Urteil des BGH vom 13.01.2014
"Fond Memories" Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ZB 18/12
vom
13. Januar 2014
in der Rechtsbeschwerdesache
wegen Erteilung des Sortenschutzes für die Waldrebsorte "Fond Memories"
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
"Fond Memories"
SortG § 6 Abs. 1
§ 6 Abs. 1 SortG ist mangels einer einheitlichen Regelung über eine kür-
zere Frist innerhalb der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ei-
ne Sorte als neu gilt, wenn Pflanzen oder Pflanzenteile der Sorte mit Zu-
stimmung  des  Berechtigten  oder  seines  Rechtsvorgängers  vor  dem  An-
tragstag nicht oder nur innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr im In-
land oder von vier Jahren (bei Reben und Baumarten sechs Jahren) im
Ausland zu gewerblichen Zwecken an andere abgegeben worden sind.
BGH, Beschluss vom 13. Januar 2014 - X ZB 18/12 - Bundespatentgericht
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. Januar 2014 durch
den  Vorsitzenden  Richter  Prof.  Dr. Meier-Beck,  die  Richter  Dr. Bacher,  Hoff-
mann, Dr. Deichfuß und die Richterin Dr. Kober-Dehm
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin wird der  Beschluss
des  36.  Senats  (Beschwerdesenats  für  Sortenschutzsachen)  des
Bundespatentgerichts  vom  6.  September  2012  aufgehoben.  Die
Sache  wird  zu  neuer  Entscheidung  an  das  Bundespatentgericht
zurückverwiesen.
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Gründe:
A. Die Antragstellerin hat am 23. April 2008 Antrag auf Sortenschutz für
die  Waldrebsorte  Clematis  florida  mit  der  Bezeichnung  "Fond  Memories"  ge-
stellt. Hierbei hat sie angegeben, dass Vermehrungsmaterial oder Erntegut der
Sorte erstmals am 1. Juni 2004 in Großbritannien zu gewerblichen Zwecken an
andere abgegeben worden sei. Das Bundessortenamt hat den Sortenschutzan-
trag  unter  Hinweis  auf  §§ 1,  6  Abs. 1  Nr. 1  SortG  mit  der  Begründung  zurück-
gewiesen, die Sorte sei nicht neu, weil Pflanzen oder Pflanzenteile der Sorte mit
Zustimmung des Berechtigten früher als ein Jahr vor dem Antragstag innerhalb
der Europäischen Union zu gewerblichen Zwecken an andere abgegeben wor-
den  seien.  Den  Widerspruch  der  Antragstellerin  hat  der  Widerspruchsaus-
schuss  des  Bundessortenamts  zurückgewiesen.  Die  Beschwerde  der  Antrag-
stellerin zum Patentgericht ist erfolglos geblieben. Dagegen richtet sich die vom
Patentgericht  zugelassene  Rechtsbeschwerde  der  Antragstellerin,  mit  der  sie
Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache
an das Patentgericht erstrebt.
B. Die kraft Zulassung statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechts-
beschwerde ist begründet.
I.  Das  Patentgericht  hat  zur  Begründung  der  angefochtenen  Entschei-
dung  (BPatGE  53,  277  = GRUR  Int.  2013,  243)  im  Wesentlichen  ausgeführt:
Die  Zurückweisung  des  Sortenschutzantrags  entspreche  der  am  Anmeldetag
geltenden  Regelung  des  Sortenschutzgesetzes.  Nach  den  Angaben  der  An-
tragstellerin sei Pflanzenmaterial der angemeldeten Sorte weit vor der einjähri-
gen Neuheitsschonfrist nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SortG in Großbritannien verbreitet
worden.  Sie  gelte daher nicht mehr als neu. Die genannte gesetzliche Bestim-
mung sei rechtsgültig, obwohl sie gegen die völkerrechtliche Verpflichtung ver-
stoße, die Deutschland durch die Unterzeichnung und Ratifizierung des Interna-
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tionalen Übereinkommens zum Schutz von Pflanzenzüchtungen vom 2. Dezem-
ber  1961  (PflZÜ)  und  der  Revisionen  dieses  Übereinkommens  eingegangen
sei.
Nach Art. 6 der am 19. März 1991 revidierten Fassung des Internationa-
len  Übereinkommens  zum  Schutz  von  Pflanzenzüchtungen  (BlPMZ  1998,
232 ff.,  im  Folgenden:  Übereinkommen)  stehe  es  der  erforderlichen  Neuheit
einer  Sorte  entgegen,  wenn  sie  zum  Anmeldetag  bereits  mit  Zustimmung  des
Züchters  oder  seines Rechtsnachfolgers  seit  mehr  als  einem  Jahr  im  Hoheits-
gebiet des Anmeldestaates oder seit mehr als vier Jahren - für langsam wach-
sende  Pflanzen  seit  mehr  als  sechs  Jahren -  im  Hoheitsgebiet  eines  anderen
Staates  feilgehalten  oder  gewerbsmäßig  vertrieben  worden  sei.  Mit  der  Mög-
lichkeit, die Sorte vor der Anmeldung vier bzw. sechs Jahre im Ausland zu ver-
treiben, solle es dem Züchter ermöglicht werden, die Sorte zunächst im Ausland
zu erproben und erst später im Inland anzumelden. An diesem Regelungsgefü-
ge  habe  sich  durch  die  seit  dem  Übereinkommen  von  1991  bestehende  Mög-
lichkeit, dass eine zwischenstaatliche Organisation als Mitglied beitreten könne,
nichts geändert. Dies habe lediglich eine Anpassung der Begriffsbestimmungen
in  Art. 1  des  Übereinkommens  erfordert,  wonach  als  Hoheitsgebiet  in  einem
solchen  Fall  das  Gebiet  anzusehen  sei,  in  dem  der  diese  zwischenstaatliche
Organisation  gründende  Vertrag  Anwendung  finde.  Art. 6  Abs. 3  des  Überein-
kommens  sehe  die  Möglichkeit  einer  Gleichstellung  von  Handlungen  im  Ho-
heitsgebiet  eines  Mitgliedstaates  mit  Handlungen  im  Hoheitsgebiet  aller  Mit-
gliedstaaten  derselben  zwischenstaatlichen  Organisation  nur  für  den  Fall  vor,
dass alle Mitgliedstaaten dieser Organisation gemeinsam handelten.
Vor  diesem  Hintergrund  entspreche  § 6  Abs. 1  SortG  in  der  zum  Zeit-
punkt  der  Anmeldung  geltenden,  durch  das  Gesetz  zur  Änderung  des  Sorten-
schutzgesetzes  vom  17. Juli  1997  eingeführten  Fassung  nicht  den  vom  deut-
schen  Gesetzgeber  zu  beachtenden  Vorgaben  des  Übereinkommens.  Entge-
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gen Art. 6 Abs. 1 dieses Übereinkommens stelle § 6 Abs. 1 SortG für die natio-
nale  Anmeldung  bezüglich  des  Hoheitsgebiets  nicht  mehr  auf  Deutschland,
sondern  auf  das  Gebiet  der  Europäischen  Union  ab.  Die  Bestimmung  führe
damit zu einer Benachteiligung von Anmeldern, die - wie im vorliegenden Fall -
nationalen Schutz für eine Sorte in Deutschland begehrten und die Sorte inner-
halb  von vier (bzw.  sechs) Jahren im Gebiet der Europäischen Union abgege-
ben hätten. Sie könne weder auf Art. 6 des Übereinkommens gestützt noch mit
einem  Hinweis  auf  die  Regelungen  in  der  Verordnung  (EG)  Nr. 2100/94  des
Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz (GemSort-
VO,  ABl.  L 227  vom  1. September  1994)  begründet  werden.  Durch  die  darge-
stellte Fassung von § 6 Abs. 1 SortG verstoße Deutschland gegen seine völker-
rechtliche  Verpflichtung,  als  Mitgliedstaat  des  Internationalen  Verbandes  zum
Schutz  von  Pflanzenzüchtungen  einen  denselben  Kriterien  wie  in  den  übrigen
Vertragsstaaten unterliegenden Sortenschutz zur Verfügung zu stellen.
Dies  habe  allerdings  nicht  zur  Folge,  dass  Art. 6  Abs. 1  des  Überein-
kommens  unmittelbar  anzuwenden  sei  und  § 6  Abs. 1  SortG  verdränge.  Es
handele  sich  nicht  um  eine  allgemeine  Regel  des  Völkerrechts  im  Sinne  von
Art. 25 Abs. 2 GG. Der Norm komme auch kein Anwendungsvorrang zu, wie er
den  Vorschriften  der  Europäischen  Union  zuerkannt  werde.  Daran  habe  der
Beitritt  der  Europäischen  Union  zu  dem  Übereinkommen  nichts  geändert.  Aus
Art. 59 Abs. 2 GG ergebe sich  vielmehr, dass das Übereinkommen den Rege-
lungen des Sortenschutzgesetzes gleichrangig sei.
Der Widerspruch  zwischen  der  völkerrechtlichen  Verpflichtung  Deutsch-
lands  und § 6  Abs. 1 SortG  lasse  sich  auch  nicht  im Wege  einer völkerrechts-
freundlichen  Auslegung  oder  durch  Anwendung  der  allgemeinen  Kollisionsre-
geln  lösen.  Für  eine  korrigierende  Auslegung  sei  angesichts  des  klaren  Wort-
lauts  von  § 6  Abs. 1  SortG  und  des  erklärten  Willens  des  Gesetzgebers  kein
Raum. Aus den allgemeinen Kollisionsregeln ergebe sich nichts anderes. Es sei
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bereits zweifelhaft, ob ein echter Normenkonflikt zwischen § 6 SortG und Art. 6
des  Übereinkommens  vorliege,  weil  letzterer  keine  national  unmittelbar  an-
wendbare  Regelung  enthalte,  sondern  nur  den  Staat  als  Völkerrechtssubjekt
verpflichte.  Auch  wenn  das  Übereinkommen  durch  das  Zustimmungsgesetz
vom  25. März  1998  (BGBl. II  1998,  S. 258)  in  Kraft  getreten  und  damit  jünger
als § 6 SortG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sortenschutzge-
setzes vom 17. Juli 1997 sei, sei jedenfalls § 6 SortG als lex specialis und des-
halb als vorrangig anzusehen. Der Verstoß des deutschen Gesetzgebers gegen
seine  völkerrechtlichen  Verpflichtungen  aus  dem  Übereinkommen  begründe
lediglich einen Anspruch der übrigen Vertragsparteien auf Erfüllung der Umset-
zungspflicht, ermögliche dem nationalen Gericht jedoch keine Auslegung gegen
den klaren Wortlaut des Gesetzes. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsge-
richt  nach  Art. 100  Abs. 1  GG  scheide  aus,  da  ein  Verfassungsverstoß  weder
geltend gemacht noch ersichtlich sei.
II.  Diese Beurteilung hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde  in einem
entscheidenden Punkt nicht stand.
Das  Patentgericht  hat  zutreffend  zugrunde  gelegt,  dass  der  Antrag  auf
Erteilung von Sortenschutz nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung  kei-
nen Erfolg haben könnte. Die Erteilung von Sortenschutz setzt nach § 1 Abs. 1
SortG voraus, dass die Sorte neu ist. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SortG gilt eine Sor-
te nur dann als neu, wenn Pflanzen oder Pflanzenteile mit Zustimmung des Be-
rechtigten  oder  seines  Rechtsvorgängers  vor  dem  Antragstag  nicht  oder  nur
innerhalb  eines  Jahres  innerhalb  der  Europäischen  Union  zu  gewerblichen
Zwecken  an  andere  abgegeben  worden  sind.  Nachdem  Vermehrungsmaterial
oder Erntegut der Sorte bereits am 1. Juni 2004 in Großbritannien zu gewerbli-
chen Zwecken an andere abgegeben worden ist, war die Sorte am Antragstag
in diesem Sinne nicht neu. Aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt sich
jedoch  unter  Berücksichtigung  des  Gebots  der  völkerrechtskonformen  Ausle-
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gung, dass § 6 Abs. 1 Nr. 1 SortG enger zu verstehen ist, als dies der Wortlaut
vorzugeben scheint.
1. Die Neufassung von § 6 Abs. 1 SortG durch das Gesetz zur Änderung
des Sortenschutzgesetzes vom 17. Juli 1997 (BGBl. I 1997, S. 1854) sollte, wie
sich aus der Begründung des Gesetzesentwurfs ergibt, der Anpassung des Sor-
tenschutzgesetzes  an  die  neuen  Regelungen  des  im  Jahre  1991  revidierten
Übereinkommens dienen (BT-Drucks. 13/7038, S. 1, 10).
a) Nach  Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens wird eine Sorte als neu an-
gesehen, wenn am Tag der Einreichung des Antrags auf Erteilung  eines Züch-
terrechts  Vermehrungsmaterial  oder  Erntegut  der  Sorte  im  Hoheitsgebiet  der
Vertragspartei, in der der Antrag eingereicht worden ist, nicht früher als ein Jahr
und  im  Hoheitsgebiet  einer  anderen  Vertragspartei  nicht  früher  als  vier  Jahre
oder  im  Fall  von  Bäumen  und  Reben  nicht  früher  als  sechs  Jahre  durch  den
Züchter  oder  mit  seiner  Zustimmung  zum  Zwecke  der  Auswertung  der  Sorte
verkauft oder auf andere Weise an andere abgegeben wurde. Vertragspartei ist
nach Art. 1 vii des Übereinkommens ein Vertragsstaat oder eine zwischenstaat-
liche  Organisation,  die  eine  Vertragsorganisation  dieses  Übereinkommens  ist.
Unter dem Hoheitsgebiet ist nach Art. 1 viii des Übereinkommens das Hoheits-
gebiet  eines  Staates  zu  verstehen,  wenn  dieser  Vertragspartei  ist.  Handelt  es
sich  bei  der  Vertragspartei  um  eine  zwischenstaatliche  Organisation,  ist  damit
das  Hoheitsgebiet  gemeint,  in  dem  der  diese  zwischenstaatliche  Organisation
gründende Vertrag Anwendung findet. Danach ergibt sich, dass bei Einreichung
eines  Antrags  auf  Erteilung  nationalen  Sortenschutzes  als  neuheitsschädlich
nach Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens nur Handlungen in Betracht kommen,
die vor mehr als einem Jahr im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates stattge-
funden haben. Dem Übereinkommen lässt sich nicht entnehmen, dass das Ho-
heitsgebiet  eines  Mitgliedstaates  des  Übereinkommens,  der  zugleich  Mitglied
einer  zwischenstaatlichen  Organisation  ist,  die  dem  Übereinkommen  ebenfalls
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beigetreten ist, abweichend von Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 viii zu be-
stimmen ist.
b) Das revidierte Übereinkommen eröffnet in  Art. 6 Abs. 3 und in Art. 16
Abs. 3  die  Möglichkeit,  dass  Vertragsparteien,  die  Mitgliedstaaten  derselben
zwischenstaatlichen  Organisation  sind,  gemeinsam  vorgehen,  um  hinsichtlich
der  Regelungen  über  die  Neuheit  einer  Sorte  (Art. 6  Abs. 1)  oder  über  die  Er-
schöpfungswirkung  (Art. 16  Abs. 1)  Handlungen  in  Hoheitsgebieten  der  Mit-
gliedstaaten  dieser  zwischenstaatlichen  Organisation  mit  Handlungen  in  ihrem
jeweiligen  eigenen  Hoheitsgebiet  gleichzustellen,  sofern  dies  die  Vorschriften
dieser Organisation erfordern. Diese Regelung wurde vorsorglich für den Fall in
das  Übereinkommen  aufgenommen,  dass  eine  zwischenstaatliche  Organisati-
on,  etwa  die  Europäische  Union,  eine  entsprechende  Harmonisierung  be-
schließt.
Unter  Hinweis  auf  diese  Möglichkeit  hat  sich  der  Gesetzgeber  zu  einer
Änderung von § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SortG veranlasst gesehen. In der Begrün-
dung  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  zur  Änderung  des  Sortenschutzgesetzes
heißt es dazu (BT-Drucks. 13/7038, S. 12):
"Für  den  räumlichen  Bereich  des  neuheitsschädlichen  Abgebens
wird im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 3 des Übereinkommens und Ar-
tikel 10 Abs. 1 der EG-Verordnung künftig statt auf das Inland auf
das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft abgestellt."
c)  Die  hierfür  nach  dem  revidierten  Übereinkommen  erforderlichen  Vo-
raussetzungen  liegen  jedoch  derzeit  nicht  vor.  Die  unionsrechtlichen  Bestim-
mungen  enthalten  derzeit  keine  Bestimmung,  wonach  bei  der  nationalen  An-
meldung einer Sorte Handlungen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Uni-
on  in  Bezug  auf  die  Neuheit  Handlungen  im  Gebiet  der  Union  gleichzustellen
sind. Das Übereinkommen eröffnet zudem nicht die Möglichkeit, dass einzelne
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Mitgliedstaaten  einer  zwischenstaatlichen  Organisation  das  Gebiet,  das  für
neuheitsschädliche  Handlungen maßgeblich ist,  abweichend bestimmen.  Nach
den nationalen Sortenschutzgesetzen der anderen Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union stehen - soweit dem Senat bekannt - nur Handlungen im Hoheits-
gebiet des jeweiligen Staates, die vor mehr als einem Jahr erfolgten, der Neu-
heit der Sorte entgegen.
Nach den Vorgaben des Übereinkommens steht  daher bislang eine Ab-
gabe von Pflanzen oder Pflanzenteilen einer Sorte deren Neuheit nur dann ent-
gegen, wenn diese Handlungen innerhalb eines Jahres vor dem Antragstag im
Inland  stattgefunden  haben.  Würde  die  gesetzliche  Regelung  in  §  6  Abs.  1
SortG nach ihrem Wortlaut angewendet, hätte das eine Schlechterstellung des
Züchters  zur  Folge,  weil  er  in  der  Bundesrepublik  Deutschland,  anders  als  in
anderen  Staaten  der  Europäischen  Union,  keinen  nationalen  Sortenschutz  er-
langen könnte, wenn Vermehrungsmaterial oder Erntegut innerhalb eines Zeit-
raums von mehr als einem Jahr in einem anderen Staat der Europäischen Uni-
on  durch  ihn  oder  mit  seiner  Zustimmung  verkauft  oder  in  anderer  Weise  an
andere abgegeben worden wären.
2. Die in dieser Fassung von § 6 Abs. 1 SortG liegende Abweichung vom
Übereinkommen beruht ersichtlich auf einem Versehen des Gesetzgebers.
a)  Aus  den  Materialien  zum  Gesetz  zur  Änderung  des  Sortenschutzge-
setzes  ergibt  sich,  dass  der  Gesetzgeber  in  der  Absicht  handelte,  das  Sorten-
schutzgesetz  den  Regelungen  des  revidierten  Übereinkommens  anzupassen
(BT-Drucks.  13/7038,  S.  1,  10).  Es  sind  keinerlei  Anhaltspunkte  dafür  ersicht-
lich, dass der Gesetzgeber sich bewusst dafür entschieden haben könnte, von
den Regelungen des Übereinkommens abzuweichen.
b)  Gegen  eine  solche  Intention  spricht  insbesondere,  dass  in  einer  sol-
chen Regelung zugleich eine Verletzung der  von der Bundesrepublik Deutsch-
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land eingegangenen völkervertragsrechtlichen Pflicht zur Umsetzung des Über-
einkommens läge. Durch den Abschluss des Übereinkommens ist die Bundes-
republik  Deutschland die  Verpflichtung  eingegangen,  Züchterrechte  zu  erteilen
und  zu  schützen  und  dabei  die  Vorgaben  des  Übereinkommens  zu  beachten.
Der  Bundestag  hat  dem  revidierten  Übereinkommen  durch  Gesetz  vom
25. März  1998  zugestimmt  (BGBl. I  1998,  S. 232).  Dadurch  hat  das  Überein-
kommen  innerstaatlich  den  Rang  eines  einfachen  Bundesgesetzes  erhalten.
Das Übereinkommen räumt den Vertragsparteien zwar teilweise Spielräume bei
der Umsetzung ein, etwa in Art. 15 Abs. 2 hinsichtlich der Möglichkeit der Ver-
wendung  von  Erntegut  durch  Landwirte.  Überwiegend  enthält  es  jedoch  bin-
dende Vorgaben, die einen einheitlichen Standard hinsichtlich der Züchterrech-
te in den beteiligten Staaten gewährleisten sollen. Eine solche bindende Vorga-
be enthält auch Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens hinsichtlich der Anforderun-
gen  an  die  Neuheit  einer  Sorte.  Bei  der  Umsetzung  des  Übereinkommens  in
das nationale  Recht  dürfen die  Vertragsparteien weder geringere  noch höhere
Anforderungen an die Neuheit einer Sorte stellen. Die Voraussetzungen,  unter
denen  eine  abweichende  Bestimmung  des  Hoheitsgebiets  nach  Art. 6  Abs. 3
des Übereinkommens zulässig ist, liegen - wie ausgeführt - derzeit nicht vor.
3. Vor diesem Hintergrund kann dem Wortlaut von § 6 Abs. 1 SortG kei-
ne  ausschlaggebende  Bedeutung  beigemessen  werden,  vielmehr  ist  eine  völ-
kerrechtskonforme Auslegung der Norm geboten.
a)  Nach  der  Rechtsprechung  des  Bundesverfassungsgerichts  folgt  aus
der  Völkerrechtsfreundlichkeit  des  Grundgesetzes,  das  die  Betätigung  staatli-
cher  Souveränität  durch  Völkervertragsrecht  und  internationale  Zusammenar-
beit  fördert,  die  Verpflichtung  der  staatlichen  Organe,  das  nationale  Recht  so
anzuwenden,  dass  ein  Konflikt  mit  völkerrechtlichen  Verpflichtungen  der  Bun-
desrepublik  Deutschland  nicht  entsteht.  Nachdem  völkerrechtliche  Verträge,
denen der Gesetzgeber zugestimmt hat, im Range eines Bundesgesetzes ste-
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hen, haben die Gerichte das anwendbare Völkervertragsrecht wie anderes Ge-
setzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu be-
achten
und
anzuwenden
(BVerfG,
Beschluss
vom
26. März
1987
- 2 BvR 589/79  u.a.,  BVerfGE  74,  358,  379;  Beschluss  vom  14. Oktober  2004
- 2 BvR 1481/04,  BVerfGE  111,  307,  317 f.;  Beschluss  vom  19. September
2006 - 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501).
b) Die Möglichkeiten einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung enden al-
lerdings  dort,  wo  diese  nach  anerkannten  Methoden  der  Gesetzesauslegung
und  Verfassungsinterpretation  nicht  mehr  vertretbar  erscheint  (BVerfGE  111,
307,  329;  BVerfG,  Urteil  vom  4. Mai  2011  - 2 BvR 2333/08  u.a.,  BVerfGE  128,
326,  371).  Eine  völkerrechtskonforme  Auslegung  ist  insbesondere  dann  nicht
möglich, wenn ihr der Wortlaut und der klare Wille des Gesetzgebers entgegen-
stehen (Bernhardt in Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, S. 391, 392). Ei-
ne  solche  Konstellation  liegt  hier  jedoch  nicht  vor,  weil  der  Gesetzgeber,  wie
dargelegt,  die  Absicht  hatte,  das  Sortenschutzgesetz  an  die  Regelungen  des
revidierten Übereinkommens anzupassen.
4. § 6 Abs. 1 SortG ist mithin - solange die in Art. 6 Abs. 3 des Überein-
kommens  aufgestellten  Voraussetzungen  für  eine  abweichende  Bestimmung
des  Hoheitsgebiets  noch  nicht  vorliegen  -  dahin  auszulegen,  dass  eine  Sorte
als  neu  gilt,  wenn  Pflanzen  oder  Pflanzenteile  der  Sorte  mit  Zustimmung  des
Berechtigten oder seines Rechtsvorgängers vor dem Antragstag nicht oder nur
innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr im Inland oder von  vier Jahren (bei
Reben und Baumarten sechs Jahren) im Ausland zu gewerblichen Zwecken an
andere abgegeben worden sind.
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III. Der angefochtene Beschluss ist demnach aufzuheben und die Sache
zu neuer Entscheidung an das Patentgericht zurück zu verweisen.
Meier-Beck
Bacher
Hoffmann
Deichfuß
Kober-Dehm
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 06.09.2012 - 36 W(pat) 1/10 -
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