Urteil des BGH vom 30.05.2000

BGH (stpo, hauptverhandlung, einstellung, stv, rüge, beweismittel, ergebnis, verteidigung, 1995, prüfung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 183/00
vom
30. Mai 2000
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. Mai 2000 gemäß § 349
Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
München II vom 17. Dezember 1999 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwen-
digen Auslagen zu tragen.
Gründe:
1. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
a) Soweit die Revision beanstandet, das Landgericht habe das Verfah-
ren hinsichtlich eines weiteren dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurfs
des sexuellen Mißbrauchs der Geschädigten U. von ähnlicher Bege-
hungsweise und ähnlichem Gewicht wie die abgeurteilte Tat gemäß § 154
Abs. 2 StPO eingestellt, ohne im Urteil dafür Gründe anzugeben, entspricht die
Rüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
Zutreffend geht die Revision zwar davon aus, daß in einem Fall, in dem
der Anklagevorwurf wegen zwei Taten allein auf der Aussage einer einzigen
Belastungszeugin aufbaut, wegen einer dieser Taten das Verfahren aber nach
§ 154 Abs. 2 StPO eingestellt wird, den Gründen dafür Beweisbedeutung für
die entscheidende Frage der Glaubwürdigkeit der einzigen Belastungszeugin
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zukommen kann; wird der Grund für die Einstellung nicht mitgeteilt, liegt darin
ein Erörterungsmangel (BGH StV 1998, 580, 582).
Der Beschwerdeführer hat den Mangel auch richtig als Verfahrensfehler
beanstandet. Bei der Beantwortung der Frage, ob einer - möglicherweise ver-
letzten - Rechtsnorm verfahrens- oder sachlich-rechtlicher Charakter zukommt,
ist grundsätzlich darauf abzuheben, daß für die sachlich-rechtliche Überprü-
fung dem Revisionsgericht allein die Urteilsurkunde zur Verfügung steht; alle
anderen Erkenntnisquellen sind ihm verschlossen. Soweit sich der Rechtsfeh-
ler nicht allein aus der Urteilsurkunde erschließen läßt, weil er sich auf das der
Entscheidung vorausgegangene Verfahren bezieht, verbleibt es bei der Verfah-
rensrüge.
Der von der Revision geltend gemachte Erörterungsmangel betrifft zwar
insoweit das sachliche Recht, als er in den Bereich der Beweiswürdigung fällt.
Doch kann die Frage, ob und was im Zusammenhang mit einer Verfahrensein-
stellung nach § 154 Abs. 2 StPO zu erörtern ist, nicht notwendig aus der Urteil-
surkunde allein erschlossen werden. Eine derartige Verfahrenseinstellung kann
in den Urteilsgründen zwar mitgeteilt sein; eine Verpflichtung dazu allein aus
verfahrensrechtlicher Sicht enthält die Strafprozeßordnung aber nicht. Selbst
wenn sich das Urteil aber dazu äußert, kann diese Äußerung unvollständig
sein, so wenn in der Hauptverhandlung Gründe für die Verfahrenseinstellung
genannt wurden, diese sich aber im Urteil nicht finden.
Das bedeutet, daß eine entsprechende Rüge mit der - insbesondere der
nicht ausgeführten - Sachrüge nicht ausreichend begründet ist, da auf dieser
Grundlage eine abschließende Prüfung nicht möglich ist. Daran ändert nichts,
daß es Urteile gibt, in denen eine teilweise erfolgte Verfahrenseinstellung, die
Gründe dafür und ihre Auswirkung auf die Beweiswürdigung umfassend darge-
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stellt sind. Eine solche Erörterung erfolgt in der Regel nur, wenn dazu nach
Meinung des Tatgerichts Anlaß bestand. Die Prüfung, ob eine - fehlende - Er-
örterung geboten gewesen wäre, eröffnet nur die Verfahrensrüge. Der Fall ist
dem vergleichbar, daß der Tatrichter ausgeschiedenen Verfahrensstoff dem
Angeklagten bei der Strafzumessung angelastet hat, ohne vorher auf diese
Möglichkeit hingewiesen zu haben; auch in diesem Fehler hat die Rechtspre-
chung des Bundesgerichtshofs nach einigem Schwanken einen Verfahrens-
fehler gesehen (BGHR StPO § 154 Abs. 1 Verwertungsverbot 1).
Ist aber eine Verfahrensrüge zu erheben, muß der Revisionsführer den
Sachverhalt so umfassend vortragen, daß das Revisionsgericht allein auf
Grund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt,
wenn das tatsächliche Vorbringen der Revision zutrifft (BGH NJW 1995, 2047;
BGH StV 1996, 530).
Hier hat der Beschwerdeführer die Tatsache der Einstellung und die
fehlende Erörterung der Gründe dafür im Urteil mitgeteilt; er hat auch, wenn
auch in sehr summarischer Form, den Sachverhalt angesprochen, auf den sich
die Einstellung bezog.
Was fehlt ist jedoch eine Äußerung dazu, ob und ggf. welche Gründe für
die Einstellung in der Hauptverhandlung erörtert wurden, denn die mangelnde
Begründung der Einstellung im Urteil könnte im Ergebnis nur dann einen Ver-
fahrensfehler darstellen, wenn es sich um Gründe handelte, die auf die an-
schließend getroffene Sachentscheidung Einfluß nehmen konnten, wie etwa
zweifelhafte Glaubhaftigkeit der Angaben der einzigen Belastungszeugin zu
dem eingestellten Vorfall.
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Es ist auch - ungeachtet insoweit fehlender Protokollierungspflicht - in
der Regel nicht so, daß eine Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO in
der Hauptverhandlung kommentarlos erfolgt. Sollte es in Ausnahmefällen den-
noch so sein, müßte vom Beschwerdeführer zumindest aber das Vorbringen
verlangt werden, daß für die Einstellung keine Gründe angeführt wurden, die
für die Beweiswürdigung ohne Bedeutung waren, wie etwa Verfahrensbe-
schränkung aus prozeßökonomischen Gründen.
b) Die weitere Rüge, das Landgericht habe § 261 StPO verletzt, weil es
auf den Inhalt einer Reihe in der Hauptverhandlung auf Antrag der Verteidi-
gung ganz oder teilweise verlesener Vernehmungsprotokolle, Gutachten und
sonstige Urkunden nicht eingegangen sei, greift gleichfalls nicht durch.
Zwar muß das Urteil erkennen lassen, daß der Tatrichter Umstände, die
geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Ange-
klagten zu beeinflussen, in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO
§ 261 Inbegriff 7, 15). Doch kann nicht aus jedem Schweigen zu den in der
Hauptverhandlung erhobenen Beweisen darauf geschlossen werden, das Ge-
richt habe diese Beweismittel unbeachtet gelassen. Die Erörterungsbedürftig-
keit in den schriftlichen Gründen beurteilt sich nach dem Ergebnis der Beweis-
aufnahme. Nur mit Umständen, die im Zeitpunkt der Urteilsfällung noch be-
weiserheblich waren, muß sich der Tatrichter im Urteil auseinandersetzen. Ob
das der Fall war, läßt sich dem Beweisgehalt der Beweismittel selbst nicht oh-
ne weiteres entnehmen. Die weitere Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung
kann dem Beweismittel jede Bedeutung genommen haben. Das gilt insbeson-
dere, soweit es sich um Beweise von Hilfstatsachen handelt, auf die die Be-
weisanträge der Verteidigung weitgehend abzielten. Würde man eine weiter-
gehende Begründungspflicht verlangen, liefe das darauf hinaus, daß der
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Tatrichter in seinem schriftlichen Urteil nicht das Ergebnis der Hauptverhand-
lung zu begründen, sondern den Gang der Hauptverhandlung zu dokumentie-
ren hätte (vgl. G. Schäfer StV 1995, 147, 156).
2. Ebenso können die Angriffe gegen die Beweiswürdigung, die die Re-
vision mit der Sachrüge vorbringt, keinen Erfolg haben. Insbesondere mußte
sich das Landgericht nicht ausdrücklich mit der Frage einer unbewußten Sug-
gestion der Geschädigten durch die Heimleiterin M. befassen. Die Ge-
schädigte hatte sich zunächst dem Mitpatienten K. und später dem frühe-
ren Werkstattleiter B. offenbart. Beide sind dann mit ihr zur Sozial-
pädagogin Ba. gegangen, wo sie den Sachverhalt wieder in gleicher Weise
schilderte. Frau Ba. bewog die Geschädigte schließlich, sich mit der Heim-
leiterin in Verbindung zu setzen. Bei dieser Entstehungsgeschichte der Aussa-
ge liegt die Möglichkeit einer unbewußten Suggestion durch die Heimleiterin
fern.
Schäfer Maul Granderath
Nack Kolz