Urteil des BGH vom 25.01.2008

BGH (kind, tod, zeitpunkt, versorgung, zustand, tochter, stgb, ärztliche behandlung, annahme, weiterer schaden)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 305/08
vom
3. September 2008
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Totschlags u.a.
- 2 -
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. September
2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan,
die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Prof. Dr. Fischer,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
der Richter am Bundesgerichtshof
Cierniak,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger der Angeklagten J. H. ,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Marburg vom 25. Januar 2008 mit den Feststel-
lungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsmittel, an eine Schwurgerichtskam-
mer des Landgerichts Gießen zurückverwiesen.
2. Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorgenannte Urteil
werden als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu
tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte J. H. wegen Totschlags in
Tateinheit mit Misshandlung Schutzbefohlener zu einer Freiheitsstrafe von acht
Jahren, den Angeklagten G. H. wegen vorsätzlicher Körperverletzung in
Tateinheit mit fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und
drei Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsan-
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waltschaft führt zur Aufhebung des Urteils; die Revisionen der Angeklagten sind
unbegründet.
I. Sachverhalt.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts unterließ es die Angeklagte
J. H. ab November/Dezember 2006, ihre am 14. Januar 2006 gebore-
ne Tochter Ja. ausreichend zu versorgen. Ab Ende Januar 2007 ver-
nachlässigte sie die Versorgung grob, fütterte das Kind nicht mehr ausreichend
und säuberte und pflegte es immer weniger. Die Angeklagte erkannte den zu-
nehmend schlechten Zustand des Kleinkinds und nahm die ihr bewusste Mög-
lichkeit eines Todeseintritts billigend in Kauf. Das Kind verstarb am 24. März
2007 durch Verhungern und Verdursten.
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Der Angeklagte G. H. kümmerte sich, obwohl ihm der schlechte
Gesundheitszustand des Kindes und dessen mangelnde Versorgung durch sei-
ne Ehefrau bekannt waren, nicht um eine Verbesserung der Versorgung. Dabei
nahm er eine Verschlechterung des körperlichen Zustands seiner Tochter billi-
gend in Kauf. Mit der Möglichkeit ihres Todes rechnete er nicht; dieser Ausgang
wäre für ihn jedoch vorhersehbar und vermeidbar gewesen.
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Im Einzelnen hat das Landgericht unter anderem Folgendes festgestellt:
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Die Angeklagten bewohnten seit Beginn ihrer Beziehung im Jahr 2004
ein sanierungsbedürftiges ländliches Anwesen, das der Angeklagte im Jahr
2000 gekauft hatte. Es war teilweise saniert; in der Folgezeit beschäftigte sich
der Angeklagte mehrere Jahre lang mit Sanierungsmaßnahmen namentlich im
Erdgeschoss des Hauses, ohne dass wesentliche Fortschritte erzielt wurden
und ein Ende der Arbeiten absehbar war. Auch in den von den Angeklagten
bewohnten Räumen wurden daher jahrelang Baumaterialien und Maschinen
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gelagert. Außerdem brachte der Angeklagte etwa 30 Aquarien mit Fischen in
das Haus und hielt mehrere Hunde. Seine gesamte Freizeit verwendete er für
die Pflege der Tiere und für die von ihm betriebenen Baumaßnahmen.
Die Angeklagte J. H. , die eine von Passivität, geringer Lebens-
tüchtigkeit, Abhängigkeit und pessimistischer Grundhaltung geprägte Persön-
lichkeit aufweist, verbrachte vor der Geburt der gemeinsamen Tochter Ja.
ihre Zeit meist passiv mit Schlafen, Fernsehen und geringfügigen Hausarbei-
ten. Erwerbstätig war sie nicht; die Haushaltsführung überforderte sie. Die
Schwangerschaft mit ihrer Tochter Ja. realisierte die Angeklagte erst im
vierten Schwangerschaftsmonat; sie verheimlichte sie jedoch bis zur Geburt am
14. Januar 2006 vor dem Angeklagten und ihrer Familie. Zu dem Kind hatte sie
eine distanzierte, wenig gefühlsmäßige Beziehung; der Angeklagte G. H.
, der von der Geburt überrascht wurde, freute sich dagegen und bemühte
sich in den ersten Lebenswochen des Kindes auch um eine Beteiligung an des-
sen Versorgung. Er renovierte das Obergeschoss des Hauses, in dem sich das
gemeinsame Schlafzimmer der Angeklagten sowie das Kinderzimmer befan-
den; dort waren auch mehrere Aquarien mit Fischen aufgestellt. Nach kurzer
Zeit überließ der Angeklagte aber die Versorgung des Kindes ebenso wie die
Haushaltsführung wieder vollständig der Angeklagten. Er kümmerte sich nicht
darum und kontrollierte die Angeklagte auch nicht, machte ihr aber laufend Vor-
haltungen wegen ihrer Lethargie und mangelhaften Haushaltsführung.
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Die Angeklagte war mit der Haushaltsführung und der Versorgung des
Kindes überfordert. Trotz durchschnittlicher Intelligenz und psychischer Ge-
sundheit und ständiger Vorhaltungen des Angeklagten gelang es ihr nicht, eine
zunehmende Verwahrlosung des Haushalts zu vermeiden; insbesondere sam-
melte sich in den Räumen des Erdgeschosses eine große Menge Müll an. In
den teilweise noch unverputzten Räumen waren überdies Baumaterialien gela-
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gert; dort hielten sich auch die Hunde der Angeklagten auf; der Angeklagte
stellte immer noch weitere Aquarien auf. Die Tiere wurden von beiden Ange-
klagten durchweg gut versorgt.
In den ersten Lebensmonaten des Kindes kümmerte sich die Angeklagte
um ihre Tochter. Ab November/Dezember 2006 versorgte sie das Kind nicht
mehr ausreichend. Im Dezember 2006 heirateten die Angeklagten. Ab Anfang
Februar vernachlässigte die Angeklagte die Versorgung des Kindes gravierend,
fütterte es nicht mehr ausreichend und säuberte und pflegte es nicht angemes-
sen. Wenn das Kind im Obergeschoss schrie, schaltete sie das Babyphon ab;
überwiegend saß sie im Erdgeschoss vor dem Fernseher oder schlief. In der
Beziehung zwischen den Angeklagten traten Probleme auf; der Haushalt ver-
wahrloste zusehends. Am 22. Februar 2007 wurde eine erneute - ungewollte -
Schwangerschaft festgestellt.
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Das Kind wurde in den letzten sechs Wochen vor seinem Tod nicht mehr
gebadet; die Windeln wurden kaum noch gewechselt, so dass sich eine groß-
flächige ausgeprägte Windel-Dermatitis entwickelte.
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Bis zum 4. März 2007 sahen Familienangehörige oder Freunde der An-
geklagten das Kind noch gelegentlich. Am 4. März 2007 hatte es offenkundig
Gewicht verloren, war krank und schwach, konnte aber noch herumkrabbeln
und brabbeln. Die Angeklagte behauptete auf Nachfrage wahrheitswidrig, sie
habe eine ärztliche Behandlung des Kindes veranlasst; Hilfsangebote von Ver-
wandten lehnte sie ab.
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In der Folgezeit verhinderte die Angeklagte, dass Dritte das Kind sahen
oder das Obergeschoss des Hauses aufsuchten. Sie tat dies, weil sie den ihr
bekannten Zustand des Kindes verbergen wollte und das Eingreifen des Ju-
gendamts befürchtete. Sie erkannte, dass die Mangelversorgung des Kindes zu
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dessen Tod führen konnte, nahm dies aber billigend in Kauf, um den Anforde-
rungen der Versorgung nicht mehr nachkommen zu müssen. Ihrem Ehemann
erklärte sie wahrheitswidrig, mit dem Kind sei alles in Ordnung; hiermit gab er
sich zufrieden. Den genauen Zeitpunkt, ab welchem die Angeklagte den als
möglich erkannten Tod ihrer Tochter billigte, vermochte das Landgericht nicht
festzustellen.
Der Angeklagte G. H. sah das Kind nach den Feststellungen zu-
letzt am 11. März 2007. Zu diesem Zeitpunkt zeigte es ausgeprägte äußere
Merkmale der Unterernährung und Mangelversorgung, die der Angeklagte auch
bemerkte. Obwohl er wusste, dass seine Ehefrau sich nicht ausreichend um
das Kind kümmerte, unternahm er weiterhin nichts. Er wusste, dass allein sein
Eingreifen dem Kind hätte helfen können; auf einen glücklichen Ausgang und
eine Gesundung des Kindes ohne seine Hilfe hoffte er nicht. Das Obergeschoss
des Hauses suchte er nicht mehr auf; er hielt sich ausschließlich noch im Erd-
geschoss auf, wo er - trotz zunehmender Vermüllung und Verwahrlosung - auch
schlief. Den Tod des Kindes hielt er nach den Feststellungen des Landgerichts
weder für möglich noch billigte er ihn.
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Das Kind verstarb am 24. März 2007 in Folge Verhungerns und Verdurs-
tens. Es war zu diesem Zeitpunkt extrem abgemagert, zeigte ein "Greisenge-
sicht" und bestand nur noch aus Haut und Knochen. Die Angeklagte presste am
Todestag zweimal Babynahrung in den Magen des Kindes, das zu diesem Zeit-
punkt bereits komatös war und keine Nahrung mehr aufnehmen und verdauen
konnte. Schließlich brachte sie das Kind gemeinsam mit einem Freund zu einer
Ärztin, die den Tod feststellte. Der Angeklagte wurde vom Tod seines Kindes
später informiert. Über den Tod zeigte er sich überrascht; fragte aber zu keinem
Zeitpunkt nach der Todesursache.
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Das Landgericht vermochte nicht genau festzustellen, von welchem Zeit-
punkt an das verhungernde und verdurstende Kind keine Schmerzen mehr ver-
spürte. Nach den Feststellungen trat ein Zustand einer nicht mehr umkehrbaren
Schädigung, von welchem an der Tod nicht mehr hätte abgewendet werden
können, möglicherweise bereits am 10. März 2007 ein, bevor der Angeklagte
G. H. das Kind am 11. März 2007 zum letzten Mal sah. Bei sofortiger
Hilfe und intensivmedizinischer Versorgung hätte das Leben aber jedenfalls um
Tage oder Wochen verlängert werden können.
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II. Revision der Staatsanwaltschaft.
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Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom
Generalbundesanwalt vertreten wird, ist in vollem Umfang begründet.
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1. Die Beweiswürdigung, aufgrund derer das Landgericht die Verwirkli-
chung eines Mordmerkmals gemäß § 211 Abs. 2 StGB durch die Angeklagte
J. H. verneint hat, hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Wie die Revision
zutreffend rügt, sind die Schlussfolgerungen des Tatrichters teilweise mit den
tatsächlichen Feststellungen nicht, jedenfalls nicht ohne nähere Begründung
vereinbar; teilweise weisen schon die Feststellungen Lücken auf, die auszufül-
len hier geboten gewesen wäre.
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a) Das Mordmerkmal der Grausamkeit hat das Landgericht unter aus-
drücklicher Bezugnahme auf das Urteil des 5. Strafsenats vom 13. März 2007
- 5 StR 320/06 (NStZ 2007, 402) in objektiver Hinsicht mit der Begründung ver-
neint, es könne nicht festgestellt werden, dass das Tatopfer die von dem Tatbe-
stand vorausgesetzten besonderen Schmerzen und Qualen während eines vom
Tötungsvorsatz umfassten Handelns - hier: Unterlassens - der Angeklagten er-
litten hat. Weder sei feststellbar, wann die durch die Mangelversorgung verur-
sachten starken Schmerzen des Kindes aufgetreten seien, noch sei der Zeit-
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punkt festzustellen, von dem an die Angeklagte den Tod des Kindes billigte (UA
S. 68). In subjektiver Hinsicht habe es der Angeklagten an einer gefühllosen
und mitleidslosen Gesinnung gefehlt. Sie habe dem Kind nämlich "durchaus
mütterliche Gefühle entgegengebracht"; dass sie sich sporadisch um das Kind
kümmerte und ihm etwas zu essen gab, zeige, dass die Angeklagte dem Kind
"helfen, nicht aber seine Qualen verlängern wollte" (UA S. 68). Diese Würdi-
gung ist schon mit der Feststellung kaum vereinbar, dass die Angeklagte mit -
bedingtem - Tötungsvorsatz handelte (UA S. 65). Es ist in den Urteilsgründen
nicht nachvollziehbar dargelegt, welchem Ziel nach Auffassung des Landge-
richts das angebliche Bemühen der Angeklagten dienen sollte, dem augen-
scheinlich verhungernden und verdurstenden Kind zu "helfen", wenn sie
zugleich den Tod des Opfers billigend in Kauf nahm. Auch die Erwägung, die
Angeklagte habe gegenüber dem Tatopfer mütterliche Gefühle gehabt, findet in
den Feststellungen jedenfalls für den Zeitraum ab Februar 2007 keine ausrei-
chende Grundlage. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, das gravie-
rende Leiden und die als "grausam" zu kennzeichnenden Schmerzen, die das
Kind jedenfalls über einen längeren Zeitraum erlitten haben muss, könnten der
Angeklagten entgangen sein. Dies würde gleichermaßen gelten, wenn die An-
geklagte zu diesem Zeitpunkt (noch) keinen Tötungsvorsatz gehabt hätte. Denn
auch eine Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener zum Nachteil
des eigenen Kindes in Kenntnis des Umstands, dass dieses dadurch extreme
Schmerzen erleidet, zeigt weder „mütterliche Gefühle“ noch ein Bemühen, dem
Tatopfer zu „helfen“. Daran ändert sich entgegen der Ansicht des Landgerichts
nicht schon dadurch etwas, dass die Angeklagte das Kind noch sporadisch füt-
terte und ihm gelegentlich einmal die Füße eincremte.
Durchgreifenden Bedenken begegnet auch die Würdigung des Landge-
richts, es lasse sich ein Zeitraum, in welchem das Tatopfer (bereits oder noch)
besonders quälende Schmerzen erlitten habe und der zugleich vom Tötungs-
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vorsatz der Angeklagten umfasst sei, nicht feststellen. Diese Ansicht schöpft,
wie auch der Generalbundesanwalt zutreffend hervorgehoben hat, die Feststel-
lungen zu den konkreten Tatumständen nicht aus, sondern weicht zu früh in die
Annahme der Nicht-Feststellbarkeit aus. Der Tatrichter hat sich insoweit ersicht-
lich an der Entscheidung BGH NStZ 2007, 402 ("Fall Dennis") orientiert, hierbei
aber übersehen, dass beide Sachverhalte insoweit nicht ohne Weiteres gleich-
zusetzen sind. In jenem Fall zog sich die gravierende Mangelernährung des
durch Unterlassen getöteten Kindes über mehrere Jahre, in der lebensbedrohli-
chen Phase noch über mehrere Monate hin. Die Tathandlung der Angeklagten
bestand nicht in der Verweigerung von Nahrung, sondern im Unterlassen der
Hilfeleistung für das bereits sechs Jahre alte Kind. Ein Flüssigkeitsmangel war
in jenem Fall nicht festgestellt worden (vgl. BGH NStZ 2007, 402 Rdn. 14 f.); ein
Tod durch Verdursten lag daher nicht vor. Unter diesen Umständen konnte
nicht festgestellt werden, dass das bereits über Monate ausgezehrte und völlig
entkräftete Tatopfer zu einem Zeitpunkt, in welchem Tötungsvorsatz vorlag,
noch unter Hungergefühlen litt (ebd. Rdn. 15).
Dies ist mit dem hier vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Eine
gravierende Mangelversorgung von Ja. ist jedenfalls nicht für einen Zeit-
raum vor Mitte Januar 2007 festgestellt (vgl. UA S. 30 f.). Eine Verschlechte-
rung des Zustands war für Dritte erstmals am 28. Februar 2007 erkennbar; am
4. März 2007 war das Kind dann abgemagert, krank und matt (UA S. 31). Frü-
hestens ab 10. März 2007 wäre das Kind möglicherweise nicht mehr zu retten
gewesen (UA S. 23).
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Hieraus ergibt sich, dass die gravierende, letztlich zum Tod des Opfers
am 24. März 2007 führende Mangelversorgung sich nur über einen Zeitraum
von wenigen Wochen erstreckte (vgl. UA S. 43 f.). Noch am 4. März 2007 war
das Kind nach den Feststellungen zwar "schmaler geworden" und erkennbar
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krank, aber keinesfalls apathisch. Es war "quengelig, lachte auch, trank prob-
lemlos Saft aus einer Flasche und krabbelte umher" (UA S. 32). Der Zustand
völliger Entkräftung und Apathie, in dem das Kind die starken Schmerzen und
Qualen des Verhungerns und Verdurstens letztlich nicht mehr empfand, trat
somit nicht im Ergebnis eines langdauernden Prozesses der Mangelversor-
gung, sondern innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums ein (UA S. 42). Wäh-
rend dieser Zeit wurden die Windeln des Kindes kaum noch gewechselt, die
schwere und sehr schmerzhafte Windel-Dermatitis nicht behandelt. Die Ange-
klagte gab ihrem Kind immer weniger Nahrung und Flüssigkeit und stellte
schließlich fest, "dass die Kleine aufgrund der Entkräftung nicht mehr trinken
konnte" (UA S. 65). Sie badete das Kind nicht mehr, weil es so abgemagert war
(UA S. 66). Zugleich stellte sie das sog. Babyphon ab, um das "Gebrüll" des
Kindes nicht hören zu müssen, und "ließ niemanden mehr zu dem inzwischen
todkranken Mädchen" (UA S. 66). Im Hinblick auf diese Feststellungen ist die
Würdigung des Tatrichters, es lasse sich nicht feststellen, ab welchem Zeit-
punkt die Angeklagte Tötungsvorsatz gehabt und ob zu diesem Zeitpunkt das
Kind noch gelitten habe und dies von der Angeklagten auch wahrgenommen
worden sei, nicht hinreichend begründet. Dies lag hier vielmehr nach den Um-
ständen so nahe, dass es für die gegenteilige Annahme des Landgerichts gra-
vierender tatsächlicher Anhaltspunkte bedurft hätte. Solche sind nach den bis-
herigen Feststellungen nicht ersichtlich.
b) Auch das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht ist vom Landgericht
mit nicht rechtsfehlerfreien Erwägungen verneint worden; auch insoweit begeg-
net die Beweiswürdigung durchgreifenden Bedenken. Das Landgericht führt als
gegen eine Verdeckungsabsicht der Angeklagten sprechende Umstände an,
dass sie "den Tod des Kindes offenbarte", indem sie es zu der Ärztin brachte,
und dass sie zuvor nichts Wesentliches am Leichnam oder im Haushalt verän-
derte (UA S. 68 f.). Diese Würdigung wird den festgestellten konkreten Um-
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ständen einschließlich der Persönlichkeitsstruktur der Angeklagten nicht ge-
recht. So bleibt offen, welche andere Möglichkeit außer der Offenbarung des
Kindstods die Angeklagte konkret gehabt hätte. Unklar ist auch, welche Verän-
derungen am Leichnam oder im Haushalt hätten vorgenommen werden kön-
nen, die angesichts des offenkundigen Zustands der Leiche eine gegen den
Vorsatz sprechende Indizwirkung zugunsten der Angeklagten hätten haben sol-
len.
Überdies lässt die Würdigung erhebliche Umstände, die für eine Verde-
ckungsabsicht sprachen, außer Betracht; die erforderliche sorgfältige Gesamt-
würdigung fehlt. So hat das Landgericht ausdrücklich festgestellt, "weil die An-
geklagte merkte, wie lebensbedrohlich sich der Zustand des Kindes verschlech-
terte", und weil sie die Einschaltung des Jugendamts fürchtete, habe sie nie-
manden mehr zu dem Kind gelassen (UA S. 66). Sie gab auf Nachfragen wahr-
heitswidrig an, das Kind sei in ärztlicher Behandlung, um entsprechende Bemü-
hungen und ein Eingreifen Dritter zu verhindern. Sie behauptete, das Kind habe
eine schwere Durchfallerkrankung; unmittelbar vor seinem Tod presste sie eine
größere Menge Flüssigkeit in den Magen des sterbenden Kindes. All dies konn-
te ersichtlich für eine Absicht der Angeklagten sprechen, die vorangehende
Misshandlung Schutzbefohlener durch den Tod des Opfers zu verdecken; es
hätte daher genauer erörtert werden müssen. Dass die Angeklagte nach den
Feststellungen auch aus anderen Motiven gehandelt hat, würde der Annahme
von Verdeckungsabsicht nicht von vornherein entgegenstehen; erforderlich ge-
wesen wäre eine nähere Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen
des bedingten Tötungsvorsatzes (vgl. dazu Fischer StGB 55. Aufl. § 211 Rdn.
79; MüKo-Schneider § 211 Rdn. 191 ff.; jeweils m.w.N.).
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c) Zutreffend hat der Generalbundesanwalt auch darauf hingewiesen,
dass die Erwägungen, mit denen das Landgericht das Mordmerkmal sonstiger
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niedriger Beweggründe ausgeschlossen hat, rechtlicher Prüfung nicht standhal-
ten. Das Landgericht hat hierzu "Auslöser" der Tat in der Persönlichkeitsstruktur
der Angeklagten angeführt: erwähnt sind unter anderem Passivität, Sorglosig-
keit, Verantwortungslosigkeit, Interesselosigkeit, der Wunsch nach Nichtstun
sowie Überforderung durch den Haushalt (UA S. 67). Diese als "Motivbündel"
bezeichneten "Auslöser" stehen nach Ansicht des Landgerichts nicht auf tiefster
sittlicher Stufe, zumal sie speziellen Mordmerkmalen nicht nahe stehen (ebd.).
Diese Bewertung vermischt unzutreffend "Auslöser" und Tatmotive. Die
geschilderten Persönlichkeitsmerkmale der Angeklagten können nicht unmittel-
bar Motiven für die Tat gleichgesetzt werden; Merkmale wie "Verantwortungslo-
sigkeit" oder allgemeine Bedürfnislagen wie der "Wunsch nach Nichtstun" ste-
hen der Annahme sittlich niedriger Beweggründe nicht ohne Weiteres entge-
gen, sondern können gerade auch deren Hintergrund darstellen. Das Landge-
richt hätte sich daher nicht mit den genannten allgemeinen Charakterisierungen
begnügen dürfen, welche die Tat eher als schicksalhafte Auswirkung einer all-
gemeinen Lebensuntüchtigkeit der Angeklagten erscheinen lassen, sondern
hätte sich um die Feststellung konkreter Tatmotive bemühen müssen. Soweit
festgestellt ist, die Angeklagte habe den Tod des Kindes gebilligt, "um den An-
forderungen, die das Kind an sie stellte, nicht mehr nachkommen zu müssen"
(UA S. 66), hätte der Tatrichter eine Einordnung dieser Motivation in die zum
Mordmerkmal sonstiger niedriger Beweggründe entwickelten Maßstäbe und
Fallgruppen vornehmen müssen; eine Verweisung auf die Persönlichkeitsstruk-
tur der - psychisch gesunden - Angeklagten reichte insoweit nicht.
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Zutreffend hat der Generalbundesanwalt überdies darauf hingewiesen,
dass es Anhaltspunkte dafür gab, die Angeklagte habe sich im Zusammenhang
mit Enttäuschungen in ihrer Ehe von dem Kind abgewandt und dieses verhun-
gern lassen, um ihrem "Wunsch nach Nichtstun" und ihrer Enttäuschung über
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die Abwendung ihres Ehemannes Ausdruck zu verleihen. Der neue Tatrichter
wird die konkrete Motivlage der Angeklagten sorgfältiger als bisher geschehen
zu prüfen haben.
2. Auch die Strafzumessung hinsichtlich der Angeklagten J. H.
ist nicht rechtsfehlerfrei. Zutreffend rügt die Revision, dass die Anwendung der
Strafrahmensenkung gemäß § 13 Abs. 2 StGB durch das Landgericht nicht hin-
reichend begründet ist. Die Strafzumessungserwägungen vermischen Ge-
sichtspunkte der Strafrahmenbestimmung und der konkreten Strafbemessung,
ohne dass hinreichend deutlich wird, ob der Tatrichter die für die Anwendung
des § 13 Abs. 2 StGB geltenden Maßstäbe zutreffend erkannt hat. So ist etwa
die Erwägung, der Angeklagten solle "letztlich zugute gehalten werden, dass sie
die Tat lediglich durch Unterlassen begangen hat" (UA S. 76), im Hinblick auf
die Tatsache wenig aussagekräftig, dass eine Tötung durch Verhungernlassen,
die gerade auch besonders gravierende schulderhöhende Momente enthalten
kann, ihrer Natur nach vorwiegend Unterlassungselemente enthält; dies kann
nicht von vornherein als Milderungsgrund angesehen werden. Auch dass die
Angeklagte "die ihr obliegenden Mutterpflichten bei richtiger Einstellung (hätte)
erfüllen können" (UA S. 76), ist entgegen der Ansicht des Landgerichts keine
aus sich heraus zur Strafrahmenmilderung geeignete Tatsache.
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3. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist auch hinsichtlich des Ange-
klagten G. H. begründet.
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a) Zutreffend wendet sich die Revision gegen die Beweiswürdigung zur
Verneinung eines Tötungsvorsatzes dieses Angeklagten. Der Angeklagte hat
sich dahingehend eingelassen, er habe von dem schlechten Gesundheitszu-
stand seiner Tochter gar nichts bemerkt. Dies hat das Landgericht als unglaub-
haft angesehen. Gleichwohl hat es angenommen, für das Vorliegen eines Tö-
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tungs-Vorsatzes "(gebe) es keine Hinweise" (UA S. 73). Der Angeklagte habe
die mangelnde Pflege und Versorgung nicht bemerkt; die Auszehrung des Kin-
des habe er erst am 11. März 2007 wahrgenommen. Das Obergeschoss des
Hauses und das Kinderzimmer habe er in den letzten Lebenswochen des Kin-
des nicht mehr aufgesucht. Es sei ihm zwar bewusst gewesen, dass nur durch
sofortiges Eingreifen weiterer Schaden von dem Kind abgewendet werden
konnte; aus Apathie, Prioritätensetzung für Hunde und Fische und Konflikt-
scheu habe er aber jede Hilfe unterlassen (UA S. 72).
Diese Feststellungen sind schon in sich nicht ohne Widerspruch. Das
Landgericht hat überdies rechtsfehlerhaft unterlassen, erhebliche Indizien, die
sich aus sonstigen Feststellungen im Hinblick auf den Tatvorsatz des Angeklag-
ten ergaben, in ihrer Bedeutung zutreffend einzuordnen und in die gebotene
Gesamtwürdigung einzustellen.
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Zutreffend weist die Revision auf den Umstand hin, dass der Angeklagte,
der nach den Feststellungen vom Tod des Kindes am 24. März 2007 überrascht
wurde, zu keinem Zeitpunkt nach der Todesursache fragte (UA S. 34, 36). Ein
solches Verhalten ist mit der Annahme, der Angeklagte habe den lebensbe-
drohlichen Zustand seines Kindes zuvor nicht gekannt, kaum vereinbar; es hät-
te daher als gegen die Einlassung des Angeklagten sprechendes gravierendes
Indiz vom Tatrichter gewürdigt werden müssen. Dasselbe gilt für die Feststel-
lung, der Angeklagte habe vor dem Tod des Kindes wochenlang das Oberge-
schoss des Hauses, also das Kinderzimmer und das Elternschlafzimmer, gar
nicht mehr aufgesucht und daher die extreme Mangelversorgung des Kindes
und die Verwahrlosung des Obergeschosses nicht bemerkt. Stattdessen habe
er - ohne erkennbaren Grund - in dem vermüllten Wohnzimmer im Erdgeschoss
geschlafen und sich nur noch dort und im Bereich seiner angeblichen Sanie-
rungsarbeiten aufgehalten. Für diese - an sich wenig nahe liegende - Einlas-
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sung konnte hier in der Tat sprechen, dass nach dem Tod des Kindes auch die
im Obergeschoss befindlichen Aquarien in verwahrlostem Zustand mit toten
und skelettierten Fischen aufgefunden wurden. Da die Versorgung der Tiere
aber nach den Feststellungen des Landgerichts eines der Hauptinteressen des
Angeklagten war und er sich um die Hunde und Fische stets zuverlässig küm-
merte, ergab sich gerade aus dem Zustand der Aquarien im Obergeschoss ein
erhebliches Indiz dafür, dass der Angeklagte absichtlich die Konfrontation mit
dem Zustand seiner Tochter vermied. Im Zusammenhang mit der Feststellung,
dass ihm der bedrohliche Zustand des Kindes bewusst war (UA S. 71), dass er
"nicht auf einen glücklichen Ausgang oder einen glücklichen Zufall (vertraute),
der zur Genesung des Kindes führen würde" (UA S. 72), dass er von seiner E-
hefrau, wie er erkannte, "kein Eingreifen erwarten (konnte)" (ebd.), dass er
wusste, dass weder ein Arzt zugezogen noch Besucher zu dem Kind gelassen
wurden und dass "nur er … dem Kind zur Gesundung verhelfen (konnte)"
(ebd.), findet dann aber die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe
gleichwohl den Tod des Kindes nicht für möglich gehalten, in den bisherigen
Feststellungen keine ausreichende Grundlage. Der Tatrichter ist rechtlich nicht
gehalten, zugunsten des Angeklagten einen Sachverhalt zu unterstellen, für
den es an hinreichenden Anhaltspunkten fehlt. Dies gilt umso mehr, wenn, wie
hier, gravierende Indizien für die gegenteilige Annahme sprechen. Sollte der
neue Tatrichter zur Feststellung zumindest bedingten Tötungsvorsatzes des
Angeklagten gelangen, wird er auch die bei der Mitangeklagten erörterten
Mordmerkmale zu prüfen haben. Auch insoweit gilt, dass die Feststellung einer
allgemeinen Persönlichkeitsstruktur oder Motivationslage wie "Passivität" oder
"Prioritätensetzung für Hunde und Fische" nicht geeignet ist, Feststellungen zu
konkreten Handlungsmotiven zu ersetzen, und dass solche allgemeinen Hal-
tungen der Annahme von Motiven, welche die Voraussetzungen eines Mord-
merkmals erfüllen, nicht entgegenstehen.
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b) Begründet ist die Revision hinsichtlich dieses Angeklagten auch inso-
weit, als sie sich gegen die Ablehnung des Tatbestands der Körperverletzung
mit Todesfolge gemäß § 227 StGB wendet. Die Begründung, zu dem Zeitpunkt,
als der Angeklagte am 11. März 2007 die Schädigung des Tatopfers erkannte,
sei der – zum Tod führende - Körperverletzungserfolg schon eingetreten gewe-
sen, weil das Kind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu retten gewesen wäre (UA
S. 75), lässt außer Betracht, dass der Angeklagte nach den Feststellungen je-
denfalls von diesem Zeitpunkt an wusste, dass sich der Gesundheitszustand
des Kindes laufend weiter verschlechterte und dass bei pflichtgemäßem Ein-
greifen des Angeklagten das Leben des Kindes in jedem Fall hätte verlängert
werden können. Das Unterlassen des Angeklagten steigerte daher die dem
Kind drohende Lebensgefahr weiter. Dies würde entgegen der Ansicht des
Landgerichts eine Verurteilung nach § 227 StGB tragen.
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c) Schließlich begegnet aus denselben Gründen auch die fehlende Prü-
fung eines Verbrechens nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 Abs. 3 StGB (vgl. BGH NJW
2008, 2199) durchgreifenden Bedenken. Auch der vom Landgericht nicht erör-
terte Tatbestand des § 225 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1 StGB wird vom
neuen Tatrichter zu prüfen sein; der Tatbestand könnte ggf. in Tateinheit mit
§ 227 StGB stehen (vgl. BGHSt 41, 113).
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4. Der Senat hat, auch im Hinblick auf die Öffentlichkeitswirksamkeit des
Verfahrens, von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. StPO Gebrauch
gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen.
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III. Revisionen der Angeklagten.
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1. Die Revision der Angeklagten J. H. ist unbegründet.
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Die Verfahrensrüge, mit welcher eine Verletzung von § 74 StPO gerügt
wird, deckt einen Rechtsfehler nicht auf. Das Landgericht hat den gegen die
Sachverständige C. gerichteten Befangenheitsantrag zu Recht zurückgewiesen.
Die Sachverständige hatte im Rahmen ihres Antrags vor Erstattung ihres münd-
lichen Gutachtens in der Hauptverhandlung eine Nach-Exploration der Ange-
klagten beabsichtigt und hiervon den Verteidiger benachrichtigt. Es ist nicht er-
sichtlich, dass sie dies in der Absicht unternahm, einseitig zu Lasten der Ange-
klagten tätig zu werden. Hiergegen spricht namentlich auch die Information des
Verteidigers. Ein Befangenheitsgrund lag bei verständiger Würdigung daher
nicht vor.
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Auch die Überprüfung des Urteils auf die allgemein erhobene Sachrüge
ergibt keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten.
39
2. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten G. H.
ist gleichfalls unbegründet. Soweit die Revision beanstandet, das Landgericht
habe keine Feststellungen dazu getroffen, ob der Angeklagte den Verletzungs-
erfolg einer Verschlechterung des Gesundheitszustands seiner Tochter billigte
oder hinzunehmen bereit war, widerspricht dies den Urteilsfeststellungen. Das
Landgericht hat ausdrücklich und insoweit rechtsfehlerfrei festgestellt, der An-
geklagte habe jedenfalls am 11. März 2007 eine behandlungsbedürftige Er-
krankung des Kindes wahrgenommen und gewusst, dass sich dieser Zustand
ohne sein Eingreifen weiter verschlechtern würde, gleichwohl aus Bequemlich-
keit und Passivität aber nichts unternommen. Die Beweiswürdigung lässt
Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen.
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Auch die Einwendungen der Revision gegen die Verurteilung wegen fahr-
lässiger Tötung sind offensichtlich unbegründet.
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Rissing-van Saan Rothfuß Fischer
Roggenbuck Cierniak