Urteil des BGH vom 07.08.2013

BGH: psychische störung, sicherungsverwahrung, gefahr, begriff, gewalt, überzeugung, gesetzesmaterialien, unterbringung, erkenntnis, fortdauer

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 246/13
vom
7. August 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsver-
wahrung
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. August 2013 beschlossen:
Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts
Deggendorf vom 29. Januar 2013 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit
den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkam-
mer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschwerdeführers in der
Sicherungsverwahrung angeordnet. Er war am 15. Mai 2007 zu einer Gesamt-
freiheitsstrafe von 13 Jahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (unter
Einbeziehung weiterer Strafen aus einem wegen ähnlicher Delikte ergangenen
Erkenntnis) verurteilt worden, die Anordnung der Sicherungsverwahrung blieb
vorbehalten. Die Revision des Verurteilten hat mit der Sachrüge Erfolg.
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II.
1. a) Die Feststellungen des Landgerichts belegen nicht, dass der Be-
schwerdeführer an einer psychischen Störung leidet und aus konkreten Um-
ständen in seiner Person oder seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr ab-
zuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- und Sexualstraf-
taten begehen wird (vgl. Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB).
Das Landgericht hat bei seiner Entscheidung einen hiervon abweichen-
den rechtlichen Maßstab angelegt (UA S. 16 ff.), der nicht der seit Inkrafttreten
des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandgebotes im Recht
der Sicherungsverwahrung (vom 5. Dezember 2012, BGBl. I S. 2425) am 1.
Juni 2013 geltenden und für das Revisionsgericht maßgeblichen (vgl. § 354a
StPO) Rechtslage entspricht.
b) Gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB in der ab 1. Juni 2013 gel-
tenden Fassung findet auf den vorliegenden Fall das bis zum 31. Dezember
2010 geltende Recht Anwendung, weil die Anlasstaten bis Juni 2002 begangen
wurden. Dies gilt nach Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB allerdings nur, soweit in
Art. 316f Abs. 2 und 3 EGStGB nichts anders bestimmt ist. Für die vorliegende
Konstellation hat Art. 316f Abs. 2 EGStGB eine andere Bestimmung getroffen.
Nach Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB ist die Anordnung oder Fortdauer der
Sicherungsverwahrung auf Grund einer gesetzlichen Regelung, die zur Zeit der
letzten Anlasstat noch nicht in Kraft getreten war, nur zulässig, wenn bei dem
Betroffenen eine psychische Störung vorliegt und aus konkreten Umständen in
seiner Person oder seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten ist,
dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten bege-
hen wird.
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c) Vorliegend handelt es sich um einen von Art. 316f Abs. 2 Satz 2
EGStGB erfassten „Altfall“, bei dem erhöhte Anforderungen an die Anordnung
der Sicherungsverwahrung zu stellen sind. Die Anordnung der Sicherungsver-
wahrung stützt sich auf § 66a Abs. 2 StGB in der bis 31. Dezember 2010 gel-
tenden Fassung. Diese Vorschrift war jedoch zum Zeitpunkt der letzten Anlass-
tat (15. Juni 2002) noch nicht in Kraft, sondern wurde erst durch das Gesetz zur
Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002
(BGBl. I S. 3344) mit Wirkung ab 28. August 2002 eingeführt.
d) Dass Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB auch die Anordnung der vorbe-
haltenen Sicherungsverwahrung erfasst, ergibt sich aus dem Wortlaut der
Norm. Wird in einem Urteil die Sicherungsverwahrung vorbehalten, entscheidet
das Gericht in dem Verfahren nach § 275a StPO über die „Anordnung“ der vor-
behaltenen Sicherungsverwahrung nach den Maßstäben von § 66a StGB. Den
Begriff der „Anordnung“ verwendet auch Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB. Aus
den Gesetzesmaterialien ergibt sich nicht, dass der Gesetzgeber den Begriff an
dieser Stelle anders als in § 66a StGB oder § 275a Abs. 1 StPO verwenden
wollte (vgl. BT-Drucks. 17/9874 S. 30 ff.).
Dieses Ergebnis wird durch systematische Erwägungen gestützt. Der
Gesetzgeber hat in Art. 316f Abs. 2 Satz 3 EGStGB eine Sonderregelung für
den Vorbehalt der Anordnung der Sicherungsverwahrung in Altfällen - wie dem
vorliegenden - getroffen (vgl. auch BT-Drucks. 17/9874 S. 32). Die Anordnung
der Sicherungsverwahrung kann danach in Altfällen nur vorbehalten werden,
wenn bei dem Betroffenen eine psychische Störung vorliegt und (beim Erwach-
senen) die in Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB genannte Gefahr wahrscheinlich
ist. Das spricht dafür, dass eine Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsver-
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wahrung in Vertrauensschutzfällen - wie dem vorliegenden - nur ergehen kann,
wenn diese erhöhten Anforderungen im Zeitpunkt der Anordnung vorliegen.
2. Die Änderung des rechtlichen Maßstabs erfordert die Aufhebung der
dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen. Sollte das Landgericht zur
Überzeugung kommen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der vor-
behaltenen Sicherungsverwahrung nach den oben genannten Maßstäben vor-
liegen, wird es bei der dann erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung die bis-
herigen Therapieangebote auch unter dem Gesichtspunkt der in § 66c Abs. 2,
§ 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu Tage tretenden Wertung des Gesetzgebers
zu würdigen haben (vgl. hierzu auch Art. 316f Abs. 3 Satz 1 EGStGB).
Raum Graf Jäger
Radtke Mosbacher
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