Urteil des BGH vom 09.02.2006

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5 StR 564/05
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 9. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Entziehung Minderjähriger
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. Februar 2006,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal
als
beisitzende
Richter,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als
Vertreterin
der
Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin Kr
als
Verteidigerin,
Rechtsanwalt O
als
Nebenklägervertreter,
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 24. Juni 2005 wird verworfen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die
hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Ange-
klagten zu tragen.
– Von Rechts wegen –
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Entziehung Minderjähri-
ger (§ 235 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten
sowie zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 50.000 Euro verur-
teilt. Die auf die Sachrüge gestützte, vom Generalbundesanwalt vertretene
Revision der Staatsanwaltschaft, mit der namentlich die Nichtannahme des
Qualifizierungstatbestandes nach § 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB beanstandet wird,
bleibt ohne Erfolg.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der dem Islam angehörende Angeklagte ist in Ägypten geboren und
aufgewachsen. 1992 reiste er nach Deutschland ein und heiratete 1993 die
Nebenklägerin, eine deutsche Staatsbürgerin. Im November 1998 gab er die
ägyptische Staatsangehörigkeit auf und wurde deutscher Staatsbürger. Aus
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der 2001 wieder geschiedenen Ehe sind die am 3. Dezember 1995 geborene
Tochter H und der am 28. April 1998 geborene Sohn I hervor-
gegangen.
Bereits im Mai 2000 trennte sich die Nebenklägerin vom Angeklagten,
nachdem dieser sie körperlich misshandelt hatte. Vom Familiengericht erhielt
sie im Rahmen einer einstweiligen Anordnung vorläufig bis zu einer gerichtli-
chen Regelung der Scheidungsfolgen das alleinige Aufenthaltsbestimmungs-
recht für beide Kinder übertragen. Außerdem wurde dem Angeklagten durch
Gerichtsbeschluss verboten, die Kinder außerhalb der Grenzen der Bundes-
republik Deutschland zu bringen. Die Kinder wurden zudem präventiv polizei-
lich im Schengener Informationssystem zur Fahndung ausgeschrieben. Im
Rahmen einer Besuchsvereinbarung brachte die Nebenklägerin am 28. De-
zember 2000 dem Angeklagten beide Kinder. Noch am selben Tag übergab
der Angeklagte abredewidrig die damals fünf bzw. zweieinhalb Jahre alten
Kinder an nicht ermittelte Mittäter, die sie auf unbekanntem Weg nach Ägyp-
ten brachten. Am folgenden Tag flog auch der Angeklagte selbst nach Ägyp-
ten. Die jahrelange Suche der Nebenklägerin nach den Kindern blieb erfolg-
los. Der Angeklagte wurde nach seiner im September 2003 erfolgten Rück-
kehr nach Deutschland im Februar 2004 polizeilich festgenommen und be-
findet sich seitdem in Untersuchungshaft. Bis zur Urteilsverkündung war der
Angeklagte nicht bereit, dem Gericht konkrete Angaben zum Aufenthalt der
Kinder zu machen.
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat den Angeklagten zutreffend gemäß § 235
Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB (Strafandrohung Freiheitsstrafe bis zu fünf
Jahren oder Geldstrafe) wegen Entziehung Minderjähriger verurteilt, weil die-
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ser der Kindesmutter durch List die Kinder entzogen hat, um sie in das Aus-
land zu verbringen.
2. Die Begründung, mit der das Landgericht aus tatsächlichen Grün-
den den allein in Betracht kommenden Qualifikationstatbestand des § 235
Abs. 4 Nr. 1 StGB (Strafandrohung Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn
Jahren) verneint hat, hält entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft
der rechtlichen Nachprüfung stand.
a) Erforderlich ist, dass durch die Tat die konkrete Gefahr (vgl. Grib-
bohm in LK 11. Aufl. § 235 Rdn. 84; Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 235
Rdn. 16a; Horn/Wolters in SK-StGB 7. Aufl. [Stand: Oktober 2003] § 235
Rdn. 18) einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen
Entwicklung des Opfers verursacht wird. Wie der Bundesgerichtshof bereits
mehrfach ausgeführt hat, kann eine konkrete Gefahr, soll die Grenze zur
abstrakten Gefahr nicht verwischt werden, nur dann angenommen werden,
wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hin-
aus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in eine kritische Situation ge-
führt hat; in dieser Situation muss – was nach der allgemeinen Lebenserfah-
rung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die
Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wor-
den sein, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt
wurde oder nicht. Erforderlich ist ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter
Beobachter zu der Einschätzung gelangt, dass "das noch einmal gut gegan-
gen sei" (vgl. BGHR StGB § 315b Abs. 1 Gefährdung 3 und § 306a Abs. 2
Gesundheitsschädigung 1; vgl. auch Sonnen in Nomos-Kommentar, StGB
2. Aufl. § 235 Rdn. 23). Diese Erwägungen gelten auch für die von § 235
Abs. 4 StGB vorausgesetzte konkrete Gefahr. Danach kann die bloße Kin-
desentziehung, auch wenn sie mit einem Verbringen des Kindes in das Aus-
land verbunden ist, für die Annahme einer solchen Gefahr nicht ausreichen.
Freilich birgt ein solches Verhalten ein besonders hohes Risiko für die Ent-
wicklung des Kindes. Die Steigerung dieses Risikos stellt sich aber – nicht
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anders als dieses selbst –, auch wenn sie erheblich ist, lediglich als eine abs-
trakte, für § 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB nicht ausreichende Gefahr dar. Das
Verbringen in einen fremden Kulturkreis kann aber den Qualifikationstatbe-
stand dann erfüllen, wenn eine konkrete Gefahr für die körperliche, seelische
oder psychische Entwicklung des Minderjährigen damit verbunden ist, etwa
wenn unter massivem Einfluss einer fremden Religion die Gefahr einer Ent-
wicklungsschädigung droht (vgl. Tröndle/Fischer aaO; Wieck-Noodt in
Münch-Komm § 235 Rdn. 80).
Diesen rechtlichen Ausgangspunkt hat das Landgericht nicht verkannt.
Es hat eine solche konkrete Gefährdung jedoch nicht festzustellen vermocht,
weil über den tatsächlichen Zustand der Kinder keine Erkenntnisse gewon-
nen werden konnten (vgl. dazu BGH NJW 1999, 1344, 1346). Diese Wertung
ist vom Revisionsgericht aufgrund der besonderen Umstände des Falles hin-
zunehmen. Die Nebenklägerin befasste sich alsbald nach der Heirat intensiv
mit der arabischen Kultur und las viel über die muslimische Religion. Zwei
Jahre nach ihrer Heirat konvertierte sie zum Islam. Beide Eheleute waren
sich nach Geburt der Tochter darüber einig, das Kind auch nach islamischen
Wertvorstellungen und Lebensregeln zu erziehen. So bekam die Tochter
– worauf die Nebenklägerin auch im Kindergarten achtete – kein Schweine-
fleisch zu essen. Der Angeklagte und die Nebenklägerin vermittelten ihrer
Tochter das Land Ägypten, in dem der überwiegende Teil der Familie des
Angeklagten lebt, auf zahlreichen Reisen dorthin als zweite Heimat. Nach der
Geburt des Sohnes begann die Nebenklägerin, die Wert darauf legte, dass
beide Kinder zweisprachig aufwachsen, selbst arabisch zu lernen und riet
dem Angeklagten, arabische Kinderbücher zu kaufen, aus denen sie beiden
Kindern vorlesen könnten.
b) Das Landgericht hat auch zutreffend darauf abgestellt, ob die ge-
nannte Gefahr sich bei den Kindern und nicht etwa bei ihrer Mutter – der Ne-
benklägerin – verwirklicht hat. Opfer im Sinne von § 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB
ist der von der Tat betroffene Minderjährige, nicht jedoch der Sorgeberechtig-
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te. Zwar wird in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten, Opfer könne
auch der beteiligte Sorgeberechtigte sein (vgl. Gribbohm aaO Rdn. 82; Eser
in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 235 Rdn. 23; Sonnen in Nomos-
Kommentar aaO; Sonnen, Strafrecht Besonderer Teil, 2005, S. 64), weil die-
ser Inhaber eines der durch § 235 StGB geschützten Rechtsgüter sei. Diese
Ansicht vermag jedoch nicht zu überzeugen (so Maurach/Schroeder/Mai-
wald, Strafrecht Besonderer Teil TB 2, 9. Aufl. § 63 Rdn. 67; wohl auch
Lackner/Kühl, StGB 25. Aufl. § 235 Rdn. 8; Horn/Wolters aaO Rdn. 20). Die
Vorschrift des § 235 StGB ist durch das 6. StrRG vom 26. Januar 1998 um-
gestaltet worden. Dabei wurden unter anderem auch Abs. 4 und Abs. 5 neu
eingefügt und der Begriff des „Opfers“ in § 235 StGB erstmals verwendet.
Nach den Gesetzesmaterialien zum 6. StrRG (vgl. Entwurf der Bundesregie-
rung BT-Drucks. 13/8587 S. 39) ist durch Abs. 4 die Strafdrohung vor allem
im Hinblick auf das erweiterte Schutzgut des § 235 verschärft worden
(Schutz nicht nur der elterlichen Sorge, sondern auch der ungestörten Ent-
wicklung des jungen Menschen). Dementsprechend wird in der Entwurfsbe-
gründung hervorgehoben, die Gefahr einer erheblichen Schädigung der kör-
perlichen oder seelischen Entwicklung könne gegeben sein, wenn der Täter
ein Kind für längere Zeit in ein asoziales Milieu bringt, er auf unabsehbare
Zeit einen Zustand erhöhter Schutzlosigkeit des Kindes herbeiführt oder sich
aus egoistischen Motiven hemmungslos über die berechtigten Interessen des
Kindes und der Mutter hinwegsetzt. Ebenfalls ist die Strafschärfung durch
den Qualifikationstatbestand des Abs. 5 (Tod des Opfers) damit begründet
worden, dass der neu gefasste § 235 StGB auch dem Kinder- und Jugend-
schutz diene.
3. Die Nichtanwendung des Qualifikationstatbestandes führt auch
nicht dazu, dass auf den Angeklagten, der den Aufenthalt der Kinder noch
immer verheimlicht, mit den Mitteln des Strafrechts nicht in ausreichender
Weise eingewirkt werden könnte. Die Entziehung Minderjähriger ist eine
Dauerstraftat (vgl. RG DR 1942, 438, 439; BGH NJW 1999, 1344, 1346;
Gribbohm aaO Rdn. 128; Tröndle/Fischer aaO Rdn. 12; Joecks, StGB
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6. Aufl. § 235 Rdn. 2; Wessels/Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil/1,
29. Aufl. Rdn. 437). Die Tat ist daher mit der Erfüllung der Merkmals „Entzie-
hung“ zwar rechtlich vollendet, sie wird aber durch pflichtwidriges Aufrechter-
halten des vom Täter geschaffenen rechtswidrigen Zustandes weiter verwirk-
licht. Deshalb erscheint es zum einen als zweifelhaft, dass der die Straftat
fortsetzende Angeklagte vorzeitig aus der Strafhaft entlassen werden könnte.
Zum anderen wird auch durch die Verurteilung wegen Entziehung Minderjäh-
riger in dieser Sache die Straftat nicht beendet; bei weiter andauernder Ent-
ziehung wäre mithin eine erneute Verurteilung möglich (vgl. RGSt 47, 154,
155; BGHSt 14, 280, 281).
III.
Die Überprüfung des Urteils nach § 301 StPO hat keinen Rechtsfehler
zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Harms Häger Raum
Brause Schaal