbliche Tätigkeit (vgl. nur
Gehre aaO).
Die Tätigkeit eines Wirtschaftsprüfers als Insolvenzverwalter ist jedoch
vorliegend nicht als „echter“ Zweitberuf zu werten (vgl. Prütting, ZIP 2002,
1965, 1968). Ungeachtet dessen, daß es sich dabei nicht um eine Vorbe-
haltsaufgabe handelt, zu der allein der Wirtschaftsprüfer berufen wäre, prägt
die Insolvenzverwaltung das Berufsbild des Wirtschaftsprüfers doch im weite-
ren Sinne mit, was sich nicht zuletzt auch aus der Überschrift zu § 2 WPO
(„Inhalt der Tätigkeit“) ergibt. Insolvenzverwaltung ist mithin auch dem Beruf
des Wirtschaftsprüfers zuzuordnen und daher auch nach den für diesen Be-
ruf geltenden Vorschriften zu beurteilen, soweit die Insolvenzverwaltertätig-
keit von einem vereidigten Buchprüfer oder Wirtschaftsprüfer ausgeübt wird
(vgl. zu dem Fall, daß eine Tätigkeit eindeutig einem anderen Beruf zuzuord-
nen und daher ausschließlich nach den für den anderen Beruf geltenden Vor-
schriften zu beurteilen ist, BVerwGE 112, 1, 4). Der Wirtschaftsprüfer kann
sich nämlich nicht in Teilbereichen befugter oder auch bloß vereinbarer
Tätigkeit (vgl. § 43a Abs. 4 WPO) allen Berufsordnungen dadurch entziehen,
daß er Tätigkeiten entfaltet, die für sich betrachtet keiner Berufsordnung un-
terfallen (vgl. BVerwGE 112, 1, 5).
So wäre es aber, wenn der Berufsangehörige – wie vorliegend ge-
schehen – seine Insolvenzverwaltertätigkeiten in Templin und Chemnitz
durch eigenen Organisationsakt vollständig aus der Geltung der Wirtschafts-
prüferordnung herauslösen könnte, denn die Insolvenzordnung stellt keine
Berufsordnung in diesem Sinne dar.
Es kann in diesem Zusammenhang dahinstehen, ob die Insolvenzver-
waltertätigkeit sich überhaupt zu einem Berufsbild im herkömmlichen Sinne
verdichtet hat (wohl bejahend BVerfG, NJW 2004, 2725, 2727; verneinend
z.B. MünchKomm-Graeber InsO, § 56 Rdn. 39 ff. m.w.N.). Jedenfalls enthal-
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ten die Normen der Insolvenzordnung, welche die Aufsicht des Insolvenzge-
richts über die Tätigkeit des Insolvenzverwalters regeln, keine den berufs-
rechtlichen Organisationsstrukturen der Wirtschaftsprüferordnung vergleich-
baren Regelungen, die im Einzelfall geeignet wären, die berufsrechtlichen
Regelungen der Wirtschaftsprüferordnung zu verdrängen (vgl. zu einer ande-
ren Fallkonstellation und zum Verhältnis WPO/StBerG: BVerwGE 112, 1 ff.).
Der Insolvenzverwalter kann grundsätzlich aus jeder Berufsgruppe kommen
(MünchKomm-Graeber aaO Rdn. 38). Der Zugang zu dem Amt des Insol-
venzverwalters ist nicht von der erfolgreichen Ablegung einer Prüfung und
einer anschließenden allgemeinen Bestellung abhängig; vielmehr erfolgt die
Bestellung (§ 56 Abs. 1 InsO) und die jeweilige insolvenzgerichtliche Über-
wachung (§ 58 Abs. 1 InsO) ausschließlich bezogen auf den jeweiligen Ein-
zelfall (MünchKomm-Graeber aaO Rdn. 39).
Indessen sind gerade die rechtsberatenden, wirtschaftsrechtlich aus-
gerichteten Berufe besonders geeignet für die Bestellung als Insolvenzver-
walter, weil bei diesen Berufsgruppen – bei der hier gebotenen typisierenden
Betrachtungsweise – die erforderlichen Rechtskenntnisse und betriebswirt-
schaftlichen Erfahrungen ohne weitere Überprüfung vorausgesetzt werden
können. Folglich werden Angehörige dieser Berufsgruppen auch bevorzugt
bestellt (vgl. BVerfG, NJW 2004, 2725, 2727). Damit prägt diese Tätigkeit
auch das Berufsbild des Wirtschaftsprüfers mit.
2. Im Bereich der „Kerntätigkeit“ des Wirtschaftsprüfers (vgl. für Steu-
erberater: § 2 und § 3 StBerG; für Rechtsanwälte: § 1 und § 3 BRAO; für No-
tare: § 1 BNotO) gelten die Wirtschaftsprüferordnung und die Berufssatzung
uneingeschränkt. Grundsätzlich unterliegt der Wirtschaftsprüfer aber auch
dann den Regeln der Wirtschaftsprüferordnung und der BS WP/vBP, wenn er
als Insolvenzverwalter tätig wird.
Wie weit diese grundsätzliche Geltung der Berufspflichten über die
Kerntätigkeit hinaus reicht, ist bisher nicht abschließend höchstrichterlich ge-
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klärt. Für die vergleichbaren Vorschriften im Steuerberatungsgesetz wird ver-
treten, daß sich die Berufspflichten auf den gesamten Bereich der Berufstä-
tigkeit unter Einschluß auch der vereinbaren Tätigkeiten erstrecken (siehe
z.B. Gehre, Steuerberatungsgesetz 4. Aufl. § 57 Rdn. 6; Maxl in Kuhls/Meu-
rers/Maxl/Schäfer/Goez, Steuerberatungsgesetz § 57 Rdn. 13 ff. jeweils
m.w.N.; vgl. auch Späth in Mittelsteiner/Gilgan/Späth, Berufsordnung der
Steuerberater § 39 Rdn. 2). Begründet wird dies überwiegend damit, daß der
Auftraggeber nicht zwischen der Steuerberatung im engeren Sinne und sons-
tigen Tätigkeiten unterscheide (differenzierend Maxl aaO § 57 Rdn. 15 ff.).
Einer solch schematischen Übertragung der Berufspflichten nach der
Wirtschaftsprüferordnung auf die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers als Insol-
venzverwalter stünden indes die Grundsätze der Berufsausübungsfreiheit
(Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip entgegen
(vgl. jüngst z.B. BVerfG, NJW 2004, 2725, 2726 f.). Der Senat trägt mit die-
ser Beurteilung zum einen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts Rechnung, die von der Tendenz gekennzeichnet ist, das Recht der
freien Berufe im Bereich aufsichtsrechtlicher (und anderer, namentlich wer-
berechtlicher) Regelungen – unter maßgeblicher Betonung der Berufsaus-
übungsfreiheit und unter Relativierung der entgegenstehenden Interessen
der beteiligten Verkehrskreise – aufzulockern. Zum anderen ist bei der An-
wendung innerstaatlicher Regelungen im Recht der freien Berufe vor allem
auch auf die Gewährleistung der europäischen Wettbewerbsbestimmungen
Bedacht zu nehmen. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften
erkennt gerade in den branchenspezifischen Regeln über die Unterneh-
mensstruktur, namentlich auch soweit diese die Gründung von Niederlas-
sungen beeinträchtigen könnten, potentiell negative Auswirkungen auf die
wirtschaftliche Entwicklung und den freien Wettbewerb (vgl. Kommission der
Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission – Bericht der
Kommission über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen, KOM
(2004) 83 endg. Abs.-Nr. 59 ff.).
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Jedenfalls im Bereich der befugten und vereinbaren Tätigkeiten müs-
sen die Regelungen der Wirtschaftsprüferordnung daher – wie auch die Re-
gelungen anderer Berufsordnungen – unter Berücksichtigung ihres jeweiligen
Zwecks und mit Bedacht auf entgegenstehende Rechtspositionen und Ord-
nungsvorschriften bereichsspezifisch ausgelegt werden (a.A. für Steuerbera-
ter z.B. Maxl aaO Rdn. 17 m.w.N.). So wie sich das Berufsverbot (§ 116
WPO) nur auf die Kerntätigkeit des Wirtschaftsprüfers erstreckt und der mit
einem Berufsverbot belegte Wirtschaftsprüfer somit gleichwohl außerhalb
seiner Kerntätigkeit befugter und vereinbarer Tätigkeit nachgehen darf, so
gelten die Berufspflichten in ihrer Gesamtheit daher auch nur im Bereich der
Kerntätigkeit des Berufsangehörigen.
So bedarf es keiner näheren Erörterung, daß der Wirtschaftsprüfer et-
wa bei freier künstlerischer Tätigkeit (als vereinbarer Tätigkeit im Sinne des
§ 43a Abs. 4 Nr. 7 WPO) weder zur Verwendung der Berufsbezeichnung
„Wirtschaftsprüfer“ verpflichtet ist (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 1 WPO) noch inso-
weit etwa den Bestimmungen über Zweigniederlassungen (vgl. § 47 WPO)
unterliegen kann.
Gleichwohl unterliegt der Wirtschaftsprüfer auch bei befugter und ver-
einbarer Tätigkeit aber stets seinen allgemeinen Berufspflichten aus § 43
Abs. 2 Satz 1 und 2 WPO. Daneben hat er außerhalb seiner beruflichen Tä-
tigkeit im privaten Bereich noch der allgemeinen Wohlverhaltenspflicht aus
§ 43 Abs. 2 Satz 3 WPO zu genügen.
Die notwendig bereichsspezifische Auslegung der Berufspflichten er-
gibt für die vorliegend zu beurteilende Tätigkeit als Insolvenzverwalter fol-
gendes: Sinn und Zweck der Regelungen über die Verpflichtung zur Führung
der Berufsbezeichnung und der Bestimmungen über die Führung von Zweig-
niederlassungen sind der Schutz der Verkehrskreise, die Gewährleistung
einer funktionsfähigen Kammeraufsicht sowie die Sicherstellung der persön-
lichen Verantwortlichkeit des Berufsträgers. Die Vorschriften über die Nieder-
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lassung im Recht der freien Berufe fußten dabei ursprünglich auch auf dem
Gedanken, daß der Berufsangehörige für Mandanten und Behörden jederzeit
erreichbar zu sein habe. Jedenfalls der zuletzt genannte Gesichtspunkt dürf-
te indes angesichts der Entwicklung moderner Bürokommunikation und der
gestiegenen „Verkehrsfähigkeit“ freiberuflicher Dienstleistungen nunmehr
allenfalls von untergeordneter Bedeutung sein.
Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, daß der Berufsangehö-
rige mit seinen Büros in Templin und Chemnitz keine Zweigniederlassung im
Sinne von § 47 WPO unterhält. Nach den unangefochtenen Feststellungen
des Kammergerichts werden von dem Berufsangehörigen weder in Templin
noch in Chemnitz Kerntätigkeiten eines Wirtschaftsprüfers wahrgenommen
oder – in Ermangelung z. B. einer entsprechenden Bürobeschilderung oder
der Verwendung der Berufsbezeichnung – auch nur angeboten. Vielmehr
führt der Berufsangehörige in diesen Büros mit Hilfe der aus den insolventen
Unternehmen herangezogenen Mitarbeiter ausschließlich die ihm als Insol-
venzverwalter obliegenden Geschäfte. Trennt der Berufsangehörige aber
seine Tätigkeit als Insolvenzverwalter, welche am Ort seiner Hauptniederlas-
sung selbstverständlich im Rahmen seiner Wirtschaftsprüfertätigkeit durch-
geführt werden darf, durch geeignete Maßnahmen vollständig von seiner
Kerntätigkeit als Wirtschaftsprüfer dadurch ab, daß er die Insolvenzverwal-
tung bewußt räumlich und organisatorisch ausgliedert, dann kann der
Schutzzweck der hier in Rede stehenden Normen der Wirtschaftsprüferord-
nung nicht betroffen sein, weil der Berufsträger in der ausgegliederten Einheit
nicht zugleich Kernaufgaben des Wirtschaftsprüfers anbietet oder wahr-
nimmt. Vielmehr bleibt der Berufsangehörige durch die von ihm gewählte
Organisationsform Wirtschaftsprüfer am Sitz seiner Hauptniederlassung;
zugleich ist er anderenorts Insolvenzverwalter. Die uneingeschränkte An-
wendung der Verpflichtungen aus § 47 WPO und der korrespondierenden
Registerbestimmungen auf die Büros in Templin und Chemnitz verkämen bei
dieser Fallkonstellation aber zur bloßen, im Lichte der Grundrechtsgewähr-
leistungen des Berufsträgers nicht hinnehmbaren Formalie.
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Diese restriktive Auslegung des Begriffs „Zweigniederlassung“ steht
auch nicht im Widerspruch zu § 19 BS WP/vBP, nach dem „jede organisato-
risch selbständige Einheit ... eine Zweigniederlassung im Sinne der §§ 3, 47
WPO (begründet)“. Organisatorisch selbständig im Sinne dieser Vorschrift ist
eine Einheit nämlich nur dann, wenn dort Kerntätigkeiten der Wirtschaftsprü-
fung zusammengefaßt werden. Auch eine vergleichende Betrachtung zu den
für Steuerberater geregelten „auswärtigen Arbeitsräumen“, die nach § 49
Abs. 1 Satz 2 BOStB in einem – hier sicher nicht gegebenen – örtlichen und
funktionalen Zusammenhang mit der Beratungsstelle stehen müssen, läßt
Wertungswidersprüche nicht befürchten, da der Berufsangehörige vorliegend
in Templin und Chemnitz keine Hilfstätigkeiten seiner Kerntätigkeit als Wirt-
schaftsprüfer verrichten läßt.
3. Da der Berufsangehörige bei der hier gefundenen Auslegung auch
hinsichtlich seiner Insolvenzverwaltertätigkeit – anders als möglicherweise
bei der Qualifizierung als „echter“ Zweitberuf – uneingeschränkt der Aufsicht
der Wirtschaftsprüferkammer unterstellt bleibt, kann diese im Rahmen ihrer
Prüfungen überwachen, daß der Berufsangehörige in Templin und Chemnitz
– nach außen und innen konsequent vollzogen – keine Kerntätigkeiten vor-
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nimmt oder anbietet, die zu einer abweichenden rechtlichen Qualifizierung
dieser Büros führen würden.
Harms Häger Schaal
Helmert Hemmelrath