Urteil des BGH vom 30.06.2010

BGH (zpo, anfechtung, rücktritt, gebäude, nachlässigkeit, vgb, vvg, vertrag, begründung, prozess)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IV ZR 229/07
vom
30. Juni 2010
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Richter
Wendt, die Richterinnen Dr. Kessal-Wulf, Harsdorf-Gebhardt, die Richter
Felsch und Lehmann
am 30. Juni 2010
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision ge-
gen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Celle vom 2. August 2007 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO
aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfah-
rens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 625.000 €
Gründe:
I. Die Parteien streiten um das Bestehen eines Wohngebäudever-
sicherungsvertrages. Am 16. Januar 2006 beantragte der Kläger über ein
Vermittlungsbüro bei der Beklagten unter anderem eine verbundene
Wohngebäudeversicherung für ein von ihm in H. erworbenes Ge-
bäude, in dem sich außer vier Wohneinheiten eine größere Geschäftsflä-
che befindet.
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Nach Erhalt des Versicherungsscheins widersprach der Kläger
diesem mit Schreiben vom 1. Februar 2006, weil er von dem mit dem
Versicherungsvermittler geführten Gespräch abweiche. Entgegen dem
aufgenommenen Antrag habe er klar zum Ausdruck gebracht, dass es
sich um ein überwiegend leer stehendes Gebäude handele. Der Zugang
dieses Schreibens ist streitig.
Jedenfalls suchte der Kläger in dieser Angelegenheit zunächst den
Vermittler und danach eine Mitarbeiterin in der Verwaltungsdirektion der
Beklagten auf. Dies führte dazu, dass die Beklagte einen "Nachtrag Nr. 1
zum Versicherungsschein" erstellte. Danach ist das versicherte Objekt
als "Wohn-/Geschäftsgebäude" bezeichnet, versichert ist unter anderem
die Haftpflicht des Versicherungsnehmers "als Vermieter oder Besitzer
eines Gebäudes mit fünf privat genutzten Wohneinheiten", und unter
"Besondere Vereinbarungen/Hinweise" heißt es unter anderem:
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"Es handelt sich um ein Wohn- und Geschäftsgebäude mit
vier Wohneinheiten und circa 400 qm Bürofläche. Es ist
zurzeit nur eine Wohneinheit bewohnt. In den anderen
Wohneinheiten werden gerade Renovierungsarbeiten
durchgeführt. …"
Dem Vertrag liegen die VGB 2002 zugrunde.
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Mit Schreiben vom 10. März 2006 erklärte die Beklagte den Rück-
tritt vom Vertrag wegen Anzeigepflichtverletzung, weil ihr Schadensregu-
lierer bei einer Ortsbesichtigung am 16. Februar 2006 anlässlich eines
gemeldeten Leitungswasserschadens festgestellt habe, dass das Ge-
bäude unbewohnt sei. Außerdem erklärte sie mit Schreiben vom 26. Juli
2006 die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, weil der Kläger das
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vollständige Leerstehen des Objekts ebenso verschwiegen habe wie
Vorschäden beim Vorversicherer. Im Laufe des Rechtsstreits hat die Be-
klagte in zweiter Instanz erneut den Rücktritt und die Anfechtung erklärt
mit der neuen Begründung, dass der Kläger falsche Angaben zur Nutz-
fläche gemacht habe und dass bei zutreffender Angabe das Gebäude
nicht mehr als Wohngebäude zu versichern gewesen wäre.
Mit der Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass der Versi-
cherungsvertrag in Form des Nachtrags Nr. 1 vom 2. Februar bis
26. Februar 2006 bestanden habe und weder durch den Rücktritt noch
die Anfechtung aufgehoben sei. Die Vorinstanzen haben dem Klagebe-
gehren entsprochen.
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Zur Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass ein
Rücktrittsgrund gemäß §§ 23 VGB 2002, 16 VVG oder ein Anfechtungs-
grund gemäß § 22 VVG im Hinblick auf Angaben des Klägers zum Leer-
stand des Gebäudes, zur Art der Nutzung des Gebäudes und zu Vor-
schäden nicht vorliege.
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Den Vortrag der Beklagten zu Falschangaben des Klägers bezüg-
lich der Größe der Geschäftsfläche hat das Berufungsgericht nach § 531
Abs. 2 ZPO unberücksichtigt gelassen, weshalb auch Rücktritt und An-
fechtung, soweit hierauf gestützt, erfolglos blieben.
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II. 1. Die Nichtberücksichtigung des Vorbringens der Beklagten zur
behaupteten arglistigen Täuschung durch Falschangaben des Klägers
zur Größe der Geschäftsfläche verletzt ihren Anspruch auf Gewährung
rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher
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Weise. Die Zurückweisung dieses Vorbringens ist nicht durch § 531
Abs. 2 ZPO gerechtfertigt.
Es kann dahinstehen, ob die prozessrechtlichen Beschleunigungs-
und Präklusionsvorschriften der ZPO (§§ 282, 296, 531 ZPO) der Partei
gegebenenfalls auch abverlangen, ein bestehendes Anfechtungsrecht
auszuüben, bevor die entsprechende materiell-rechtliche Frist - hier
§ 124 BGB - abgelaufen ist, wenn sie nicht Gefahr laufen will, mit dem
der Anfechtung zugrunde liegenden Tatsachenvorbringen ausgeschlos-
sen zu werden (BAGE 44, 242, 243 f.; ebenso im Ergebnis Schenkel,
MDR 2004, 790; vgl. ferner zur Vollstreckungsgegenklage BGHZ 42, 37,
39 ff.) oder ob bei Gestaltungsrechten generell zwischen der Ausübung
und ihrer Geltendmachung im Prozess zu unterscheiden und nur die Tat-
sachenbehauptung, dass das Recht ausgeübt worden ist, als Verteidi-
gungsmittel im Sinne der prozessualen Verspätungsvorschriften anzuse-
hen ist (so ausdrücklich MünchKomm-ZPO/Prütting, 3.
Aufl. §
296
Rdn. 53; vgl. zur Zulassung eines in zweiter Instanz erklärten Rücktritts
auch OLGR Celle 2004, 498, 499 f. sowie zur Zulässigkeit der Berufung
auf erst in zweiter Instanz herbeigeführte Anspruchsvoraussetzungen
durch Erstellung einer fälligkeitsbegründenden Schlussrechnung BGH,
Urteile vom 6. Oktober 2005 - VII ZR 229/03 - NJW-RR 2005, 1687 unter
2 b und vom 9. Oktober 2003 - VII ZR 335/02 - NJW-RR 2004, 167 unter
II 2 b; zustimmend Zöller/Heßler, ZPO 28. Aufl. § 531 Rdn. 30; Musie-
lak/Huber, ZPO 7. Aufl. § 296 Rdn. 6; Musielak/Ball aaO § 531 Rdn. 19;
Thomas/Putzo, ZPO 30. Aufl. § 296 Rdn. 1; MünchKomm-ZPO/Rimmels-
pacher aaO § 531 Rdn. 24).
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Der Beklagten ist unabhängig hiervon jedenfalls keine Nachlässig-
keit i.S. des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO zur Last zu legen. Denn sie
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hat unbestritten erst durch das Gutachten vom 26. Januar 2007 und da-
mit nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils Kenntnis davon erlangt,
dass der Kläger die Flächengröße falsch angegeben hatte. Entgegen der
Auffassung des Berufungsgerichts lässt sich der Vorwurf prozessualer
Nachlässigkeit nicht damit begründen, dass sie die Falschangabe des
Klägers bereits in erster Instanz hätte erkennen können, weil sie schon
nach Erhalt der Bauzeichnungen vom Kläger die Möglichkeit gehabt hät-
te, seine Angaben zur Größe der Geschäftsfläche überprüfen zu lassen.
Dabei verkennt das Berufungsgericht, dass ein konkreter Anlass für die
Beklagte, den Größenangaben des Klägers zu misstrauen und deshalb
insoweit eine Überprüfung, die immerhin eine Flächenermittlung durch
einen Sachverständigen erforderte, vorzunehmen, weder festgestellt
noch ersichtlich ist. Dann liegt aber keine Nachlässigkeit vor, da die Par-
teien aufgrund der Prozessförderungspflicht allenfalls bei Vorliegen be-
sonderer Umstände gehalten sein können, tatsächliche Umstände, die
ihnen nicht bekannt sind, erst noch zu ermitteln; generell trifft sie eine
solche Pflicht nicht (BGH, Urteile vom 6. November 2008 - III ZR
231/07 - NJW-RR 2009, 329 Tz. 15 f. und vom 15. Oktober 2002 - X ZR
69/01 - NJW 2003, 200 unter II 6 b; Zöller/Heßler aaO).
Auf etwaige Schlüssigkeits- und Substantiierungsbedenken beim
Arglistvorwurf bezüglich der Geschäftsflächenangabe hätte das Beru-
fungsgericht gemäß § 139 ZPO hinweisen müssen. Deshalb kann nicht
ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung auf dem Gehörsverstoß
beruht.
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2. Im Übrigen ist ein Zulassungsgrund nicht dargelegt. Das Beru-
fungsgericht hat die Voraussetzungen für einen Rücktritt und eine Arg-
listanfechtung aufgrund der bereits in erster Instanz vorgetragenen Um-
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stände in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint. In-
soweit hat der Senat auch die gerügte Grundrechtsverletzung (Art. 103
Abs. 1 GG) geprüft und für unbegründet erachtet.
Wendt Dr. Kessal-Wulf Felsch
Harsdorf-Gebhardt Lehmann
Vorinstanzen:
LG Hannover, Entscheidung vom 27.10.2006 - 13 O 150/06 -
OLG Celle, Entscheidung vom 02.08.2007 - 8 U 268/06 -