Urteil des BGH vom 24.01.2001

BGH (stgb, strafkammer, stpo, unfall, verhalten, koma, schwere, schuldspruch, nötigung, verminderung)

5 StR 523/00
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 24. Januar 2001
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Januar 2001
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-
gerichts Potsdam vom 18. Mai 2000 gemäß § 349
Abs. 4 StPO im gesamtem Strafausspruch mit den zugehö-
rigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird gemäß
§ 349 Abs. 2 StPO verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tat-
einheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen und sexuellem Miß-
brauch eines Kindes sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der
Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts; ferner beanstandet er das
Verfahren.
Der Schuldspruch ist frei von Rechtsfehlern zum Nachteil des Ange-
klagten. Dagegen kann der Strafausspruch nicht bestehenbleiben. Die Revi-
sion rügt insoweit mit Recht die Ablehnung eines Hilfsbeweisantrages auf
Anhörung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit des Ange-
klagten. Die Verteidigung hatte in dem Beweisantrag behauptet: Der Ange-
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klagte habe im Jahre 1977 einen schweren Verkehrsunfall erlitten. Dabei ha-
be er eine schwere Schädelverletzung davongetragen und infolgedessen
fünf Wochen im Koma gelegen. Seit dieser Zeit sei der Angeklagte sehr im-
pulsiv und aggressiv und neige zu unkontrollierten Handlungen. Im Rahmen
des beantragten Gutachtens werde festgestellt werden, daß der Angeklagte
während des gesamten Tatablaufs vermindert steuerungsfähig gewesen sei.
Diesen Hilfsbeweisantrag hat die Strafkammer unter Berufung auf die eigene
Sachkunde zurückgewiesen. Der Angeklagte habe sich immerhin nach sei-
nem Unfall bis zum Beginn des Tatgeschehens und danach bis zur Haupt-
verhandlung „normgerecht“ verhalten. Soweit eine durch den Unfall ausgelö-
ste erhebliche Verminderung der Schuld im Sinne von § 21 StGB behauptet
werde, könne die Kammer wegen der nicht vorgetragenen Anknüpfungstat-
sachen den Antrag wegen eigener Sachkunde ablehnen .
Dies begegnet durchgreifenden Bedenken. Die Beurteilung der Auswir-
kung von Unfällen mit Hirnbeteiligung auf die Steuerungsfähigkeit eines An-
geklagten gehört regelmäßig zu den Fragen, für die die Sachkunde des
Tatrichters nicht ausreicht (BGHR StGB § 20 – Sachverständiger 2, 3, 4;
§ 21 StGB – Sachverständiger 1, 2, 4; StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 – Sachkun-
de 3). Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos; liegt die Auswirkung eines weit
zurückliegenden Unfalls, sei es mit Rücksicht auf die weitere Lebensge-
schichte des Angeklagten, sei es wegen der Unbestimmtheit des Beweisvor-
bringens völlig fern, so kann der Tatrichter ausnahmsweise für sich die eige-
ne Sachkunde in Anspruch nehmen (BGH, Beschluß vom 12. Novem-
ber 1991 – 5 StR 492/91 –). So verhält es sich hier aber nicht. Das Beweis-
vorbringen (schwere Schädelverletzungen, fünfwöchiges Koma, anschlie-
ßende Wesensveränderung mit aggressiven und unkontrollierten Handlun-
gen) ist hinreichend bestimmt. Auch der Lebensweg des Angeklagten ist
nicht derart unauffällig, daß eine Auswirkung des Unfalls auf seine Steue-
rungsfähigkeit ohne sachverständige Beratung zweifelsfrei ausgeschlossen
werden konnte. Entgegen der Auffassung des Landgerichts hat der Ange-
klagte sich nach dem Unfall allenfalls im beruflichen Bereich normgerecht
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verhalten. Dagegen hat er im häuslichen Bereich, unabhängig von den se-
xuellen Übergriffen, durchgehend ungewöhnlich aggressiv und gewalttätig
agiert. Unter diesen Umständen hätte die Strafkammer einen Sachverständi-
gen hinzuziehen müssen.
Der Senat hebt den Strafausspruch, nicht dagegen den Schuldspruch
auf. Die Möglichkeit, daß die beantragte Beweiserhebung zum Nachweis der
Voraussetzungen des § 20 StGB führen könnte, scheidet aus. Der Strafaus-
spruch ist zwar sehr maßvoll. Gleichwohl läßt sich nicht mit letzter Sicherheit
ausschließen, daß er im Falle einer Strafrahmenverschiebung gemäß den
§§ 21, 49 StGB noch milder ausgefallen wäre.
Harms Häger Basdorf
Gerhardt Raum