Urteil des BGH vom 18.06.2009
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 115/07
vom
18. Juni 2009
in dem Entschädigungsrechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BEG § 209 Abs. 1, § 220; ZPO § 544 Abs. 7
Die Nichtzulassung der Revision in einem Entschädigungsrechtsstreit kann auch mit
der Rüge angefochten werden, das Berufungsgericht habe den Anspruch der be-
schwerten Partei auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
Erachtet das Revisionsgericht diese Rüge für begründet, kann es in dem stattgeben-
den Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtstreit zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1, §§ 397, 402, 411 Abs. 3, § 412 Abs. 1
Der Anspruch einer Partei auf rechtliches Gehör wird in der Regel verletzt, wenn ih-
rem erst in zweiter Instanz gestellten Antrag nicht stattgegeben wird, den Sachver-
ständigen zu einem erstinstanzlich eingeholten schriftlichen Gutachten befragen zu
können, falls das Berufungsgericht sich insoweit nicht an die Feststellungen der Vor-
instanz für gebunden erachtet, sondern auf der Grundlage des eingeholten Gutach-
tens in eine neue Beweiswürdigung eintritt.
BGH, Beschluss vom 18. Juni 2009 - IX ZB 115/07 - KG Berlin
LG Berlin
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Der IX.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter
Prof. Dr. Kayser, Raebel, Vill, die Richterin Lohmann und den Richter Dr. Pape
am 18. Juni 2009
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Ur-
teil des 19. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin vom 24. Mai
2007 zugelassen.
Auf die Revision der Klägerin wird das vorbezeichnete Urteil auf-
gehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entschei-
dung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsver-
fahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Landgericht hat nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens des
internistischen Sachverständigen K. die Klage auf Zahlung einer
Witwenrente und Übernahme von Bestattungskosten abgewiesen, weil die nach
§ 41 BEG vorausgesetzte Wahrscheinlichkeit für einen Ursachenzusammen-
hang zwischen der Verfolgung des Ehemannes der Klägerin und seinem Tod
nicht feststellbar sei. Die Klägerin hatte in erster Instanz das medizinische
Sachverständigengutachten unter Überreichung privatärztlicher Stellungnah-
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men angegriffen und die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen
beantragt, die von der Beklagten angeregte Ladung des bisherigen Sachver-
ständigen zur Erläuterung seines Gutachtens dagegen als unzureichend erach-
tet. Mit ihrer Berufungsbegründung hat die Klägerin den Antrag auf Begutach-
tung durch einen anderen Sachverständigen wiederholt, nunmehr aber zum
Ausdruck gebracht, dass zumindest der Sachverständige K. zu
den von ihr überreichten privatärztlichen Stellungnahmen nochmals habe ge-
hört werden müssen.
Das Berufungsgericht hat das Rechtsmittel der Klägerin ohne weitere
Beweisaufnahme zurückgewiesen. Die Beschwerde erstrebt die Zulassung der
Revision mit der Rüge, durch die unterbliebene weitere Sachaufklärung des
Berufungsgerichts sei der Klägerin nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt
worden.
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II.
Die Revision ist zuzulassen und begründet, weil das angegriffene Urteil
den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in
entscheidungserheblicher Weise verletzt.
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1. Nach § 209 Abs. 1 BEG sind die Vorschriften der Zivilprozessordnung
in der jeweils geltenden Fassung in gerichtlichen Entschädigungsverfahren an-
zuwenden (BGH, Beschl. v. 6. Juli 2006 - IX ZB 261/04, NJW-RR 2006, 1574 f).
Dazu zählt auch die mit Wirkung vom 1. Januar 2005 angefügte Bestimmung
des § 544 Abs. 7 ZPO, nach welcher das Revisionsgericht das angefochtene
Urteil wegen entscheidungserheblicher Verletzung des rechtlichen Gehörs
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durch Beschluss aufheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zu-
rückverweisen kann. Die sinngemäße Anwendung dieser Vorschrift stellt
zugleich klar, dass jedenfalls seit ihrer Geltung auch Gehörsverletzungen im
Berufungsverfahren vor den Entschädigungsgerichten mit der Nichtzulassungs-
beschwerde angegriffen werden können.
2. Dieser Angriff der Beschwerde hat im vorliegenden Fall Erfolg. Aller-
dings weicht der Verfahrenshergang hier von den Umständen ab, unter denen
der Bundesgerichtshof bisher schon eine Gehörsverletzung angenommen hat,
weil der Tatrichter über den Antrag einer Partei hinweggegangen ist, einen ge-
richtlichen Sachverständigen nach den §§ 397, 402 ZPO zu seinem schriftli-
chen Gutachten befragen zu können (vgl. BGH, Urt. v. 5. September 2006
- VI ZR 176/05, NJW-RR 2007, 212; Beschl. v. 9. Mai 2007 - IV ZR 160/05, je-
weils m.w.N.). Denn die Klägerin hat in erster Instanz nur einen Beweisantrag
nach § 412 Abs. 1 ZPO gestellt, mit dem sich das Landgericht auseinanderge-
setzt hat. Danach kam in Betracht, dass das Berufungsgericht sich nach § 529
Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO nur mit der Berufungsrüge zu befassen hatte, dass
das Verfahren des Landgerichts wegen der behaupteten Mängel des schriftli-
chen Sachverständigengutachtens gegen § 412 Abs. 1 ZPO verstieß. Das erst
aus der Berufungsbegründung als hilfsweiser Verfahrensantrag der Klägerin im
Wege der Auslegung zu entnehmende Anliegen, beim Absehen des Gerichtes
von einer neuen Begutachtung den landgerichtlichen Sachverständigen zu sei-
nem schriftlichen Gutachten befragen zu können, wäre dann ins Leere gegan-
gen.
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Das Berufungsgericht hat sich jedoch nach den Gründen seiner Ent-
scheidung an die erstinstanzlichen Feststellungen zur Todesursache des Ehe-
mannes der Klägerin nicht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden erachtet,
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sondern ist mit demselben Ergebnis wie die erste Instanz in eine neue Beweis-
würdigung auf der Grundlage des erstinstanzlich erhobenen schriftlichen Sach-
verständigengutachtens eingetreten. Danach hat es die Veranlassung zur Ein-
holung eines zweiten Gutachtens verneint. Anschließend hat das Berufungsge-
richt geprüft, ob die von der Klägerin eingereichten privatärztlichen Stellung-
nahmen Anlass boten, den landgerichtlichen Sachverständigen zu einem er-
gänzenden Gutachten aufzufordern und auch diese Frage verneint. Nach Ein-
tritt in die erneute Beweiswürdigung durfte das Berufungsgericht jedoch den
hilfsweise gestellten Antrag der Klägerin nicht übergehen, den Sachverständi-
gen anhand der eingereichten privatärztlichen Stellungnahmen zu seinem
schriftlichen Gutachten zu befragen, wenn keine neue Begutachtung nach
§ 412 Abs. 1 ZPO angeordnet wurde. Denn es hatte damit wie der erste Tat-
richter das hiermit bekämpfte schriftliche Sachverständigengutachten zur
Grundlage seiner eigenen Überzeugungsbildung gemäß § 286 ZPO gemacht.
Zu einer solchen Befragung war die Klägerin unter dieser Voraussetzung pro-
zessual auch in zweiter Instanz nach den §§ 397, 402 ZPO berechtigt. Dem
Berufungsgericht stand zur Ablehnung dieses Antrages nicht der in § 411
Abs. 3 ZPO eröffnete tatrichterliche Ermessensspielraum zu (vgl. BGH, Beschl.
v. 9. Mai 2007, aaO m.w.N.).
Da nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht die Beweisfrage
nach einer Befragung des Sachverständigen durch die Klägerin anders beant-
wortet hätte, wenn auch möglicherweise erst nach einer dann bejahten Not-
wendigkeit zur erneuten Begutachtung, kann das Berufungsurteil keinen Be-
stand haben.
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III.
Die Auslegung des materiellen Entschädigungsrechts durch das Beru-
fungsgericht ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Senat weist jedoch vorsorg-
lich auch auf seine neuere Rechtsprechung hin, die zu § 41 BEG ergangen ist
(vgl. BGH, Urt. v. 6. Juni 2002 - IX ZR 35/02, MDR 2002, 1248 f; Beschl. v.
23. April 2009 - IX ZB 25/08, Rn. 6 f).
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Kayser Raebel Vill
Lohmann
Pape
Vorinstanzen:
LG Berlin, Entscheidung vom 26.10.2006 - 33 O 8/05 Entsch -
KG Berlin, Entscheidung vom 24.05.2007 - 19 U 1/07 Entsch -